02
Spannungen in der Modernisierung. Frauenpolitik im Kontext des Wandels von den 1950er- bis zu den 1980er-Jahren
Christoph Wehrli
In welchem gesellschaftlichen und politischen Umfeld war Liselotte Meyer-Fröhlich tätig? In der Zeit von den 1950er- bis zu den 1980er-Jahren sind trotz aller schweizerischen Stabilität und Kontinuität viele Veränderungen, Umbrüche und Wenden eingetreten – gerade in Zürich, wo neue Tendenzen meist rascher und deutlicher hervortraten als anderswo. Die vielschichtige Entwicklung kann hier nicht umfassend dargestellt werden. Vielmehr seien ein paar Eckpunkte auf nationaler, kantonaler und lokaler Ebene in Erinnerung gerufen und die spezifischen, vor allem die frauenpolitischen Handlungsfelder der Verbands-, Gemeinde- und Kantonspolitikerin, etwas näher betrachtet.
Die 1950er-Jahre – Wachstum und Bewahrung
Für das Klima im Zürich der ersten Nachkriegsjahrzehnte war «Stapi» Emil Landolt mehr als eine Symbolfigur. Der Freisinnige war Stadtpräsident von 1949 bis 1966, in einer Zeit ungestörten Wachstums. Gegenüber der starken Sozialdemokratie verfolgte er eine Politik des Ausgleichs, er stand für Harmonie und war bei aller Sparsamkeit für seine Festfreude bekannt. Wer damals per Auto nach Zürich hineinfuhr, wurde an der Stadtgrenze von Tafeln empfangen mit dem Slogan «Zürich – Sicherheit durch Höflichsein». Eine bürgerliche Tugend empfahl sich als Wegweiser in der potenziell nicht ungefährlichen Stadt, von der das umliegende Land noch recht klar geschieden war. «Er wollte Zürich nicht verändern», schrieb über Emil Landolt dessen Nachfolger Sigmund Widmer. Das heisst nicht, dass sich konkret nichts verändert hätte. Die Bevölkerungszahl nahm zu und erreichte 1962 den Höhepunkt von 440 000 Personen. Die Wirtschaft prosperierte. Es wurden neue Wohnsiedlungen, Schulen, Spitäler, Heime und auch Strassen gebaut wie kaum je zuvor und danach.
Die zürcherischen Verhältnisse entsprachen in manchem den gesamtschweizerischen. Das Wachstum entschärfte Verteilkonflikte. Optimistisch plante man Nationalstrassen und die Nutzung der Atomenergie. Langsamer, aber kontinuierlich entwickelte sich der Sozialstaat. Die AHV, auf Anfang 1948 mit monatlichen Renten von 40 bis 125 Franken endlich eingeführt und dann schrittweise ausgebaut, wurde zu einer der populärsten Institutionen der Eidgenossenschaft. Die Armee, die damals noch wichtigere Klammer, blieb unangefochten. Die politische Konkordanz wurde 1959 durch die Wahl zweier Sozialdemokraten in den Bundesrat zum Regierungsprinzip, wenngleich vorerst Kritiker von der «Zauberfomel» in ironisch-polemischem Sinn sprachen.
Die gesellschaftliche Situation wies sowohl konservative als auch moderne Züge auf. Die Befreiung aus der Abschottung während der Kriegszeit und der aufkeimende Wohlstand schufen Spielräume und auch Erwartungen. Indessen hatte die Stimmung des Kalten Kriegs auch die Schweiz erfasst; sie festigte ihren freiheitlich-demokratischen Konsens und die Position der «bewaffneten Neutralität», was aber auch zu persönlichen Verdächtigungen, Ausgrenzungen und politischen Verengungen führte. Konfessionelle Trennlinien spielten noch immer eine erhebliche Rolle, weniger in der Stadt als im Kanton insgesamt. 1963 wurde in Zürich die Mahmud-Moschee eröffnet, und zwar dank Unterstützung durch Stadtpräsident Landolt, der darin ein Zeichen typischer Weltoffenheit sah. Im selben Jahr erst (als die katholische Kirche öffentlich-rechtlich anerkannt wurde) errang die Christlich-Soziale Partei (heute CVP) einen Sitz im Regierungsrat, und zehn Jahre später fand die Aufhebung des Kloster- und Jesuitenverbots im Kanton, im Gegensatz zur übrigen Schweiz, keine Mehrheit. Was Wirtschaft, Gesellschaft und Politik nachhaltig verändern und mitprägen sollte, nämlich die Immigration, nahm schon in den 1950er-Jahren rasch erhebliche Dimensionen an; doch die Italiener, um die es sich hauptsächlich handelte, waren vorerst vielfach «Gastarbeiter» und lebten oft ohne Familie eher am Rand der sichtbaren Gesellschaft. Die Konzentration der Immigranten aus Italien auf wenig attraktive Berufe erleichterte Schweizern tendenziell die berufliche Mobilität.
Die Frauen hatten während der Kriegszeit in Familie oder Beruf sowie im Militär (Frauenhilfsdienst, FHD) besondere Leistungen erbracht, ohne dass sich dies danach auf ihre gesellschaftliche Rolle unmittelbar ausgewirkt hätte. Das Heiratsalter sank vorerst, neue technische Geräte und Fertigprodukte erleichterten die häuslichen Arbeiten, stellten die besondere «Zuständigkeit» der Frau aber nicht infrage, und der Auszug junger Paare und Familien in die grüneren Vororte machte eine Erwerbstätigkeit der Frau eher schwieriger, sofern sie nicht ohnehin als Last und als Zeichen karger Verhältnisse galt.
