Flucht und zögernde Ankunft
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1954 waren die acht Jahre vorbei, die jeder in dem Land zur Schule gehen musste, das sich von der Sowjetisch Besetzten Zone zur Deutschen Demokratischen Republik gewandelt hatte. Danach teilte sich der Weg zu Oberschule oder Berufsausbildung. Im gleichen Jahr, in dem Deutschland Weltmeister im Fußball wurde, stand ich an der Weichenstellung für’s Leben. Die Franzosen verloren die Schlacht um Dien Bien Phu gegen die Viet-Minh-Armee in Indochina. Vietnam erlebte die Teilung, die Franzosen das Ende ihrer Kolonialzeit in Asien. Moskau hatte der DDR gerade das Recht eingeräumt, nach eigenem Ermessen über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten zu entscheiden. Auf mich kam eine völlig überraschende Entscheidung zu.
Mich auch nur in einem einzigen der vergangenen Jahre in die Gruppe der Glanzschüler stellen zu wollen, wäre ein gewagtes Experiment im Umgang mit der Wahrheit. Ohne geneigte Lehrerinnen, allen voran Frau Schneider, die sich gerne in meiner Nähe aufhielt, und ohne die Hilfe vor allem von Volker Steffen hätte ich trotz kurzer Hosen und rosig-runder Bäckchen alt ausgesehen. Mein Zeugnis war am Ende der achten Klasse nicht glorreich, auch nicht schlecht, jedenfalls eines der besten, das ich je hatte. Es ist mir kürzlich in die Hände gefallen, und ich schwankte zwischen Stolz und Erstaunen: alle Fächer „gut“, glatte 2.
Trotzdem durfte ich die Oberschule nicht besuchen.
Heute sind die Komplikationen, die dazu führten, schwer zu verstehen. Sie sind es nur aus den Verklemmungen des Jahres 1954. Ich hatte den Makel, im Arbeiter und Bauernstaat nicht Kind eines Arbeiters oder Bauern zu sein. Das war schon schlimm genug. Noch strenger bemängelten die Ämter: Mehr aus Trägheit und Desinteresse weniger aus ideologischem Eifer war ich kein junger Pionier und kein FDJler geworden. Auch an anderer Stelle hatte ich nichts zum Aufbau des Sozialismus beigetragen. Das nahm man mir übel. Aber sie boten mir eine Möglichkeit, das Versäumte nachzuholen: Ich sollte meine Begeisterung und Treue zum ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden durch die Tat beweisen. In Verhandlungen, deren Verlauf mich nicht von meinen Büchern und der Sofaecke trennen konnte, gaben sie Nunni auf, ich sollte im Sommer und Herbst dem sozialistischen Ernährungsprogramm als Erntehelfer dienen. Nach Weihnachten sollte ich zur Reanimierung meiner Lernbereitschaft wieder in die Schule, die 8. Klasse, gehen. Danach sollte mir, so sicherten sie ihr zu, der Weg zur Oberschule, so hieß in Weimar das Gymnasium, offen stehen. Nun hieß es, sich doch von den Büchern loszureißen, und ich zog als Erntehelfer aufs Land.
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Libbesdorf ist ein unbedeutender Ort zwischen Dessau und Bitterfeld. Der Hof der Familie Pittkow dort ist groß. Ich fühle mich klein. Nicht im Sinne von niedergemacht, Ernst und Petra Pittkow behandeln mich gut. Sie sind Hilfskräfte im Kindesalter gewöhnt. Vor mir hat ein Mädchen hier gearbeitet, ein Mädchen, das auch Petra hieß. Ich arbeite schon drei Monate bei den Pittkows im Dorfweg. Habe mich an mein kleines Zimmer gewöhnt, das zum Obstgarten hinausgeht. Die Äpfel sind schon geerntet.
Auf dem Hof kenne ich mich noch immer nicht gut aus. Eine Scheune geht in die andere über. In der großen steht der Mähdrescher, ein Vorkriegsexemplar, das erkenne sogar ich. Ich fühle mich klein, weil alles außer den Wohnräumen groß ist. Es gibt einen großen, zwei mittelgroße und einen kleinen Leiterwagen, auch der ist groß. Kühe habe ich 42 gezählt, ich liebe ihr leises Muhen, das Klirren ihrer Ketten. Es gibt Hühner, Enten und natürlich Pferde. Ich suche keinen Traktor, es ist auch keiner da, aber es gibt Pferde. Das kann ich schon: Pferde anspannen, große, dickleibige Tiere. Max und Moritz gehen immer zusammen, sie sind mir die Liebsten. Sie sind stark, haben gezügeltes Temperament. Wenn ich auf ihre mächtigen Schweife achte, mit denen sie nach den Bremsen schlagen, kann mir nichts passieren. Sie sind meine Freunde.
Ich soll mit dem großen Wagen losfahren und Heu vom Feld holen. Was Ernst sagt, wird gemacht. Den großen Leiterwagen durch das Tor in der Umfassungsmauer des Hofes bugsieren ist eine schwere Aufgabe für mich. Es ist kaum breiter als der Wagen, dessen dicke Speichenräder, gefasst in ein Stahlband, auf dem Sandboden knirschen. Eine Sekunde lang träume ich, es war mein Geschick, es heil auf die Straße zu schaffen, aber ich weiß, Max und Moritz wollen mich nicht blamieren. Auf welches Feld sollen wir fahren? Die beiden wissen es. Petra wartet schon mit drei Frauen, nicht auf mich, aber auf den Wagen. Die Sonne brennt, den Flug der Vögel beachte ich nicht. Das Heu riecht herrlich, lädt ein, darin zu baden. Wir laden es auf den Wagen so hoch, wie bei ausgestreckten Armen die Spitze der Heugabel reicht. Es gut schichten ist keine Kunst, setzt aber Übung voraus. Ich lerne rasch. Die Arbeit gefällt mir.
