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E-Book

Plastik. 100 Seiten

Reclam 100 Seiten

AutorPia Ratzesberger
VerlagReclam Verlag
Erscheinungsjahr2019
ReiheReclam 100 Seiten 
Seitenanzahl100 Seiten
ISBN9783159614861
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis6,99 EUR
Plastik ist praktisch, Plastik ist überall. Es steckt in unserer Kleidung oder Kosmetik, wird als Implantat in unsere Körper eingebaut und ist aus den Supermärkten nicht mehr wegzudenken. Doch zunehmend wird klar, dass Kunststoffe und ihre Rückstände ein gravierendes Umweltproblem darstellen - die Bilder von Plastikstrudeln im Ozean oder sterbenden Walen haben viele aufgerüttelt. Wie sollen wir mit diesem Wunderstoff des Fortschritts und des Designs sinnvoll umgehen? Pia Ratzesberger erzählt die zwiespältige Geschichte des Plastiks und verrät, wie eine umweltbewusste Zukunft (fast) ohne Plastikmüll aussehen könnte.

Pia Ratzesberger, geb. 1990, ist Redakteurin der Süddeutschen Zeitung.

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Leseprobe

Der Müll


Wir leben in Städten aus Plastik. Wir arbeiten in Büros voller Plastik, wir schlafen auf Plastik. Wir fahren mit Hilfe von Plastik durch die Straßen und fliegen mit ihm ans andere Ende der Welt. Wir bezahlen mit Plastik und wir telefonieren damit. Wir trinken aus Plastik und baden darin. Wir ziehen uns am Morgen Plastik an und schalten am Abend damit das Licht aus. Man muss nur einmal kurz die Augen schließen und in Gedanken alles aus der Wohnung räumen, was aus Plastik hergestellt ist. Es würde nicht viel übrigbleiben. Die Zahnärzte füllen Plastik in unsere Zähne, die Chirurgen ersetzen unsere Gelenke damit und selbst in unserem Blut sind die Kunststoffe angekommen. Plastik findet sich auf den Feldern und in den Böden, in den Flüssen und in den Meeren. Wenn man heute eine Plastikflasche in die Nordsee wirft, werden ihre kleinsten Bestandteile in 450 Jahren noch immer da sein, vielleicht auch noch länger. Wir leben in einer Welt der Kunststoffe – und wir werden sie nie wieder loswerden.

Blickt man in der Geschichte zurück, sind Epochen immer wieder nach Materialien benannt worden, die das Leben der Menschen entscheidend verändert haben. Es gab die Steinzeit und die Bronzezeit, die Eisenzeit und die Kohlezeit. Jetzt leben wir in der Plastikzeit. Sie ist von einem künstlichen, vom Menschen geschaffenen Stoff bestimmt, der so wandelbar ist wie kein anderer. Unter dem Begriff Plastik werden heute alle Arten von Kunststoffen zusammengefasst, aus denen wahlweise ein Abflussrohr oder ein Fallschirm entstehen kann. Auch eine künstliche Arterie.

Plastik hat uns viel Gutes gebracht. Der Mensch hat sich mit den Kunststoffen Träume erfüllt, von einem verlängerten Leben und von ihm dienenden Maschinen, von Telefonen und Raumanzügen. Ohne Plastik wäre vieles teurer, erst mit den Kunststoffen konnten sich immer mehr Menschen Dinge leisten, die zuvor als Luxus galten. Wasserflaschen wären ohne Plastik schwerer und Reisen mühsamer, ohne Plastik wäre auch vieles nicht möglich, was dem Schutz der Umwelt dient. Windräder oder Elektrobusse zum Beispiel. Doch das Plastik verändert das Leben des Menschen nicht nur in den Bereichen, in denen er es möchte, sondern auch, in denen er es nicht möchte, und längst haben wir die Kontrolle darüber verloren, wie stark der Stoff unsere Welt prägt.

