Zu dem hohen Wiedererkennungswert eines Autors trägt wesentlich sein Stil bei.[116] Stilistische Mittel bestimmen die Form, in der ein Autor seine Inhalte preisgibt und nehmen hierbei eine wichtige Rolle ein: Oft bedingen sich Form und Inhalt und verstärken ihre Wirkung gegenseitig.
„In diesem Punkt herrscht allgemeines Einverständnis. Jeder ist schnell bei der Hand, wenn es darum geht zu erklären, dass Stil und Inhalt unlösbar miteinander verknüpft sind, dass der ausgeprägte Individualstil eines jeden bedeutenden Schriftstellers ein organischer Bestandteil seines Werkes ist und niemals bloßes ‚Dekor’.“[117]
Bevor auf poetologische Aspekte Stamms Werkes einzugehen ist, wird darum in diesem Teil der Arbeit zunächst der Fokus auf seine narrative Strategie gerichtet. Die narrative Strategie eines Autors zu untersuchen bedeutet, die sprachlichen und textgestalterischen Mittel offenzulegen, derer sich ein Autor (bewusst oder unbewusst) bedient, um mit seinen Texten bestimmte Effekte zu erzielen – und damit auch, um seinen eigenen Stil zu etablieren.
Die Stilistik kann einen Text auf zwei unterschiedlichen Ebenen betrachten: Erstens auf der Ebene der Mikrostilistik (I.) als linguistischer Stilistik, indem auf der Ebene der Wörter und Sätze morphologische, lexikalische und syntaktische Besonderheiten der Satzkomposition, so beispielsweise Wortwahl, Satzlänge und Interpunktion, analysiert werden.[118] Auf der Ebene der Makrostilistik (II.) zweitens, auf welcher größere Einheiten des Textes, also Textteile und ganze Texte, auf Merkmale wie Erzählperspektive, Stilzüge und -typen hin oder auf die Gesamtkomposition des Textes untersucht werden.[119]
Die Mikrostilistik untersucht morphologische und syntaktische Besonderheiten eines Textes, sie rekurriert also auf die Ebene der Sätze und Worte. Dies soll im Folgenden anhand Stamms Erzähltexten für die Bereiche der Satzlänge und des Satzbaus (1.), der Wortwahl und des Wortstils (2.) sowie der Interpunktion und Typographie (3.) vorgenommen werden, wobei Auffälligkeiten offengelegt und ihre Wirkungen dargestellt werden sollen, um schlussendlich zu zeigen, wie die Mittel der Mikrostilistik in Stamms Erzählweise wirken.
Stamms Erzählungen verleiten Rezensenten ungewöhnlich oft zu der Aussage, Stamm bediene sich knapper, wenig ausgeschmückter Sätze – er sei „ein Meister erzählerischer Ökonomie“[120], „ein Meister der sprachlichen Askese“[121]; die „Mehrzahl seiner Sätze besteht nur aus fünf bis acht Wörtern“, möchte Isenschmid festgestellt haben.[122] Satzlänge und Satzbau prägen Texte wesentlich und können hierbei die verschiedensten Wirkungen entfalten. Obgleich Rezensenten vielmehr nur Feststellungen in der oben exemplifizierten Weise treffen als Schlüsse oder Wirkungen dieses möglicherweise beherrschenden Stils im Satzbau Stamms wirklich benennen zu können, bleibt dessen Auffälligkeit und Wirkmächtigkeit unbestritten. Sie soll deshalb ein erster, näher zu untersuchender Aspekt in Stamms mikrostilistischem Instrumentarium sein.
Mittels der Stilstatistik unterscheidet man sog. kurze Sätze, Sätze mittlerer Länge sowie lange Sätze. Auf der Grundlage der Erhebung, dass die Durchschnittsgröße deutscher Sätze in Sachtexten 15 bis 20 Wörter misst, zeichnen sich kurze Sätze durch eine Satzlänge von bis zu 10 Wörtern aus und bestehen nur aus den notwendigen Satzgliedern, also aus Subjekt, Prädikat und evtl. Valenzgliedern.[123] Sätze mittlerer Länge kommen mit 10 bis 20 Wörtern aus und enthalten regelmäßig Adverbien und Attribute, lange Sätze gehen über eine Wortanzahl von 20 hinaus und beinhalten häufig Attribute, Adverbien sowie Hypotaxen.[124]
Um die ungefähre Durchschnittslänge der Sätze in Stamms Erzählungen zu ermitteln, wurden die Worte in den Sätzen der jeweils ersten drei Seiten der jeweils ersten Geschichte aller vier Erzählbände gezählt.[125] Dabei ergab sich trotz der relativ geringen Untersuchungsmasse ein jeweils ausgesprochen ähnlicher Wert, der zu einem Durchschnittswert von 12, 9 Wörtern pro Satz führt.[126] Stamm verwendet dabei insgesamt eine Bandbreite von Sätzen der Länge von 3 bis hin zu 36 Wörtern. Bei einer Aufspaltung der untersuchten Sätze in drei Gruppen anhand der Wortanzahl[127] ergab sich zudem, dass Stamm am häufigsten Sätze mittlerer Länge, also mit einer Satzlänge zwischen 10 und 20 Wörtern, verwendet. Nur im Band Wir fliegen überwiegt die Anzahl kurzer Sätze die mittellanger Sätze.[128] Somit können die von Stamm gebildeten Sätze nach dem Kriterium der Wortanzahl als mittellange Sätze gelten.