Endlich ist es soweit. Petra winkt mir aufzusteigen auf das duftende Gebirge. Die Zügel reichen kaum bis oben hin, ich rufe stolz „Los!“, Max und Moritz ziehen an. Es schwankt, mein Gebirge, es riecht himmlisch. Ich strecke mich aus, versinke noch tiefer in den Wohlgeruch, sehe um mich nichts mehr von der Erde, sehe nicht Max und Moritz, nicht den Weg. Nur den Himmel und ein paar weiße Wolken. Und die Schwalben, die ich von zu Hause her liebe, deren helle Rufe ich aber nicht hören kann, weil die Räder im Boden knirschen. Der Wagen schwankt, die Welt tanzt und ist sehr weit weg. Ich erwache, als alles aufhört, die Bewegung und das Rauschen. Wir stehen im Pittkowschen Hof. Brave Max und Moritz.
Das war das schönste Erlebnis, das schrecklichste war dies: Die Tage werden kürzer, Zeit der Getreideernte. Der Mähdrescher hat Hochkonjunktur. Er fährt nicht aufs Feld hinaus, sondern blieb in der großen Scheune stehen, in die wir das geschnittene Korn bringen. Der Tag ist kühl, es hat leicht geregnet. Die Last zweier Wagen wartet darauf, gedroschen zu werden. Jeder Griff muss sitzen. Auf dem Dach der riesigen Maschine steht Petra. Mit der Heugabel sorgt sie für den gleichmäßigen Zustrom des Korns, das von kreischenden Rotoren in die Tiefe gezogen wird, wo es geschüttelt, zermahlen und ganz unten als Häcksel wieder zu Tage tritt.
Ich bin bei Max und Moritz, als der Schrei Mensch und Tier erstarren lässt. Selbst die Bremsen und Fliegen scheinen einen Moment innezuhalten. Wie alle renne ich in die Scheune. Das Dach des Mähdreschers ist leer, Petra ist nicht zu sehen. Nach Sekunden der Starre entdecke ich ihre Hände, fest geklammert an den Rand der Maschine, das Weiß der Fingernägel blutrot. Petra ist in die laufende Maschine eingebrochen. Keiner stellt sie ab, endlich aber doch. Die Leiter, wo ist die Leiter. Da erscheint Petras Kopf oben über dem Rand. Sie stemmt sich hoch. Jetzt ist ihr ganzer Oberkörper zu sehen. Auch die Leiter ist da. Ernst hastet hinauf und zieht seine Frau aus dem Kasten. Als er sie über den Rand hebt, können wir es sehen. Über dem Knie hat der Rotor das linke Bein abgeschlagen. Wie ein breites Farbband führt die Blutspur durch die Scheune, den Hof und verschwindet, kaum dünner, hinter der Tür zur Wohnstube.
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Gerd war 12 Jahre alt, zwei Jahre jünger als ich. Der einzige Sohn der Pittkows liebte Max und Moritz, diese Liebe begründete unsere Freundschaft. Er stotterte nicht, er lispelte nicht, aber das „s“ konnte er nicht aussprechen. Auch das „h“ nicht, wie die Russen. Sein Baumhaus zeigte er mir sehr bald. In einem Birnbaum, groß genug auch für mich. Sehr spät lud er mich in sein geheimes Reich ein. Es lag ganz hinten im Schafsstall, da wo auch die Schafe nicht mehr hinkommen. Ein Reich voll von gestohlenen Kleinigkeiten. Die Luftpumpe für das einzige Fahrrad auf dem Hof, hier fand ich die Luftpumpe. Ernst hatte sie verzweifelt gesucht. Ich brachte sie ihm wieder. Unserer Freundschaft hat das nicht geschadet.
Wir wussten beide nicht von dem Sturm, der durch die Bauernschaft ging. Vor zwei Jahren hatte die Zwangskollektivierung angefangen, die sie hier „Vergesellschaftung von Produktionsmitteln“ nannten. Die Vokabel „Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft“ hatten wir noch nicht gelernt, auch nicht das Kürzel LPG. 200 Bauern brachten sich in diesem Sturm selbst um, 11.000 Bauern flohen in den Westen. Bis 1960 ging fast alles Ackerland in 20.000 LPG’s auf. Oder unter, uns interessierte das nicht.
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Heute ist Rüben-Tag. Die Rüben-Tage kommen wenn die Kartoffel-Tage vorbei sind. Beide ähneln sich auf entmutigende Weise. Ihr Stichwort heißt „Nachlese“. Wenn die Erntemaschinen das ihre gemacht haben, geht eine Kette von 10–15 meist Frauen über den Acker und liest die übrig gebliebenen Kartoffeln oder Rüben auf. Heute besteht die Kette aus drei Leuten, einer bin ich. Die beiden anderen Frauen habe ich noch nie gesehen. Es regnet, es ist Oktober und es ist kalt. Aus Thüringen kenne ich solche Felder wie die der Pittkows nicht. Die...