Ab den späten 1950er-Jahren verbreitete sich für das Verhältnis von familiären Aufgaben und Erwerbstätigkeit die Formel der drei Phasen, wobei in der Realität besonders der berufliche Wiedereinstieg nach der zweiten, der «Kinder-Phase», nicht einfach war. Die Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit (Saffa), die 1958 in Zürich unter dem Motto der Partnerschaft stattfand, hielten spätere Kommentatorinnen für zu konfliktscheu; andere erkannten durchaus gewisse Zeichen der Auflockerung und des Aufbruchs.
Die Frauenorganisationen – stabilisierend und eigenständig
Die Tätigkeit der Frauenorganisationen war in eigener Art und Weise ein Spiegel wie auch ein Faktor der gesellschaftlichen Zustände und Entwicklungen. Gewissermassen stabilisierend war ihre Prägung durch bürgerliche Werte und engagierte Frauen aus bürgerlichem Milieu (Arbeiterinnen hatten separate Organisationen). Als «traditionell» galten die private Initiative und das freiwillige Engagement im sozialen Bereich sowie dessen Einstufung als spezielle Domäne der Frau. Auch die Förderung der Hauswirtschaft und der Fürsorge als Sache erlernten Wissens und Könnens bewegte sich im Rahmen gewohnter Geschlechterrollen. Gleichzeitig rückten Armut und andere Probleme der Gesellschaft in den bürgerlichen Blick. Die spezifische berufliche Qualifikation stärkte die Eigenständigkeit der Frauen. Auch die konkrete soziale Aktion der Vereine wurde teilweise als Beitrag zur Stärkung der gesellschaftlichen Stellung der Frauen verstanden. Und der organisatorische Zusammenschluss als solcher war eine Grundlage, um politische Forderungen aufzustellen und zu verfechten.
Die Zürcher Frauenzentrale, in der Liselotte Meyer-Fröhlich, seit 1964 im Vorstand, eine gesellschaftspolitische Heimat hatte, weist in ihrer Geschichte dieses breite Wirkungsspektrum auf. Die Basis des Verbands war denn auch heterogen und reichte (neben den Einzelmitgliedern) von karitativen Vereinen über die Bewegung gegen den Alkoholismus und konfessionelle Gruppierungen bis zu Berufsorganisationen, Parteigruppen und Stimmrechtsvereinen. Dementsprechend ergaben sich immer wieder Spannungen und Debatten. Nur scheinbar fern von der Politik war zum Beispiel die personell mit der Frauenzentrale verflochtene «Mütterhilfe», die seit den 1930er-Jahren schwangeren Frauen Beratung und Unterstützung bot. Die konkreten «fürsorgerischen» Aufgaben waren eng verbunden mit der umstrittenen Frage des Schwangerschaftsabbruchs und dessen gesetzlicher Regelung, ebenso mit dem Postulat der Beratung in «Familienplanung» oder Verhütung. In diesen Zusammenhang gehört auch das Mütter- und Säuglingsheim Inselhof. Aus der ursprünglichen Einrichtung für ledige Mütter wurde eine Maternité mit ganzheitlichem, auch sozialpädagogischem Angebot beim Triemlispital, deren Trägerverein Liselotte Meyer-Fröhlich von 1971 bis 1991 präsidierte (siehe die Beiträge von Franziska Frey-Wettstein und Isabelle Meier in diesem Buch).
Politische Gleichberechtigung – eine Dauerpendenz
Beim Frauenstimmrecht liessen Fortschritte auf sich warten. Schon die Bezeichnung des Themas mag heute problematisch erscheinen; denn geht man von den Menschenrechten aus, ist eher von der Beseitigung des Zustands zu reden, dass das allgemeine Stimm- und Wahlrecht der Hälfte der Bevölkerung vorenthalten wurde. Die realen Verhältnisse in der Arbeits- und Familienwelt prägten die Diskussionen und Denkweisen stark; zu Unrecht oder zu Recht befürchteten die Gegner der politischen Gleichberechtigung, es könnte auch die häusliche Ordnung ins Rutschen geraten. Lange hielten sich übrigens auch Vermutungen, die Frauen würden das politische Kräfteverhältnis Richtung links verändern. 1947 waren im Kanton Zürich zwei Vorlagen in Abstimmungen gescheitert. 1954 kam eine Initiative der (kommunistischen) Partei der Arbeit vor das Volk und stellte bürgerliche Befürworter und Befürworterinnen der Sache vor ein Dilemma. Die Frauenzentrale wandte sich gegen das Begehren, weil dessen Urheber versuchten, «unter dieser Tarnung für ihre unschweizerischen totalitären Ziele zu werben». Erboste Reaktionen der Stimmrechtsvereine liessen nicht auf sich warten. Taktisch und auch inhaltlich zeigten sich zwischen den Frauenorganisationen immer wieder Differenzen – was keineswegs überrascht. Vor der eidgenössischen Abstimmung von 1959 taten sich die Frauenrechtlerinnen in einer Arbeitsgemeinschaft zusammen, der sich namentlich auch der Katholische Frauenbund anschloss. Gleichzeitig formierten sich die Gegnerinnen, darunter der Gemeinnützige Frauenverein, die um die spezifische Rolle und den rechtlichen Schutz der Frau fürchteten. Von den bürgerlichen Parteien lehnte die BGB (heute: SVP) die Vorlage ab, während sich die Freisinnigen und die Konservativen zu keiner...