Der Mensch im Kosmos I (Antike)
Soweit die schriftlichen Quellen und Vermutungen über die Anfänge menschlicher Kulturentwicklung uns Sicherheit geben, ist davon auszugehen, dass sich der Mensch in der Frühzeit der Kulturgeschichte im Spiegel der Natur betrachtet. In [13]dieser anthropomorphen Phase vermutet er in allem Naturgeschehen absichtsvolles, wenn auch für ihn unergründliches Handeln. Götter schufen seiner Ansicht nach die Welt, so wie er selbst seine Welt mit Werkzeugen und durch Handeln erzeugt. Alles, was die Natur im Menschenleben bewirkt, vom Regen über den Wind und täglichen Sonnenaufgang bis zu außergewöhnlichen Ereignissen wie einem Erdbeben, scheint auf ihn, den Menschen, abzuzielen. Hinter allem Geschehen vermutet er eine Absicht, die, obwohl sie verborgen bleibt, ihn betrifft.
Erst ein allmählicher Abbau dieser »ursprünglichen Allvermenschlichung« (Landmann 1982, 15) hat die Voraussetzung dafür geschaffen, dass der Mensch sich seiner Sonderstellung bewusst wird. In dem Maße, in dem er aus der Natur heraustritt, verliert die Weltansicht des Menschen der kulturellen Frühzeit ihre Naivität. Und es entsteht die Notwendigkeit, ein Naturgeschehen, in das man sich hineingerissen sieht, mit Sinn zu erfüllen. Die Ambivalenz von Naturentfremdung und Bewusstwerdung einer übernatürlichen Wertschätzung des eigenen Selbst prägt die menschliche Kulturgeschichte bis heute. Nur die Suche nach den verborgenen Absichten hat sich zusehends verfeinert.
Auf die Phase der Allvermenschlichung, in welcher der Mensch sich mit seinen Bedürfnissen, Wünschen und Vorstellungen unmittelbar im Naturgeschehen spiegelt, folgt eine Zeit, die von kosmologischer Spekulation beherrscht wird. Ihr Grundgedanke ist, dass die Gesetzmäßigkeit des Gesamtkosmos auch im Menschen wirkmächtig ist. Also wird eine Entschlüsselung der kosmischen Kräfteverhältnisse auch einen Aufschluss über die Wirkmächte geben, die menschliches Denken und Handeln bestimmen. In den kosmologischen Theorien der Vorsokratiker (vgl. Diels 1903) geht es um die Suche nach einem einheitlichen Maß – was im Großen und [14]Ganzen gilt, das muss auch im Kleinen gelten. Heraklit von Ephesos (um 500 v. Chr.) spricht von einem gemeinsamen »Metron«, das sowohl den Lauf der Natur als auch das Handeln des Menschen bestimmt (Heraklit, Frag. 30). Gemäß dieser Vorstellung ist der Mensch ein Teil eines kosmischen Wirkungszusammenhangs. Ihm ist seine Stellung im Kosmos zugewiesen, und er hat sein Handeln nach dem Maß aller Dinge auszurichten.
Mit Protagoras (um 485 – 410 v. Chr.) bricht diese Ordnungsvorstellung auseinander. Sein berühmtes Diktum »Der Mensch ist das Maß der Dinge« (Platon, Theaitetos 151d–152a) verkehrt die Vorzeichen. Von nun an muss der Mensch sich zuerst selbst verstehen, bevor er die Ordnung der Dinge enträtseln kann. Allein in sich findet er sein Maß, er wird zum Maßgebenden der Natur. Die Philosophie der Vorsokratiker ist von den unterschiedlichen Ordnungsvorstellungen des Heraklit und des Protagoras gleichermaßen durchdrungen, und sie scheitert gleichsam in dem Versuch, ein »Metron« in der Natur zu finden, wie auch im anmaßenden Versuch, den Menschen selbst zum Maß der Dinge zu machen.
Im Resultat dieses doppelten Scheiterns weiß der Mensch nicht um seine definitive Position, sondern erfasst sich als ein Vergleichsmoment unter anderen. Platon (um 427 – ca. 347 v. Chr.) lässt Protagoras den später klassisch gewordenen Mensch-Tier-Vergleich formulieren (Platon, Protagoras 322a). Im Vergleich zum Tier ist der Mensch schlecht ausgestattet. Seine körperliche Schwäche und seine Instinktunsicherheit machen ihn zu einer riskanten Lebensform. Platon parodiert diese Denkfigur in der zoologischen Klassifizierung des Menschen als »zweibeiniges Lebewesen ohne Federn«. Viel entscheidender als die tatsächliche Unterlegenheit ist für Platon aber die potenzielle Überlegenheit des Menschen. Was den Menschen in scheinbare Nähe zum Tier rückt, ist das schlichte [15]Faktum, dass er von seinen Fähigkeiten allerdings nur selten Gebrauch macht. Platons Trick zeigt sich in der Einführung einer dualistischen Konzeption, die den Menschen in dieser Spannung zwischen seiner physischen Gestalt und seiner ideellen Form begreift. Der Möglichkeit nach ist der Mensch mehr, als er in den Grenzen seiner wirklichen Gestalt und Lebenspraxis zum Ausdruck bringt. Dementsprechend geht es Platon auch gar nicht darum, den Mensch-Tier-Vergleich festzuschreiben. Vielmehr dient er als Negativfolie, um die Gottähnlichkeit des Menschen herauszustreichen. Er ist seinem Wesen nach »kein Spross der Erde, sondern des Himmels« (Platon, Timaios 90a).
