Kritik der Bürokratie – Zwischen Notwendigkeit und Verständnislosigkeit
Von der Wiege bis zur Bahre – Formulare, Formulare. Lakonischer lässt sich die Kritik an der Bürokratie kaum zusammenfassen. Bürokratie begleitet und dokumentiert unser ganzes Leben, bereits pränatal und noch post mortem. Wir können uns sicher sein: Jedenfalls amtliche Urkunden werden von uns übrigbleiben – Geburts-, Heirats- und Sterbeurkunden, Personalausweise und Reisepässe, Zeugnisse und Zertifikate, Melde- und Einbürgerungsbescheinigungen, Arbeitsverträge und Versicherungsnachweise, Führerscheine und Führungszeugnisse. So erzählt sich die moderne Gesellschaft unsere Lebensgeschichte, merkt sich, wer wir sind und waren. Selbst wenn sich niemand mehr an uns persönlich erinnern sollte, können Verwaltungen unsere Akten hervorholen oder unsere Personaldatei aufrufen.
Zugleich ahnen wir, dass Bürokratie in unserer Gesellschaft notwendig ist. Aber verstehen wir auch wirklich, warum? Die Beantwortung dieser Fragen wird vor allem von persönlichen Erfahrungen geprägt: Jeder von uns hat schon in kahlen Fluren und überheizten Räumen von Verwaltungen gewartet: die gezogene Wartenummer laut digitaler Anzeigetafel noch eine gefühlte Ewigkeit entfernt. Jeder hat auf den formatierten Onlineformularen einer digitalen Verwaltungsdienstleistung auch schon vergeblich nach dem Feld gesucht, um die Besonderheiten des eigenen Falls zu vermerken. Jeder hat sich auch schon über die Verwaltung geärgert – und das sicherlich nicht nur zu Unrecht. Doch mit dem Begriff der Bürokratie verbindet sich noch mehr, als »nur« diese individuellen Erfahrungen. Bürokratie ist zu einer kulturellen Chiffre für unser »Unbehagen in der Gesellschaft«1 geworden, für die kafkaeske Seite der Moderne: Menschen sehen sich Strukturen ausgesetzt, deren Sinn ihnen verborgen bleibt und denen gegenüber sie sich ohnmächtig fühlen. Historisch steht Bürokratie für die menschenverachtende Herrschaft der totalitären Regime des 20. und 21. Jahrhunderts. Diktaturen gängeln, zermürben und unterdrücken »ihre« Bevölkerung mit bürokratischen Mitteln, Kontrollen, Überwachung und Verfahren. Die deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager wurden buchhalterisch geplant und geführt. Dies alles schwingt in unserem persönlichen, kulturellen und historischen Gedächtnis mit, wenn wir uns heute nach der Bedeutung der Bürokratie für uns selbst, für unsere Gesellschaft und für unsere Demokratie fragen.
Auch in demokratischen Gesellschaften bleiben die Bürgerinnen und Bürger gegenüber der Bürokratie misstrauisch.2 »Die Bürger loben die Behörden – und verstehen sie nicht.«3 Dieser Satz fasst das Ergebnis einer Studie über die Verwaltung in der Bundesrepublik aus dem Jahr 2015 zusammen: Die Bürgerinnen und Bürger urteilten »insgesamt erstaunlich positiv über den deutschen Behördenstaat«. Sie hegten auch kaum Zweifel an der Unbestechlichkeit der Beamtinnen und Beamten. Aber sie verzweifelten an komplizierten Gesetzen und Formularen. Niklas Luhmann hat diesen Befund dahingehend formuliert, dass die Bürgerinnen und Bürger die Bürokratie wie eine Blackbox wahrnehmen: Einerseits ist die Verwaltung mit ihren Leistungen und Zwängen im täglichen Leben omnipräsent.4 Andererseits bleiben die bürokratischen Arbeitsgänge und Entscheidungserwägungen den Bürgern zugleich fremd und unverständlich. Antibürokratische Vorurteile seien – so Luhmann weiter – keine schlichten Irrtümer der Bevölkerung, die sich durch soziologische Aufklärung beseitigen ließen. Vielmehr ermöglichten sie es den Bürgern, für sie negative Verwaltungsentscheidungen zu akzeptieren, ohne dagegen protestieren zu müssen – etwa nach dem Motto: »War ’ne typisch bürokratische Entscheidung. Da lässt sich nix machen.« Auf diese Weise attestiert der erfahrene Verwaltungsfachmann Luhmann der Differenz zwischen der gesellschaftlichen Notwendigkeit von Bürokratie und dem Unverständnis der Bevölkerung für Bürokratie eine systemstabilisierende Funktion für die Verwaltungen. Wenn man dieses Argument konsequent zu Ende denkt, stößt man auf eine der Paradoxien, die die Systemtheorie mehr als alles andere schätzt: Die gesellschaftliche Aufklärung über die Bedeutung von Bürokratie kann in der Demokratie sogar kontraproduktiv sein. Den Bürgerinnen und Bürgern wäre dadurch der Weg versperrt, ihre eigene Enttäuschung über Verwaltungsentscheidungen emotional zu verarbeiten. Sie wüssten dann ja, um was es der Bürokratie in der Demokratie geht, und könnten die Arbeit der Verwaltungen gerade daran messen.
