Beobachtungskriterien
Mittels der acht Beobachtungskriterien nach Klein-Vogelbach (Suppé 2007) und Götz-Neumann (2006) kann das abweichende Gangbild eines Patienten erkannt, beurteilt und analysiert werden. Die Beobachtungskriterien sind keine Durchschnittswerte, die anhand des Gangbilds verschiedener Menschen ermittelt wurden, sondern charakteristische Merkmale des normalen Gangs:
Gangtempo
Vorwärtstransport der Körperabschnitte Brustkorb und Kopf
Erhaltung der Körperlängsachse
Gehbewegungen der Körperabschnitte Becken und Beine
Einstellung der Flexions-Extensions-Achsen des Standbeins sowie Abrollweg
Spurbreite
Schrittlänge
Armbewegungen
2.2.8.4 Aktive Untersuchung
Die aktive Untersuchung soll in erster Linie wichtige Informationen zur aktuell wahrscheinlichsten Hypothese liefern. Basis hierfür ist die im Vorfeld bei der Planung der objektiven Untersuchung getroffene Auswahl geeigneter Tests sowie deren korrekte Ausführung und adäquate Dosierung. Bereits bei der Selektion der Tests soll sich der Therapeut nicht allein auf Informationen fokussieren, die seine Hypothese verifizieren, sondern stattdessen kritisch jene Hinweise beachten, die seine aktuellen Überlegungen widerlegen können. De facto existieren zahlreiche klinische Muster, die zwar eine große Schnittmenge gleicher Symptome und Befunde aufweisen, sich voneinander jedoch durch diverse klare Charakteristika unterscheiden.
Die ausgewählten Tests sollen möglichst einfach reproduzierbar, spezifisch, sensitiv und valide sein. In der physiotherapeutischen Praxis stellt dies allerdings eine Schwierigkeit dar: Je komplexer der Test, desto schwieriger dessen Reproduzierbarkeit; zum zweiten bedingt eine hohe Spezifität oftmals eine reduzierte Sensitivität und et vice versa. Im Allgemeinen liegt der Fokus bei der physiotherapeutischen Befunderhebung auf der Sensitivität geeigneter Testverfahren, um so die Gesundheit des Patienten zu erkennen (Kap. ▶ 2.2.7).
Die aktive Untersuchung wird in verschiedene Abschnitte unterteilt. Je nach Konzept sind die Inhalte anders verteilt oder in anderer Reihenfolge aufgelistet. Im Folgenden wird das in der Praxis bewährte Procedere des Maitland-Konzepts vorgestellt.
Alltagsspezifische Bewegungen und Funktionen
Alltagsspezifische Bewegungen und Funktionen sind üblicherweise an die Funktionelle Demonstration gekoppelt, in welcher der Patient eben jene Aktivität oder Funktion vorführt, die ihn im Alltag am meisten einschränkt. Im nächsten Schritt können jetzt vom Patienten ähnliche Bewegungen oder Funktionen demonstrativ abverlangt werden, die weitere Auskunft über mögliche Dysfunktionen geben. Zumeist handelt es sich hierbei um kombinierte Bewegungen, welche der Patient in den aktiven standardisierten Bewegungstests unter Umständen symptomfrei ausführen kann.
An diesem Punkt der aktiven Untersuchung kann bereits differenzierend eingegriffen werden: Entlastet man eine Extremität bzw. nimmt dessen Gewicht bei einer Bewegungsausführung ab, lassen sich die Symptome möglicherweise beeinflussen. Mittels repetierenden Aktivitäten des Patienten können relevante Hinweise für eine eher artikulär bedingte „On-Off“-Symptomatik oder eine sich verschlimmernde diskogen bedingte Symptomatik gewonnen werden (Kap. ▶ Einteilung in klinische Gruppen).
Aktive Bewegungstests
Bei aktiven Bewegungstests werden das aktive quantitative Bewegungsausmaß und der qualitative Bewegungsverlauf der einzelnen Gelenke oder Körperabschnitte beurteilt. Bei der Prüfung von Bewegungsquantität und Bewegungsqualität werden folglich die Zusammenhänge zwischen aktiver Bewegung und Symptom-Verhalten erfasst.
