1 »Ich wäre lieber Arzt geworden«
Ein Besuch in Connecticut
Cornwell Bridge, 10. August 1983
Das Buch galt als Skandal, man fand es vulgär, obszön, unflätig. Und es wurde gekauft. In dieser Form, mit dieser Frechheit war über Sexualität selbst im Lande Henry Millers noch nicht gesprochen worden. Wer die brillante Erzählweise nicht zu schätzen wußte, der konnte doch die derben Wörter verstehen. Der Roman »Portnoy’s Complaint« erschien 1969 und stieß den Verfasser, der damals Mitte Dreißig und längst ein angesehener Schriftsteller war, unvermittelt ins Rampenlicht. Auf einen Schlag wurde er berühmt und reich. In Amerika wurden in wenigen Monaten eine halbe Million gebundene Exemplare und mehr als drei Millionen Taschenbücher abgesetzt. Doch der Autor hatte mit »Portnoys Beschwerden« (das englische »complaint« bedeutet sowohl Klage wie Krankheit) auch seine Mühen. »Die Leute sprachen mich auf der Straße an«, erzählt Philip Roth, »im Bus, im Restaurant, einfach überall. Das waren sehr unterschiedliche Begegnungen, auch erfreuliche. Aber es hörte nicht mehr auf. Es wurde lästig.«
Heute passiert ihm das nicht mehr. Er lebt zurückgezogen in einer ländlichen Gegend im Nordwesten von Connecticut, in der Nähe der Stadt Cornwell Bridge. Es ist nicht leicht, an ihn heranzukommen, selbst am Telefon. Seit dem »großen Ereignis«, wie Roth die Wende in seiner Laufbahn nennt, hat er einen Auftragsdienst zwischen sich und die Mitwelt geschaltet. Man muß die Nummer hinterlassen und hoffen, daß er sie im Laufe des Tages abfragt und zurückruft.
»Philip Roth hier«, meldet sich am Vorabend des Treffens eine angenehm virile Stimme am Telefon. »Das Haus finden Sie allein nicht. Wir müssen uns irgendwo treffen.« Er beschreibt eine Straßenkreuzung: Kirche, Drugstore, Telefon. »Dort hole ich Sie morgen mittag um zwei Uhr ab.«
Er kommt pünktlich in einem alten Mercedes an, steigt gutgelaunt aus, ein großer jungenhafter Mann, schlank und sportlich. Er holt noch schnell die Zeitung und fährt voraus, auf einer unwegsamen Strecke quer durch Wälder und Wiesen, kaum ist noch einmal ein Haus am Wegesrand zu entdecken. Versteckt auch das Rothsche Anwesen: ein schönes Farmhaus aus dem Jahr 1790 (»so alt wie die Staaten«) auf einem riesigen waldgesäumten Grundstück. »Sie brauchen den Wagen nicht abzuschließen«, sagt er. »Hier gibt es sonst keine Menschen, hier kommt niemand her.« Später ist aus dem nahen Wald ein gespenstischer Schrei zu hören, und Roth wird ihn, ohne die geringste Überraschung zu zeigen, locker kommentieren: »Gelegentlich gibt es einen Mord.«
Zunächst aber fragt er, ob ich schon etwas gegessen hätte. Er läuft voraus in die Küche, setzt Tee auf, holt Toastbrot und Butter aus dem Kühlschrank, an dessen Tür der Umschlagentwurf für den neuen Roman klebt: »The Anatomy Lesson«. Der Wohnraum erstreckt sich bis unter das Dach, das von starken Holzträgern gestützt wird. Philip Roth hat sein Leben nicht nur gegen aufdringliche Neugier abgeschirmt, sondern auch gegen lästige Insekten. Alle Fenster sind hier mit Fliegengitter versehen, sogar die Terrasse ist damit überspannt (und, draußen im Garten, der Swimmingpool: ein regelrechter Drahtkäfig). Das Gespräch findet im Arbeitszimmer statt, das sich in einem Nebengebäude befindet. Roth sitzt auf einem Liegestuhl. Beim Sprechen ballt er gelegentlich die Hand zur Faust. »Hätte ich eine naturwissenschaftliche Begabung gehabt, dann wäre ich Arzt geworden«, sagt er. »Gerade für einen Schriftsteller wäre es besser, Arzt zu sein. Darum geht es auch in meinem neuen Buch. Zuckerman will keine Romane mehr schreiben, sondern Arzt werden. Er hat allerdings keinen Erfolg damit.«