Eine Konsequenz der platonischen Konzeption ist es, dass der Mensch bei allen Fragen nach dem Maß der Dinge oder nach dem Vergleich mit anderem auf sich selbst zurückgeworfen wird. Sokrates, wie Platon ihn in seinen Schriften darstellt, versinnbildlicht diesen Weg der Selbsterkenntnis, der den Menschen zu sich selbst führt. »Ich bin eben lernbegierig, und Felsen und Bäume wollen mich nichts lehren, wohl aber die Menschen in der Stadt« (Platon, Phaidros 230c–d). Hier vollzieht sich eine erste anthropologische Wende innerhalb der abendländischen Kulturgeschichte. Sokrates wendet sich dem »Menschen in der Stadt« zu und betrachtet dessen kulturelle Leistungen. Dieser Mensch erkennt sich nicht in seiner Natur und auch nicht im Horizont einer natürlichen Lebensordnung; er erkennt sich nur, insofern er seiner Rolle als Sinnstifter gerecht wird. Was gut, schön, gerecht und wahr ist, diese Fragen kann er nur sich selbst beantworten. Die Antworten, die ihn als Menschen betreffen, findet er allein unter seinesgleichen in der Polis.
Die Bestimmung des Menschen nach Maßgabe der politischen Ordnung hat allerdings auch eine Kehrseite. Denn sie setzt die Grenzen der Gleichheit, wenn diese nicht [16]naturgegeben sind, an den Grenzen der jeweiligen Polis fest. So ist es eine Eigenart frühkultureller Selbstdeutung und gleichsam bis in die Moderne eine archaische Erbschaft dieser Kulturstufe, dass Menschsein als abhängig von der Zugehörigkeit zu einer Ordnung der Herrschaft, der Sprache, der Sitte und des Volkes erscheint. Jenseits dieser Grenzen dominiert die Geringschätzung des Anderen, Nichtzugehörigen, Fremden. Bei Homer (um 700 v. Chr.) zum Beispiel gilt der Fremde als Barbar. Erst die Sophisten behaupten die grundlegende Gleichheit aller Menschen, und Demokrit (460–371 v. Chr.) spricht diese neue Geisteshaltung prägnant aus: »Mensch ist, was allen bekannt ist« (Demokrit, Frag. 165). Damit ist aber, wie der Blick in die platonischen Dialoge zeigt, keine Lösung indiziert, sondern nur der Widerspruch zwischen einer allgemeinen Vorstellung des Menschseins und einer bestimmten Wirklichkeit des Menschen als Teil einer politischen und sittlichen Ordnung in aller Deutlichkeit hervorgetreten.
Platon sucht deshalb nach einer allgemeinen Idee des Menschen. Die platonische Anthropologie weist als ihren Kern die Ideenlehre aus und kennzeichnet den Menschen in seiner Allgemeinheit als dasjenige Wesen, das über die Begrenzung der phänomenalen Welt hinausfragt nach den ihr zugrunde liegenden Ideen (Platon, Politikos 262a ff.). Hier liegt nach Platons Auffassung die Gemeinsamkeit des Menschseins. Aber diese Identität prägt sich im Leben in einer Dualität von Idee und Phänomen und in Bezug auf den Menschen von Körper und Seele, vom Menschsein der Wirklichkeit und der Möglichkeit nach, aus. Platon gibt für diese Spannung zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit des Menschseins keine prinzipielle Lösung, aber er bietet in Gestalt der idealen politischen Ordnung ein Modell zu ihrer Hegung an. Die Politeia weist jedem Menschen gemäß seinen Befähigungen einen Platz in der sozialen und sittlichen Ordnung zu. Das Maß des Menschseins [17]liegt bei Platon in einer künstlichen, von Menschen geschaffenen Ordnung.
Demgegenüber entwickelt die aristotelische Anthropologie ein einheitliches Bild vom Menschen, das durch seine natürliche Verfasstheit verbürgt wird. Aristoteles (384–322 v. Chr.) geht von der natürlichen Gegebenheit menschlicher Selbsterfahrung aus, in der sich die Einheit von Seele und Körper artikuliert. Der Mensch ist sich selbst nicht problematisch. In der Wahrnehmung und im Tätigsein erfährt er sich als gattungsmäßig verschieden von anderen Lebewesen. »Es scheint jedes Lebewesen eine eigene Lust zu besitzen, wie es auch eine eigene Aufgabe hat. Denn diese richtet sich nach der Tätigkeit. Dies wird klar, wenn man das Einzelne betrachtet: die Lust des Pferdes, des Hundes und des Menschen ist verschieden« (Aristoteles, Nikomachische Ethik 1176a3–6). Der Mensch erlebt sich nach Aristoteles’ Ansicht als Teil eines Naturzusammenhangs. Die Tatsache, dass er aus einem geistigen (Seele) und einem materiellen (Körper) Teil besteht, erscheint ihm selbst als Konsequenz seiner Teilhabe am und nicht als Differenz gegenüber dem Naturgeschehen.
Aristoteles kommt es vor allem darauf an, diese Dualität von Seele und Körper im Modus einer Einheit zu betrachten. So entwickelt er seine Vorstellung in der Abhandlung Über die Seele, in deren zweitem Buch er die Seele als »erste Entelechie« eines natürlichen, mit Organen versehenen Körpers definiert. Es ist demnach in der Seele als Prinzip des Lebens angelegt, dass sie sich verkörpert und somit die physische Seite...