Der Begriff Plastik, in Teilen Deutschlands auch Plaste, stammt von dem griechischen Wort plássein ab, das ›bilden‹ und ›formen‹ bedeutet. Während man in anderen Ländern ausschließlich von plastic (englisch) oder plastique (französisch) spricht, von plastica (italienisch) oder plast (schwedisch) oder plastikowy (polnisch), reden wir in Deutschland auch von Kunststoffen. Anfang des 20. Jahrhunderts gründete ein Chemiker eine Zeitschrift mit dem Titel Kunststoffe, und seine Kollegen sollten sich Jahrzehnte über den Begriff streiten, bis er sich in der Wissenschaft durchsetzte. Manche Chemikerinnen und Chemiker reagieren heute noch ungehalten, wenn sie das Wort Plastik hören, was aber nichts daran ändert, dass es überall zu hören ist. Im Duden steht: »Plastik, das. Bedeutung: Kunststoff«.

Das Tolle an Kunststoffen ist, dass sie so gut wie jede Eigenschaft annehmen können, die wir uns nur vorzustellen vermögen. Sie können hart sein oder weich, elastisch oder fest, durchsichtig oder opak. Im Gegensatz zu Holz oder Glas sind sie kaum kaputtzukriegen, das ist ein großer Vorteil, der gleichzeitig ein großer Nachteil ist. Denn eines haben alle Kunststoffe gemeinsam, so unterschiedlich sie sind – sie bleiben verdammt lange in der Welt. Eine Plastiktüte im Meer braucht Schätzungen des Umweltbundesamtes zufolge zehn bis zwanzig Jahre, bis sie sich aufgelöst hat. Das Plastik zerfällt in immer kleinere Teile, die wir irgendwann nicht einmal mehr unter einem Mikroskop erkennen können. Heute findet sich viel von diesem feinen Plastik im Meer.

Immer wieder werden Videos von Tauchern im Internet veröffentlicht, die zeigen, wie die Kunststoffe durchs Wasser treiben. Zum Beispiel von einem Mann namens Rich Horner, der in der Nähe der indonesischen Insel Bali unterwegs war. Der Brite wollte Rochen beobachten, doch anstatt von Fischen war er von Folien und Kondomen umgeben, von Fetzen und Tüten. Als er am nächsten Tag an die gleiche Stelle zurückkehrte, war der Müll verschwunden. Die Strömung hatte ihn weitergetragen, in den Indischen Ozean. Im Internet sind unzählige solcher Videos zu sehen, in den Kommentaren ist dann »erschreckend!!!« oder »ein absoluter Albtraum« zu lesen. Trotzdem werden jede Minute auf der Welt wieder eine Million Plastikflaschen verkauft.

Wir wissen, dass wir bedachter mit dem Plastik umgehen sollten und machen es trotzdem nicht. Es ist wie mit so vielen anderen Dingen, die einem das Leben für einen Moment einfacher machen, wie mit dem Fliegen und mit dem Autofahren, mit den schnellen Pommes an der Ecke. Wir wissen, es wäre besser, darauf zu verzichten, aber wir haben gelernt, dass wir nicht verzichten müssen. Wir haben uns daran gewöhnt, dass wir alles kaufen können, immer und überall, und dass wir uns für die meisten Waren nicht mehr anstrengen müssen. Das Plastik hilft uns dabei, unseren Glauben an den Konsum nicht in Frage zu stellen. Dabei ist offensichtlich, dass wir das tun sollten.