Nathan Zuckerman ist der Held aus den Romanen »Der Ghost Writer«, »Zuckermans Befreiung« und nun eben »The Anatomy Lesson« (deutsch 1986: »Die Anatomiestunde«). Drei Stationen aus einem Schriftstellerleben: Der Anfänger besucht einen hochgeschätzten alten Kollegen; der Erfolgreiche muß mit den Folgen seiner Prominenz fertig werden; schließlich die Krise. Das alles spielt sich in knapp zwanzig Jahren ab. »Es hat mich sechs Jahre gekostet, diese drei Bücher zu schreiben. Es gab keinerlei Unterbrechung. Nun ist die Trilogie fertig. Ich werde etwas anderes machen, weiß aber noch nicht, was.«
Hat er nicht manchmal Angst, es könnte ihm nichts Neues mehr einfallen? »Doch, sogar gerade jetzt, wo wir hier sitzen. Zum Glück kenne ich diese Situation: Es hat allerdings noch nie länger als einen Monat gedauert. Es ist ja ganz schön, mal keinen Druck zu haben. Ich sage mir: Mach dir keine Sorgen, genieß die Tage, entspanne dich.«
Roth redet lebhaft, mit viel Nachdruck in der Stimme. Er nimmt Rücksicht auf seinen deutschen Gast, fragt auch einmal nach, ob man folgen könne: »D’you follow me?« Dabei spricht er ein klares, gut verständliches Englisch. Seit 1976 lebt er jedes Jahr ein paar Monate in der Nähe von London, im Haus seiner Lebensgefährtin Claire Bloom, einer britischen Schauspielerin. Er schreibe dort im gleichen Arbeitsrhythmus, sagt er. Es gebe den gleichen Stuhl, den gleichen Tisch, die gleiche Schreibmaschine, »nur andere Bäume, wenn man aus dem Fenster blickt«. Es sei gerade für amerikanische Autoren eine wichtige Frage, wo man arbeite: im Trubel der Stadt oder in ländlicher Einsamkeit. »Das ist schwer zu lösen, vielleicht unlösbar. Von 1962 bis 1970 habe ich in New York gelebt. Das ist ein problematischer Ort für einen Schriftsteller. Ich bin froh, daß ich in dieser Zeit nicht hier draußen gewesen bin, ich hätte viel versäumt. Dabei habe ich schon damals den ganzen Tag geschrieben und nachts gelesen, ich kämpfte dauernd gegen Ablenkungen und Versuchungen an.« Er macht eine Pause. »Möglich, daß ich seither auch einiges versäumt habe. Man weiß das nie.«
Das also ist der Mann, der in Amerika eine Berühmtheit, in Europa eine Legende ist, der Mann, der die intimsten Besessenheiten ausplaudert, der all die sexuellen Männerphantasien beichtet – in Romanen, die eigentlich für weibliche Leser verboten gehören: Frauen können danach keine Illusionen mehr haben. »Portnoys Beschwerden« war dabei nur der – freilich schwer zu übertreffende – Anfang, in den siebziger Jahren folgten die Romane »Die Brust«, »Mein Leben als Mann« und »Professor der Begierde«. Im Zentrum stehen jüdische Intellektuelle, die sich ihr – wie sie meinen – verkorkstes Leben von der Seele reden. Sie sprechen von der Übermacht der Mutter, von eigenen Unzulänglichkeiten, gemischt mit Allmachtsphantasien, von der Sehnsucht nach den Frauen, die sie nicht haben, und der Unzufriedenheit mit jenen, die sie haben.
