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An einem heißen Sommertag vor vielen Jahren klafften zwischen mir und der Endlichkeit nur ein paar Meter. Ich folgte dem Mann, der die Asche meiner Mutter trug, die Urne mit beiden Händen fest umklammernd, als müsse er einen Seniorenteller servieren, bevor das Essen erkaltet. Ich, ihr Erstgeborener, ging hinter ihm. Sichtbar fällig qua Alter als nächster Kandidat für den Tod. Das ahnte ich zwar in dem Moment, verdrängte die Erkenntnis aber sofort. Der Satz im Totengebet des Pfarrers: … und besonders beten wir für den Menschen in unserer Mitte, der als Erster der Verstorbenen vor das Angesicht Gottes nachfolgen wird, er galt nicht nur mir. Der galt allen.
Unsere Schritte endeten an jenem Grab, in dem mein Vater lange schon schlief und auf meine Mutter wartete. Sie hatte ihn täglich besucht, wollte aber noch nicht für immer bei ihm bleiben. Falls nichts Ungewöhnliches passieren würde – Krebs, Autounfall, Herzschlag – und der Tod erst, wie es sich ziemt, am Ende und nicht gefühlt mitten im Leben zum letzten Tanz auffordert, müsste ich ihr erst dann folgen. Ob noch Jahre vergehen, bis es so weit sein wird, oder ob es nur noch einen Monat dauern oder ob schon morgen die Totenglocken für mich läuten würden, wusste ich damals natürlich nicht.
Jetzt weiß ich es. Werde jedoch nicht mehr erfahren, wer mir die sogenannte letzte Ehre erwiesen hat. Manche Begleiter auf dem Weg zum Grab oder meiner Asche raus aufs Meer hätte ich zu meinem Abschied wahrscheinlich nicht eingeladen. Denn nirgendwo, und das dürfte auch in meinem Fall so gewesen sein, wird so viel gelogen wie bei Bestattungen. Dem Kabarettisten Werner Finck fiel angesichts der noch einmal Davongekommenen mal der ziemlich gute Reim ein: Du stehst noch hier, / und ich bin hin. / Bald bist du dort, / wo ich schon bin.
Den notierte ich, wie vieles, was mir gefiel oder mich anregte, in die rote Kladde. In der war zum Beispiel auch Gottfried Benn verewigt. Gnadenlos hatte er einst den Lauf des Lebens als einzigen Endlauf beschrieben. Liebe als Himmelsmacht, stärker als jeder Tod, woran zu glauben ich nie aufgab, sei nur ein Wunschtraum der Liebenden. Was dagegen am Ende bleibe, verdichtete er in Nur zwei Dinge so:
Durch so viel Formen geschritten,
durch Ich und Wir und Du,
doch alles blieb erlitten
durch die ewige Frage: wozu?
Das ist eine Kinderfrage.
Dir wurde erst spät bewusst,
es gibt nur eines: ertrage
– ob Sinn, ob Sucht, ob Sage –
dein fernbestimmtes: Du musst.
Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.
Der selbst gewählte, selbstbestimmte Abschied aus der Welt per Selbstmord könnte so verstanden eine logische Konsequenz des gezeichneten Ichs sein.
Doch andererseits zu wissen, dass Rosen, Schnee, Meere symbolisch stehen für die normalen Stationen des Lebens, mal himmelhoch jauchzend, mal erdnah betrübt, bewirkt eine gelassene Sicht auf die Welt. Liebe und Tod inbegriffen. Auf meinem Grabstein darf deshalb stehen, entliehen einem Epitaph des Journalisten und Schriftstellers Arnfrid Astel, also in Wahrheit geklaut: Ich habe mein Leben verloren. Der glückliche Finder kann es behalten. Aber das ließe sich, falls nötig, noch ein wenig kürzen.
Wie sich zehn Jahre nach dem Tod meiner Mutter herausstellen sollte, hatte sich mein Untermieter damals bereits eine warme Höhle in meiner Bauchspeicheldrüse gesucht. Hatte sich von mir genährt, jedoch keinen Laut von sich gegeben und keinen Schmerz verursacht, um bloß nicht frühzeitig aufzufallen. Stattdessen auf den richtigen Moment gewartet, um aus seiner Kapsel auszubrechen und seine Botschafter, die Metastasen, in mir zu streuen. Ein weiterer Beweis für seine Heimtücke. Es gab keine Vorwarnungen, keine gar auf Krebs deutende Befindlichkeiten und deshalb keine Chance, den Tumor in einem frühen Stadium, möglicherweise sogar rechtzeitig, mein Leben erhaltend, zu morden.