Solche zeichnen sich jedoch neben der rein quantitativen Wortzahl auch durch den Gebrauch von Adverbien und Attributen aus. In den untersuchten Textstellen finden sich beispielsweise in der Erzählung „Am Eisweiher“ (Blitzeis) in 47 Sätzen nur 6 Adjektivattribute, aber 32 Adverbien, in „Der Besuch“ (In fremden Gärten) in 44 Sätzen nur 3 Adjektivattribute und 16 Adverbien, in „Die Erwartung“ (Wir fliegen) in 64 Sätzen 14 Adjektivattribute und 14 Adverbien und in „Sommergäste“ (Seerücken) in 41 Sätzen immerhin 20 Adjektivattribute und 17 Adverbien. Hierbei fällt auf, dass die Adjektivattribute überwiegend eingesetzt werden, um für den Leser relevante Eigenschaften wie Alter, Temperatur oder den allgemeinen Zustand von Dingen zu schildern, und weniger zur rein unterhaltenden Untermalung des Textes. Auch wenn die Anzahl der Adjektivattribute von Band zu Band ansteigt, ist diese immer noch als gering einzustufen. Adverbien werden hingegen häufiger bzw. in einem der Textart angemessen erscheinenden Umfang eingesetzt.
Kurze Sätze bewirken grundsätzlich eine große Einprägsamkeit und dienen der schnellen Übermittlung von Information.[129] Mittellange Sätze hingegen lassen ein Mehr an Informationen in einem Fluss zu. Beide tragen jedoch nicht zur Dynamisierung und Harmonisierung eines Erzähltextes bei, da immer wieder Brüche im Erzählfluss und Texttempo stattfinden. Bei Stamm kommt hinzu, dass er oft besonders kurze Sätze zwischen mittellange und lange Sätze stellt – diese wirken so besonders pointiert und hervorgehoben, sie konzentrieren den Leser auf ihren Inhalt und verleihen diesem eine gewisse Prägnanz.
Ebenso lässt sich ein – schematisch dargestellt fast melodiös harmonisch wirkendes – Auf und Ab von Sätzen mit kurzer und langer Wortanzahl beobachten, wie beispielsweise in „Sommergäste“. Die graphische Darstellung der Satzlängen in den Zahlen der Wortanzahl würde in einem Diagramm umgesetzt einen sehr regelmäßigen Kurvenverlauf ergeben.[130]
Hier fällt auch eine Korrelation mit dem Inhalt auf: Meist sind Gespräche in sehr kurz gehaltenen Dialogen dargestellt, Hintergrundinformationen oder Umgebungs- und Ablaufbeschreibungen wiederum in längeren Sätzen. Auf ihnen soll merklich nicht der Schwerpunkt der Erzählung liegen, hier wird der Leser zum flüssigen, abschweifenden Lesefluss angeregt, damit dessen Unterbrechung durch einen folgenden, kurzen Satz umso stärkere Wirkung entfalten kann. Bisweilen drückt Stamm jedoch auch unwichtig erscheinende Informationen in sehr kurzen Sätzen aus.[131] Hier kann der soeben beschriebene Effekt nicht der beabsichtigte sein. Vielmehr dienen diese Sätze dann der Irritation des Lesers und der „Mahnung“, auf jedes Wort und jede Information aufmerksam zu achten. Nicht zuletzt ergibt sich hieraus die – im Übrigen kurzgeschichtentypische – Wirkung der Texte Stamms, die nach Abschluss der Lektüre in Form von Verstörung und Irritation beim Leser bestehen bleibt.[132]
Stamm verwendet, wie anhand der untersuchten Textpassagen ersichtlich wurde, Sätze, die sowohl aufgrund ihrer Länge als auch ihrer grammatikalisch einfachen Ausgestaltung – ihnen fehlen streckenweise Adjektive und Nebensätze, oft sind Hauptsätze und direkte Rede lose aneinandergereiht – als mittellang mit der Tendenz zu kurz bezeichnet werden können. Dies, unterstützt durch den meist parataktischen Aufbau Stamms langer Sätze, erweckt den Eindruck der knappen, kargen Sprache, die Stamms Kurzprosa hinterlässt und stiftet eine gewisse Unruhe beim Leser, die spannungserzeugend wirkt und inhaltlich oft mit der raschen Geschehensabfolge bzw. dem gerafften Verhältnis von erzählter Zeit zur Erzählzeit korreliert. Durch den weitgehenden Verzicht auf ausschmückende Füllwörter und komplexe Satzstrukturen erhalten Stamms Texte streckenweise aber auch einen gewissen informativen, sachlichen Berichtscharakter. Für Stamms narrative Strategie lässt sich daher Folgendes festhalten: Er setzt Sätze unterschiedlicher Länge scheinbar bewusst abhängig vom Inhalt und dessen Bedeutung ein, indem er einen Lesefluss aufbaut und diesen abrupt unterbricht. Damit bewirkt Stamm zum einen eine erhöhte Aufmerksamkeit für bestimmte Textstellen beim Leser, der nicht in die „gewohnten Bahnen“ des Leseflusses oder der...