In der Demokratie kultivieren aber nicht nur die Bürgerinnen und Bürger, sondern auch die Politik ein distanziertes Verhältnis zur Bürokratie:5 Politikerinnen und Politiker profilieren sich gerne mit der Forderung, die Bürokratie radikal abzubauen. Diese ritualisierte Bürokratiekritik übergeht jedoch nur allzu gern, dass gerade die Politik selbst die Verwaltungsaufgaben ausweitet und das Behördenwachstum beschleunigt.6 Darüber hinaus setzt die Politik ihren Vorsatz, den »Amtsschimmel« zu bändigen, regelmäßig sehr bürokratisch um: Keine Staatskanzlei, kein Ministerium und keine Kommunalverwaltung ohne eine Stabsstelle für Bürokratieabbau, Deregulierungskommission und Normenkontrollrat.7 Politisch inspirierter Bürokratieabbau wird durch neue bürokratische Regeln umgesetzt. Diesen »bürokratischen Teufelskreis«8 möchte die Politik nun mit »Paragrafenbremsen« durchbrechen, die in das Gesetzgebungsverfahren eingebaut werden: Für jeden neuen Gesetzesparagrafen muss ein alter Gesetzesparagraf abgeschafft werden. Donald Trump hat dies für seine Administration gleich verdoppelt: Für jede neue Norm sind zwei geltende Regelungen zu streichen. Die »Paragrafenbremsen« legen dabei eine rein quantitative Betrachtung zugrunde, denn sie sollen auch für unverzichtbare Gesetzesregelungen gelten. So wird die Quantität, nicht die Qualität zum entscheidenden Kriterium für gute Gesetzgebung. Doch gerade dieser scheinbar radikale Reformansatz der Politik zum Abbau von Bürokratie verkennt die Funktionsweise von Bürokratie auf fundamentale Weise: Wie reagiert – so lautet die simple Kontrollfrage – der gute Ministerialbeamte, wenn Paragrafen zu einem knappen Gut werden? Die bürokratisch einzig sinnvolle Antwort lautet: Er spart. Er schlägt also nicht vor, alte, überflüssige oder schlechte Paragrafen aufzuheben. Dies wäre an sich seine Dienstpflicht im demokratischen Rechtsstaat, damit die Bürgerschaft veraltete oder sinnlose Normen nicht mehr befolgen muss. Doch wenn die »Paragrafenbremse« gilt, dann sieht sich die gute Verwaltung gezwungen, veraltete und sinnlose Regeln zu sammeln. Sie legt einen Vorrat überkommener Normen an, um sie zu gegebener Zeit bei der Umsetzung von neuen Gesetzesvorhaben gegen neue Paragrafen aufrechnen zu können. Hinter vorgehaltener Hand hört man in Ländern, in denen »Paragrafenbremsen« gelten, längst von Konflikten zwischen Abteilungen und Ministerien: Eine Abteilung oder ein Ministerium hat veraltete oder sinnlose Paragrafen im Geschäftsbereich einer anderen Abteilung oder eines anderen Ministeriums entdeckt. Nun möchte sie diese gegen neue Paragrafen des eigenen Geschäftsbereichs eintauschen, um der »Paragrafenbremse« gerecht zu werden. Doch die betroffene Abteilung bzw. das betroffene Ministerium wehrt sich gegen diesen Übergriff in den eigenen Geschäftsbereich. Sie verteidigt »ihre« überflüssigen Normen. Es kommt zum behördlichen Konflikt um veraltete und sinnlose Regelungen, die bürokratisch noch nie so wertvoll waren wie in den Zeiten der »Paragrafenbremsen«, in der die überkommenen Regelungen eigentlich abgebaut werden sollen. Im Zweifel muss nun die Ministerin bzw. der Minister den Streit zwischen den Abteilungen und die Regierung den Streit zwischen den Ministerien entscheiden.
Wiederum könnte man mit systemtheoretischer Ironie reagieren: Nur wer dieses Beispiel der »Paragrafenbremse« nicht für absurd hält, hat verstanden, worum es bei Bürokratie geht. Doch man kann aus dem bürokratischen Lehrstück der »Paragrafenbremse« auch eine ganz andere Schlussfolgerung ziehen:9 Gerade in der Demokratie ist die Bürokratie genau so gut, wie die Politik sie lässt. Wenn eines Tages die Geschichte des Bürokratieabbaus in der Bundesrepublik geschrieben wird, wird sie also weniger vom Abbau als vom Umbau von Verwaltungen handeln.10 Das Buch könnte »Bürokratieabbaubürokratie« heißen und wird sich sicherlich so kurzweilig wie die »Neuesten Nachrichten aus Schilda« lesen. Die ökonomisch informierte Bürokratiekritik hat verstanden, dass sich Bürokratie nur bürokratisch abbauen lässt. Deshalb fordert sie in den letzten fünfundzwanzig Jahren, von...