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E-Book

Politische Philosophie des Gemeinsinns

Ursprünge europäischen Denkens: Die griechische Antike

AutorOskar Negt
VerlagSteidl Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783958296879
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Es gab Zeiten, in denen Vorlesungen nicht schneller Wissensvermittlung dienten, sondern der öffentlichen Entwicklung eines Gedankens. Damit waren sie offen, lebendig und angreifbar. Als solch eigensinnige Unternehmungen sind die Vorlesungen Negts eine Erinnerung an ein zugrunde gegangenes Ideal akademischer Bildung und ein Dokument öffentlicher Wahrheitssuche in der Tradition der Aufklärung. Sie richten sich an alle, die bereit sind, den häufig anstrengenden, bisweilen aber auch heiteren Weg der Reflexion zu gehen. In seinen Vorlesungen aus dem Sommersemester 2001 verfolgt Negt die Anfänge des philosophischen Denkens in Europa bis in die Geografie der hellenischen Welt und bis in die Gestalten der griechischen Mythologie. Weder tritt er dabei mit einer monokausalen Erklärung für die Entstehung abendländischer Rationalität auf, noch ergeht er sich in graecophilen Hymnen auf den >abendländischen Geist<. Mit Bedacht lehnt sich Negt vielmehr an Max Webers Begriff der Konstellation an, in welche die Entstehung der Philosophie eingebettet ist: jene berühmte »Verkettung von Umständen«, die den abendländischen Prozess der Rationalisierung beflügelten.

Oskar Negt, geboren 1934, gilt als einer der bedeutendsten Sozialwissenschaftler Deutschlands. Er studierte bei Max Horkheimer, promovierte bei Theodor W. Adorno in Philosophie. Er legte zusätzlich sein Diplom in Soziologie ab. 1962 bis 1970 arbeitete er als Assistent von Jürgen Habermas. Von 1970 bis 2002 war Negt Professor für Soziologie in Hannover. Seine Schriften erschienen 2016 zusammengefasst in einer zwanzigbändigen Werkausgabe im Steidl Verlag. 2011 wurde Oskar Negt für sein politisches Engagement mit dem August-Bebel-Preis geehrt.

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Leseprobe

Heideggers Heraklit


Vorlesung vom 8. Mai 2001

Noch einmal möchte ich darauf abheben, dass wir uns in einer Art hermeneutischem Zirkel bewegen, wir also in dem Maße, wie wir die Vergangenheit oder Texte der Vergangenheit deuten und entschlüsseln, stets eigene Texte mit einbeziehen, sodass wir immer auch von erkenntnisleitenden Interessen ausgehen müssen, von dem, was wir wissen und deuten wollen. Eine objektive Deutung von Texten der Vergangenheit, zumal wenn sie Fragmente sind, ist demnach nicht zu erwarten und kann auch nicht geleistet werden. Sehr wohl kann man sich aber bewusst sein darüber, was in solchem Denken die Entwicklungsrichtung ist, die man selbst für richtig oder falsch hält.

Das Wort spricht uns also gleichsam aus der Wesensmitte an, und nicht wir benutzen das Wort, um die Wesensmitte von Dingen zu bestimmen. Das meint er mit diesem Hören, Zuhören: Das Wort soll sprechen, als ob es wirklich sprechen könnte, und darauf müssen wir uns vorbereiten. Das heißt, wir müssen zunächst eine Art Selbstreinigung in unserem Denken vollziehen, um die Worte aus ihrer Wesensmitte zu hören, und sie ansprechen. »Die Erläuterung der Bruchstücke muß, wenn sie eine denkende sein und so allein eine gemäße werden soll, nur darauf denken, dieses Zu-denkende zu erfahren.«38 Also Erfahrung, nicht Denken ist die Begegnung mit dem Wort. Man liest keinen einzigen Satz bei Heidegger, in dem nicht diese Kontroverse tobt zwischen Aufklärung und irgendetwas, was zurück, von der Aufklärung weg strebt.

