Kinderphilosophie – wozu? Dies ist eine der ersten Fragen, die sich aus der Beschäftigung mit jener noch recht jungen Disziplin ergeben.
Beim Philosophieren mit Kindern geht es nicht um die Reproduktion von faktischem Wissen, sondern um eine Aktivität. Ausgangspunkt jeglicher philosophischer Aktivität ist die Frage, die wiederum aus dem Staunen über etwas Unbegreifliches, Nicht-Alltägliches resultiert. Aufgrund ihrer Naivität und Staunensfähigkeit vermögen Kinder auf bis heute ungelöste Probleme, die großen Rätsel des Lebens zu stoßen und mitunter Erklärungen zu finden, die in ihren Grundzügen den Gedanken berühmter Philosophen ähneln.
Anstatt nun als erwachsene Bezugsperson mit Herablassung auf kindliche Fragen zu reagieren, schlagen Vertreter der Kinderphilosophie vor, den Kindern mit Respekt und Achtung zu begegnen, sie nicht mit halbherzigen Antworten abzufertigen, sondern mit ihnen gemeinsam nach möglichen Lösungen zu suchen:
„Die Fragen halten das Denken in Bewegung, die Antworten führen gewöhnlich seinen Stillstand herbei.“[31]
Im philosophischen Gespräch wird das kindliche Staunen, das „Gefühl der unmittelbaren Perplexität über die Welt“[32] kultiviert und darüber hinaus das begrifflich-argumentative Denken des Kindes geschult. Es lernt, seinen Sprachgebrauch zu reflektieren, Begriffe bewusst zu verwenden und vermag auf diese Weise sowohl sein Denkvermögen als auch die eigene Wahrnehmung zu schärfen.[33] Darüber hinaus erleichtert die Philosophie als Universaldisziplin mitunter den kindlichen Zugang zu den Einzelwissenschaften, da diese in einen größeren Gesamtzusammenhang gestellt werden und auf diese Weise transparenter erscheinen.
Durch das Selbstdenken und die eigenständige Suche nach stichhaltigen Argumenten oder plausiblen Antworten erarbeitet sich das Kind eine Urteilskraft, die es zur kritischen Prüfung von gegensätzlichen Positionen befähigt und Ekkehard Martens zufolge die Basis bildet für eine tolerante, weltoffene Haltung, die sich Weltanschauungen nicht oktroyieren lässt[34]; die Erörterung ethischer Grundprobleme bietet dem Kind zudem eine Orientierungshilfe bezüglich der moralischen Vertretbarkeit bestimmter Handlungen, insbesondere in einer offenen, modernen Gesellschaft, deren Werte sich permanent im Wandel befinden:
„Wir brauchen einen distanzierten, diagnostischen Blick auf uns und unsere Zeit. [...] Statt angewandter Ethik brauchen wir heute angewandte Philosophie, die sich auf die gegenwärtige Problemsituation in ihrer ganzen Breite einläßt. Sie ist zudem nicht nur in ihren Inhalten, sondern auch in ihrer Form angewandt. Als praktisches Können oder als Tätigkeit benutzt sie zwar theoretisches Wissen, hat es aber nicht zum Ziel.“[35]
Insofern besteht die zentrale Aufgabe der Kinderphilosophie darin, Kinder bei ihrer Wirklichkeitsbewältigung zu unterstützen und sie zur kritischen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Werten und Strukturen zu animieren[36]; die gesellschaftspolitische Relevanz des Philosophierens mit Kindern liegt folglich darin, dass die Kinder zu selbstständig denkenden, kritikfähigen und mündigen Bürgern erzogen werden, die aktiv zur Wahrung der Menschenrechte, des Friedens und der Demokratie beitragen.
Hinsichtlich der erwachsenen Bezugspersonen der Kinder ist die Kinderphilosophie insofern von Nutzen, als sie ihnen hilft, die philosophischen Dimensionen der formulierten Fragen zu erkennen und diese methodisch geübt gemeinsam mit dem Kind zu erörtern.
Die kindliche Affinität zur Philosophie führt schließlich notwendigerweise zum Gespräch zwischen Kindern und Erwachsenen, das zunächst meist ausgelöst wird von „Warum“-Fragen, später von Fragen nach dem „Woher“ und „Wohin“[37]. Diese Fragen resultieren aus der kindlichen Entdeckung des Nicht-Selbstverständlichen, Unbegreiflichen im individuellen Erfahrungsbereich und verlangen nach Klärung. Gibt es jedoch keine eindeutige Antwort auf die gestellten Fragen, so ist die Erkenntnis der Fehlbarkeit und des beschränkten Wissens von Erwachsenen für das Kind zwar zunächst beunruhigend, letztendlich jedoch wichtig für die Genese seines Ich-Bewusstseins.