Die Rekrutierung einzelner Muskelgruppen kann bei aktiven Bewegungstests ebenfalls beobachtet werden. Ist das Rekrutierungsmuster inkorrekt, kann dies auf eine verminderte Bewegungswahrnehmung oder auf ein falsch rekrutiertes Muster hindeuten. Erkennt man kompensatorische Bewegungen, können eine veränderte Schmerzhemmung oder strukturelle Innervationsprobleme zugrunde liegen.
Bezüglich der Qualität der Bewegung ist zu untersuchen, ob die Bewegung in der vorgegebenen Achse ausgeführt werden kann, oder ob der Patient aus irgendeinem Grund Ausweichbewegungen macht. Der Therapeut beobachtet des Weiteren, ob die Bewegungen und Rückbewegungen flüssig, zäh, zahnradartig oder unter Schmerzen ausgeführt werden.
Lässt sich bei einer schmerzhaften Problematik keine Symptom-Reproduktion in den aktiven Bewegungstests erreichen, kann dies mehrere Ursachen haben. Wurde bspw. bei der subjektiven Untersuchung die Problematik des Patienten in die klinische Gruppe MOM („Momentary Pain“) eingeteilt (Kap. ▶ Einteilung in klinische Gruppen), so können beim aktiven Bewegungstest die Schmerzen zumeist nicht stante pede reproduziert werden. In besagtem Fall kann der Therapeut seinen Patienten anweisen, entweder repetitiv zu bewegen oder ihn eine kombinierte Bewegung ausführen lassen, bis die Symptomatik ausgelöst wird. Falls auch dies nicht gelingt, soll der Patient vor der nächsten Behandlungseinheit die symptomauslösende Aktivität so lange ausführen, dass er zu Beginn der Therapie die Symptome bzw. die Schmerzen hat. Organisatorisch ist dieses Vorgehen freilich nur selten umzusetzen. Sollte es dem Therapeuten tatsächlich nicht gelingen, die Symptome zu reproduzieren, bleibt noch die Untersuchung mit Überdruck. Hierzu lässt man den Patienten die aktive Bewegung oder auch kombinierte Bewegungen bis an deren aktuelles Bewegungsende ausführen, übernimmt am Ende die Bewegung und führt endgradig passiv einen Überdruck aus. Falls sich auch hier nicht die vom Patienten bekannten Symptome auslösen lassen, können evtl. vergleichbare Zeichen weiterhelfen.
Liegt eine EOR-Symptomatik vor, kann der Therapeut bei der aktiven Bewegungsuntersuchung differenzieren: Der Patient führt aktiv die Bewegung aus und hält sie am Ende aktiv. Verstärkt sich die Symptomatik, spricht dies für eine muskuläre Insuffizienz oder eine intraartikuläre Komponente im Sinne eines Impingements. Nehmen die Symptome dagegen ab, ist wahrscheinlich eher eine extraartikuläre passive Struktur wie der Kapsel-Band-Apparat für die Problematik verantwortlich.
Muskeltests
Bei Muskeltests beurteilt der Therapeut die Kraftentwicklung, das Ansprechverhalten sowie die Ausdauerleistung der Muskulatur. In der Regel werden die Muskeln hierzu nicht isoliert getestet, sondern es werden ganze Muskelgruppen beurteilt wie z.B. die BWS-Extensoren oder die Hüftextensoren etc. Bei den Tests stehen grundsätzlich eher die Funktionalität und die Ausdauerleistung im Vordergrund.
Muskelfunktionstest
Muskelfunktionstests sind isoliert auf einen einzelnen Muskel ausgelegt. Die Testanordnung minimiert die Wirkung von Synergisten. Getestet werden die allgemeine Kraft sowie die Kraftentfaltung über das ganze Bewegungsausmaß des entsprechenden Gelenks. Um aussagekräftige Ergebnisse zu erhalten, müssen bereits im Vorfeld die Gelenkbeweglichkeit und die Muskellänge der Antagonisten als nicht einschränkend beurteilt werden. Muskelfunktionstests besitzen allerdings keine Aussagekraft über die Ausdauerleistung eines Muskels. Tatsächlich kann ein Muskel trotz 100%iger Muskelkraft und regelrechter Kraftentwicklung über das gesamte Bewegungsausmaß dennoch schneller ermüden.
Die Muskelfunktionstests werden i.A. nach Janda (1994) eingeteilt ( ▶ Tab. 2.3):
Tab. 2.3 Muskelfunktionstests nach Janda.