Da also sitzt Philip Roth: ein freundlicher, geistreicher, unterhaltsamer Gesprächspartner. Er macht den Eindruck eines souveränen Menschen, der in sich ruht, der seine Lebensform gefunden hat. Er blickt aus dunklen Augen durch eine goldgefaßte Brille, seine pechschwarzen Haare haben sich über der Stirn gelichtet, im Zusammenspiel mit den buschigen Augenbrauen wirkt sein Kopf wie modelliert, vor allem im Profil. Wenn er lächelt, wünscht man sich Roth als großen Bruder. Daß er schon fünfzig ist, kann man sich nur schwer vorstellen. Eher möchte man ihn für den braven Sohn halten, der es irgendwo im Lande gerade zum Rechtsanwalt gebracht hat, ein Alexander Portnoy, der lieber dem Psychoanalytiker als der eigenen Mutter berichtet: »Jawohl, so anständig bin ich, Momma. Ich kann nicht rauchen, kaum trinken, Rauschgift fällt flach, ich pumpe niemanden an und spiele nicht Karten, kann keine Unwahrheiten sagen, ohne daß mir der Schweiß ausbricht, als passierte ich soeben den Äquator.« So heißt es in »Portnoys Beschwerden«. Würde Roth, Rummel und Ruhm bedenkend, ein Buch wie dieses noch einmal schreiben, wenn er die Wahl hätte? Er lacht laut auf, ein sattes, genüßliches Schnaufen. »Ich glaube eigentlich schon. Doch, doch. Ich habe das Buch seit zehn Jahren nicht mehr in der Hand gehabt. Ich weiß nicht, ob es überhaupt gut ist.«
Er wurde am 19. März 1933 in Newark geboren, einer Stadt im Staat New Jersey. Newark ist sein Bezugspunkt, viele seiner Figuren sind dort geboren (manche im selben Jahr wie er). Er redet gern über diese Stadt, Nachfragen sind fast überflüssig.
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ROTH: Lassen Sie mich die Stadt ein wenig beschreiben. Das Newark von heute hat überhaupt keine Ähnlichkeit mit dem Newark, in dem ich aufgewachsen bin. Heute ist das eine furchtbare, wüste, schmutzige Stadt, eine Stadt der Schwarzen mit der wohl höchsten Kriminalitätsrate im Land, der größten Kindersterblichkeits- und Tuberkulosequote. Die Stadt begann Ende der fünfziger Jahre zu verfallen. In den sechziger Jahren sind dann die Weißen geflohen, mit ihnen verschwanden die Geschäfte. Für die Stadt gab es keine Steuereinnahmen mehr. Es kam zu Rassenunruhen. Als Martin Luther King erschossen wurde, wurde ein Teil der Stadt in Brand gesetzt, ein großer Teil der verbliebenen Geschäfte wurde niedergebrannt. Die Stadt hat sich davon nie erholt. Sie ist ein Alptraum. Aber als ich dort aufwuchs, war Newark eine mittelgroße Industriestadt, eine Hafen- und Fabrikstadt. Voll mit Leben. Genau das Gegenteil von dem, was es heute ist. Wie viele Städte bestand Newark damals aus vielen ethnischen Enklaven. Das war wie ein kleines Europa. Es gab Grenzen, es war auch klar, daß es Grenzstreitigkeiten geben könnte. Zwischen 1880 und 1910 kamen die Leute aus Europa. Hier waren die Iren, hier die Deutschen, hier die Juden, hier die Italiener und hier die Neger, wie man sie damals nannte, eine ganz kleine Gruppe. Und hier waren die Amerikaner, aber ich verstand nie, wer die eigentlich waren....