Die Basis eines jeden philosophischen Gesprächs, so auch zwischen Kindern und Erwachsenen, bildet die Gleichberechtigung der Partner: sie erkennen einander als vernünftige Wesen an und verpflichten sich gegenseitig auf maximale Rationalität und Sachlichkeit im Analysieren und Argumentieren. Während das Kind einerseits auf die methodische Gesprächsführung des Erwachsenen angewiesen ist, stellen die kindlichen Fragen andererseits für den Erwachsenen insofern eine Herausforderung dar, als sie zum Ausbrechen aus tradierten Denkmustern inspirieren. Auf diese Weise kommt es zu einem philosophischen Wechselspiel zwischen den Gesprächspartnern, basierend auf beidseitigem „Nichtwissen, Wissenwollen und Wissensvertrauen“[38].
„Kinder sind ideale Partner für das philosophische Gespräch: Sie besitzen einen ausgeprägten Sinn für das Rätselhafte und Staunenerregende, für Ungereimtheiten und Perplexitäten, ihr Denken ist spielerisch-risikofreudig, offen, noch nicht festgelegt und eingeengt durch konventionelle Antworten, sie besitzen spekulative Phantasie und, was schwer zu fassen ist, bisweilen tiefere Ahnungen, metaphysische ‚Wahrheitswitterungen’“[39].
Um das philosophische Gespräch für das Kind interessant und effektiv zu gestalten, ist eine Anpassung der Antworten an die kindliche Frageintention vonnöten: sie sind für das Kind besonders verständlich und verwertbar, wenn sie mit seinem persönlichen Erlebnisraum und Erfahrungshorizont korrespondieren.
Zudem sollte jegliches Imponiergehabe von Seiten des Erwachsenen vermieden werden, da bei erschöpfenden, jede Diskussion im Keim erstickenden Antworten rasch der Eindruck entsteht, das Kind müsse noch lernen, was Erwachsene längst wissen. Dass ein solches Verhalten lediglich bei Kindern keine einschüchternde Wirkung zeigt, die sich ihrer geistigen Kompetenzen durchaus bewusst sind und über eine natürliche Respektlosigkeit gegenüber Autoritäten verfügen, zeigt folgende amüsante Episode aus „Henrich Stillings Jugend“, dem 1777 erschienenen ersten Teil von Heinrich Jung-Stillings insgesamt sechs Bände umfassender Autobiographie, die den ersten Besuch des damals achtjährigen Autors bei einem Pastor beinhaltet:
„Wilhelm unterrichtete seinen Henrichen also, wie er sich betragen müßte, wenn der Pastor käme. Er kam dann endlich, und mit ihm der alte Stilling. Henrich stund an der Wand grad auf, wie ein Soldat, der das Gewehr präsentiert. [...] Nachdem sich Herr Stollbein gesetzt, und ein und ander Wort mit Wilhelmen geredet hatte, drehte er sich gegen die Wand, und sagte: „Guten Morgen Henrich!“ – „Man sagt guten Morgen sobald man in die Stube kommt.“ Stollbein merkte mit wem er’s zu tun hatte, daher drehte er sich mit seinem Stuhl neben ihn und fuhr fort: „Kannst du auch den Katechismus?“ – „Noch nicht all.“ – „Wie noch nicht all, das ist ja das erste, was die Kinder lernen müssen.“ – „Nein, Pastor, das ist nicht das erste; Kinder müssen erst beten lernen, daß ihnen Gott Verstand geben möge, den Katechismus zu begreifen.“ Herr Stollbein war schon im Ernst ärgerlich, und eine scharfe Strafpredigt an Wilhelmen war schon ausstudiert; doch diese Antwort machte ihn stutzig. „Wie betest du denn?“ fragte er ferner. „Ich bete: ‚Lieber Gott! gib mir doch Verstand, daß ich begreifen kann, was ich lese.’“ – „Das ist recht, mein Sohn, so bete fort!“ – „Ihr seid nicht mein Vater.“ – „Ich bin dein geistlicher Vater.“ – „Nein, Gott ist mein geistlicher Vater; Ihr seid ein Mensch, ein Mensch kann kein Geist sein.“ – „Wie, hast du denn keinen Geist, keine Seele?“ – „Ja freilich! wie könnt Ihr so einfältig fragen? Aber ich kenne meinen Vater.“ – „Kennst du denn auch Gott, deinen geistlichen Vater?“ Henrich lächelte. „Sollte ein Mensch Gott nicht kennen?“ – „Du kannst ihn ja doch nicht sehen.“ Henrich schwieg, und holte seine wohlgebrauchte Bibel, und wies dem Pastor den Spruch Röm. I. V. 19. und 20[40]. Nun hatte Stollbein genug. Er hieß den Knaben hinausgehen, und sagte zu dem Vater: „Euer Kind wird alle seine Voreltern übertreffen; fahret fort, ihn wohl unter der Rute zu halten; der Junge wird ein großer Mann in der Welt.“[41]
Eine gemeinsame Denkorientierung im philosophischen Gespräch kann folglich nur stattfinden, wenn das Kind gemäß der Kant’schen Aufklärungsphilosophie und sokratischen Tradition als autonomes Wesen behandelt wird, dessen Vernunftvermögen im gedanklichen Austausch kultiviert und herausgebildet werden soll[42].
Am besten kann dieser Anspruch im sokratischen...