Ob dieses glückt und inwieweit, das läßt sich weder vorher beweisen, noch nachher aus einem ›Erfolg‹ errechnen. Das läßt sich weder ›objektiv‹ feststellen, noch bleibt der Versuch nur ein ›subjektives‹ Unterfangen. Das Zu-denkende ist nichts ›Objektives‹; dies Denken ist nichts ›Subjektives‹. Die Unterscheidung von Subjekt und Objekt hat hier keine Stätte. Sie ist der Welt des Griechentums und zumal des anfänglichen Denkens fremd.39

Das ist eine sehr provokante Heidegger’sche These. Diese Trennung von Subjekt und Objekt, die laut Heidegger den griechischen Denkern fremd war, geht davon aus, dass gleichsam der Mensch als sprachliches Lebewesen, indem er denkt, immer schon von einem angedacht wird, das außerhalb von ihm liegt. Mit anderen Worten, das Denken selbst wird zu einer Tätigkeit im Objekt. Für einen Aufklärer ist das wirklich schrecklich. Denkt der Tisch? Da sagt Heidegger, das ist auch nicht das Sein oder das Seiende. Was denkt da? Wie ist die Sprache konstruiert, wenn sie etwas vom Menschen Unabhängiges ist? Wer spricht da? Dieses »Raunen des Seins«, wie er es einmal ausdrückt, das Sein in der Sprache, kommt hier zum Ausdruck, indem er sagt, die Vorsokratiker kennen die Trennung von Subjekt und Objekt gar nicht, dabei ist diese Trennung der entscheidende Schritt aus dem Mythos heraus. Heidegger behauptet also, die Vorsokratiker, jedenfalls Parmenides, Heraklit, Anaximander, spinnen am Mythos weiter. In der Tat nimmt Philosophie für Heidegger die Form des Erzählens an, des Sprechens der Mythen. Es geht ihm auch nicht um die Rekonstruktion der Philosophie Heraklits, sondern darum, zu erfahren, was durch die einzelnen Worte spricht. »Darum verlieren auch die eben nur gestreiften Fragen über die Möglichkeit und Unmöglichkeit der sachgemäßen Rekonstruktion der Schrift des Heraklit ihr Gewicht.«40 Bei Heidegger sprechen die Worte für sich und nicht die logischen Zusammenhänge, deshalb ist er nicht darum bemüht, die Texte von Heraklit zu rekonstruieren und zu interpretieren. Nur in zwei Fällen, wo es um Geschichten über Heraklit geht, benutzt er Sekundärtexte über ihn, sonst ausschließlich dessen Urtexte, als wären das keine menschengemachten Schriften. Als spräche hier in der Tat etwas zu uns, was außerhalb unserer Welt existiert, als spräche uns der Logos selbst an:

Zuletzt erkennen wir, daß es wohl gar ein Segen ist, wenn uns das Wort der anfänglichen Denker nur in Bruchstücken übergeben ist. So merken wir nämlich eher, daß es jedesmal von uns aus einer gemäßen Aufmerksamkeit bedarf; wogegen im vermeintlichen Glücksfall der unversehrten Erhaltung der anfänglichen Worte bei uns noch leichter und noch starrer der Eigensinn eines inzwischen weiter gekommenen Besserwissens sich festsetzen könnte. Darum bedarf es jetzt beim Abschluß dieser Vorbetrachtung auch keiner weitläufigen Versicherung darüber, daß wir uns nicht anmaßen, den ›einzig wahren Heraklit‹ für alle Zeiten vor Augen zu stellen. Es mag schon genug sein, wenn das Hinzeigen auf einen Weg zum Wort Heraklits einen Schimmer des Wahren, d.h. Aufhellenden, hat.41

Zentral ist hierbei, dass gleichsam etwas zu uns spricht, wir etwas sprechen lassen, indem wir Texte deuten. Diese hermeneutische Methode hat Heidegger bei seinem Lehrer Husserl gelernt, eine phänomenologische Methode. Dabei geht es darum, die Dinge in ihrem eidetischen Gehalt selbst zu ergründen, wie Husserl es genannt hat, also einen eidetischen Wahrheitsgehalt zu ergründen, einen Wahrheitsgehalt, der in den Begriffen selbst steckt. Seine Schüler schilderten, wie Husserl immer dastand und fragte: »Was ist der Wesensgehalt der Kategorie? Was ist der Wesensgehalt der Logik oder des Begriffs der Logik«, als läge in seiner Hand die Logik wie ein sichtbares Ding. Beschreiben wir das, was eine Kategorie ist, was Kausalität ist. Diese eidetische Konstruktion oder ideierende Abstraktion funktioniert, indem man den Dingen die raum-zeitlichen Koordinaten nimmt; so komme man auf das Wesen der Dinge. Demnach erhält, wer vom Tisch die raum-zeitlichen Beziehungen wegnimmt, die Tischheit oder etwas in der Art. Das gibt es im Mittelalter, die Tischheit, den Tisch als Wesen aller Tische. Diese eidetische Abstraktion spielt eine Rolle im Sinne der Resubstanzialisierung der Begriffe, die eigentlich Denkprodukte sind. Und die Resubstanzialisierung spielt auch bei Heideggers Deutung von Heraklit eine große Rolle.