Man muss nur einmal beobachten, wie viel Plastik man innerhalb einer Woche in die Tonne wirft, und sich dann den Müll vorstellen, den man in seinem Leben bislang aufgetürmt hat. Vielleicht würde sich unser Verhältnis zu unserem Abfall verändern, wenn dieser Berg eines Tages vor uns läge, wenn wir die Tür öffnen würden. Um unseren Müll nämlich kümmern wir uns meistens nur, solange wir ihn sehen. Wenn die Laster dann vorfahren, um unsere Tonnen zu leeren, haben wir schon lange vergessen, was wir hineingeworfen haben, und sind dabei, die nächsten Tonnen zu füllen. Ohne uns zu fragen, was mit unserem Müll geschehen wird und ohne uns zu fragen, ob es sich gelohnt hat, einen Becher herzustellen, den wir nur ein einziges Mal verwendet haben – die Antwort kennen wir wahrscheinlich schon. Wenn es gut läuft, lagert unser Abfall am Ende immerhin nicht auf einer Deponie, das meiste Plastik in Deutschland wird verbrannt. Doch erstens sind die Rohstoffe, aus denen der Kunststoff einmal hergestellt wurde, dann für immer verloren. Zweitens weiß niemand, was mit dem Plastik passiert, das trotzdem noch in Böden, Flüsse und Meere gelangt. Wir wissen nicht, ob eine Flasche im Wasser nach 450 Jahren tatsächlich zerfallen sein wird. Vor 450 Jahren gab es noch kein Plastik. Erst unsere Nachfahren werden das aufklären können, sie werden so viel mehr Plastik in den Ozeanen finden als wir heute. Jede einzelne Flasche, die wir ins Wasser werfen, werden wir ihnen hinterlassen.

Das Meer täuscht einen. Blickt man weit draußen vor der Küste auf die Wellen, könnte man glauben, es sei noch unberührt, so blau, wie es da liegt. Dabei sind die Ozeane voller Kunststoff. Schon in den 1970er Jahren entdeckten Wissenschaftler die kleinen Teile im Wasser, und in den 1990er Jahren stieß ein Kapitän namens Charles Moore auf eine schwimmende Müllhalde, die später als »Great Pacific Garbage Patch« bekannt werden sollte. Heute wird sie mehr als viermal so groß wie Deutschland geschätzt, auch wenn Grenzen in den Wellen kaum auszumachen sind. »Ich war kein moderner Kolumbus, der einen Plastikkontinent entdeckte. Ich war ein Seefahrer, der zuerst ungläubig und dann mit größerer Sicherheit bemerkte, dass dieser riesige Abschnitt überall mit schwimmenden Plastikfetzen übersät war«, schreibt Moore in seinem Buch Plastic Ocean. Was er zwischen Hawaii und Kalifornien in den Wellen treiben sah, war allerdings nur ein Bruchteil des Mülls. Würde man mit dem Schiff aufs Wasser hinausfahren, wäre man überrascht, wie wenig Plastik mancherorts zu sehen wäre – vieles ist so fein, dass wir es nicht erkennen können.

Wir wissen heute von fünf Müllhalden in den Meeren. Eine treibt im Indischen Ozean, neben dem Great Pacific Garbage Patch noch eine weitere im Pazifik, und zwei finden sich im Atlantik. Der Müll folgt den Wellen und so sammelt er sich stets in der Nähe des Äquators, wo die Strömungen aus Norden und Süden aufeinandertreffen. Ein Mann aus den Niederlanden namens Boyan Slat versucht mit seinem Projekt The Ocean Cleanup gerade, den Abfall am Great Pacific Garbage Patch wieder aus dem Wasser zu ziehen, doch selbst wenn ihm das gelingen sollte, wird es ihm ergehen wie Sisyphos in der griechischen Sage: Es wird neuer Müll nachkommen. Niemand kann mit Gewissheit sagen, wie viel Plastik ins Meer gelangt, Schätzungen der Wissenschaftlerin Jenna Jambeck sowie ihren Kolleginnen und Kollegen zufolge sollen es in einem Jahr fünf bis dreizehn Millionen Tonnen sein. Das wären bis zu vier Prozent der weltweiten Produktion. Der meiste Müll stammt dabei nicht von Schiffen, sondern vom Land:

  • vom Wind, der den Müll von offenen Deponien in die Flüsse oder ins Meer trägt.

  • aus dem Abwasser, in dem sich zum Beispiel noch Fasern aus Pullovern finden. Selbst Kläranlagen, die einen großen Teil des Mikroplastiks aus dem Wasser filtern, können bislang noch nicht alles fassen.

  • von Menschen, die ihren Müll direkt in die Flüsse oder ins Meer werfen. (In Deutschland spielt zudem der Abrieb von Autoreifen auf den Straßen eine große Rolle.)

Wenn wir wissen wollen, woher das meiste Plastik in den Weltmeeren stammt, müssen wir nach Asien blicken. Für den meisten Müll...

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