[Physis] denken wir anfänglich nur, wenn wir sie als die Fügung denken«.42 Er arbeitet auch mit Wortanalogien, nicht mit Übersetzungen, sondern mit Wortanalogien, in denen Resubstanzialisierung stattfindet: »… die [Harmonia], die das Aufgehen zurückfügt in das bergende Verbergen und so das Aufgehen wesen läßt als das, was diesem bergenden Verbergen wesenhaft entstammt und deshalb gemäßer von uns das Entbergen genannt wird.«43 Das ist Heidegger! Einer der einflussreichsten Philosophen unseres Jahrhunderts, kein Spinner, der mit Worten spielt, sondern jemand, der ganze Generationen bis zum heutigen Tage tief beeinflusst hat. Er mag ein Dunkelmann gewesen sein, doch seine Denkgeschichte ist sehr einflussreich. Diese Deutung der Physis ist freilich auch eine Scheinrationalität; Heidegger hat das alles in Paragrafen aufgeschrieben. Paragrafenzeichen verwendet man an sich nur in juristischen Zusammenhängen, wo glasklar ist, was die Bestimmung ist. Heidegger wählt das Paragrafenzeichen, um gleichsam eine Form von Rationalität zu nehmen, die er gleichzeitig verachtet.

Die ist (aus ihrem bezughaften Wesen, nicht mehr als ein ›Relat‹ der ›Relation‹ gedacht) die Entfachung des Lichten, das Entflammen der Flamme. Wir müssen die als die Flamme und d.h. auch sogleich die Flamme aus der Wesensart der denken. Dann müssen wir aber für das Wort auch das entsprechende griechische Wort sagen. Es lautet , das Feuer. Heraklit gebraucht dieses Wort, und er gebraucht es als das Wort, das das Selbe nennt, was die sagt. Also müssen wir das Wesen des sogenannten Feuers hier, wo es ein Grundwort des Denkens ist, auch im Sinne des wesentlichen Denkens wesentlich denken und nicht nach einer beliebig zu einfindenden Ansicht.44

Physis ist aus ihrem bezughaften Wesen nicht mehr als ein Relat der Relation gedacht … Das ist ein Denken, das gleichsam aus dem Wesensbezug heraus denkt, indem es auf diese Worte eingeht, als wären es keine Begriffe. Wir werden im Zusammenhang mit der Kategorienlehre von Aristoteles noch sehen, dass alles, was definitorisches Verfahren ist, für Heidegger ein Verfall des Denkens ist. Das heißt, die begriffliche Schärfe vom Feuer wäre für ihn eine Verschleierung des Wesenszusammenhangs, in dem Feuer steht.

Gewiß nennt der Name unmittelbar im täglichen Sprachgebrauch das Feuer im Sinne des Opferfeuers, das Feuer des Scheiterhaufens, das Feuer als Wachfeuer, als Herdfeuer, aber auch den Schein der Fackeln, aber auch das Leuchten der Gestirne. […] Im ›Feuer‹ sind die Bezüge des Lichtenden, des Glühenden, des Lodernden und eine Weite Bildenden, aber auch des Verzehrenden, des in sich Zusammenschlagens und Zusammensinkens und Verschließens und Verlöschens wesentlich. Das Feuer flammt und ist im Entflammen die Scheidung zwischen dem Lichten und dem Dunklen; das Entflammen fügt das Lichte und das Dunkle gegen- und ineinander. Im Entflammen ereignet sich dasjenige, was das Auge in einem Blick faßt, das Augenblickliche, Einzige, das scheidend, entscheidend das Helle gegen das Dunkle abscheidet.45

Wenn man Heraklit so deutet, dann ist natürlich jeder Schritt über Heraklit hinaus ein Verlust dieses sprachlichen Denkens, ein Verlust des Denkens selbst. So sieht es Heidegger: Die Vorsokratiker selbst lichten gleichsam am deutlichsten das Sein. Sie sind in der Sprache, und die griechische Sprache ist jene Sprache des sich entbergenden Seins. Man muss bedenken, dass das 1943 vorgetragen wurde, eine Vorlesung vor Studierenden, wahrscheinlich auch...

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