Das Großhirn, mit dessen neuronalen Fähigkeiten ausgestattet alle Menschen sowohl abstrakt als auch bildlich denken könnten, falls sie nicht durch Castingshows der Aufgetakelten oder Dschungelcamps der Abgetakelten, durch die Prolo-Familie die Geissens oder den Prolo-König Barth, durch die schamlosen Lügen der Yellow Press oder durch grenzdebile Dreckschleudern im Internet schon rettungslos verblödet und verroht sind, sendet mitunter aus heiterem Himmel die Short Message Memento Mori: Auch DICH wird er eines Tages erwischen. Diese SMS wird aber nicht gespeichert, sondern sofort gelöscht.
Unbewusst vielleicht sogar verdrängt – aber das ist eine gewagte These – von einem Aberglauben aus der Kindheit, der sich ebenfalls dem Verstand entzog. Als Kinder haben wir, in die anbrechende Dämmerung lauschend, reimend gerufen: Kuckuck, Kuckuck, sag mir doch, wie viel Jahre leb ich noch?, denn laut Volksmund durften wir noch so viele Jahre leben, wie der Kuckuck rief. Bangend zählten wir mit, sieben, acht, neun. Das reichte uns. Die Zahl Neun war tröstlich, sie machte keine Angst, denn neun Jahre waren aus unserer kindlichen Perspektive eine beruhigende Ewigkeit entfernt.
Der Kuckuck flog anschließend davon in die Dunkelheit, um fremden Eltern seine Eier als Nesthocker unterzujubeln – Kuckuckskinder. Dass es die nicht nur in der Vogelwelt, sondern zahlreich auch unter Mitmenschen gibt, lernten wir nicht im Biologieunterricht. Das erfuhren wir erst viel später. Heute ließe sich zwar die Frage nach dem voraussichtlichen Lebensende jederzeit Siri stellen, dem digitalen Kuckuck. Doch erstens haben den Glauben ihrer Kindheit die meisten inzwischen Gealterten zum Glück überlebt, wissen also längst, dass sie nichts wissen können, und zweitens hat Siri eh keine Ahnung, was sie darauf antworten sollte.
Wenn man in denselben Stunden, an denselben Orten und unter denselben Umständen noch einmal erleben könnte, was man bereits erlebt hat, es aber viel besser erleben würde als beim ersten Mal, ohne die Fehler, Hindernisse und Leerläufe … das wäre so, wie ein Manuskript voller Streichungen ins Reine zu schreiben, las ich mal in Patrick Modianos Buch Schlafende Erinnerungen. Und weil mir diese Vorstellung gut gefiel, weil sie zudem passte zu meinem Beruf, hatte ich sie ebenfalls aufgeschrieben in jener roten Kladde, in der ich Zitate und Ideen sammelte – meine und die von anderen.
Einmal im Jahr, zwischen Weihnachten und Neujahr, schaute ich meine Notizen durch und strich, was mir keiner weiteren Gedanken mehr wert schien. Oder behielt, was mir wesentlich war. Modianos Satz löschte ich nie, weil er den menschlichen Was-wäre-wenn-Wunschtraum, sein Leben noch einmal leben zu dürfen und sich für einen anderen Weg als den begangenen entscheiden zu können, in Poesie verwandelt hatte. Darüber hatten vor ihm schon viele Dichter geschrieben, aber seine Zeilen passten jetzt auf meinen Zustand.
Das Bild vom Seniorenteller habe ich im Übrigen nicht zufällig gewählt. Weil der vorgesehene, dem Anlass entsprechende schwarze Leichenwagen nicht ansprang und weil der Mann mit der Asche meiner Mutter uns, ihre Kinder, ihre Schwester, ihre Enkel, ihre Nichten und Neffen und Freunde, nicht warten lassen wollte, hatte er kurz entschlossen für den Transport den Kombi bei einem dem Beerdigungsinstitut benachbarten Cateringservice ausgeliehen. Laut Werbung an dessen Seitentüren wurde Essen auf Rädern ausgeliefert. An Alte, an wen sonst.
In dem Kombi brachte er die Urne, in der meine Mutter ruhte, zum Friedhof. Wir fanden das nicht so lustig, doch sie hätte darüber gelacht. Sie liebte die heiteren Zufälle des Lebens. Obwohl es sie oft niedergeworfen hatte, rappelte sie sich immer wieder kurz vor dem K. o. auf. Samuel Becketts trotziges Motto zum Thema Scheitern: All of old. Nothing else ever. Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better, das passte zu ihr. Auch das steht in meinem Notizbuch.
Mein Leben nach ihrem Tod, dem sie sich kämpfend bis zum letzten Atemzug verweigert hatte, war bald wieder vom Alltag geprägt. Anfangs noch verbunden mit Schmerz und Trauer, wenn die oft gewählte Telefonnummer meiner Mutter automatisch eingegeben und, bevor es klingelte, wieder von mir weggedrückt wurde. Kein Anschluss mehr unter dieser Nummer. Dann erstarb auch diese Gewohnheit. Der Tod verlor seinen just erlebten Schrecken, war akzeptiert worden als ständiger Begleiter, aber mit zu mir ins Haus durfte er nicht, sondern musste gefälligst draußen vor der Tür warten. Schließlich ist das eigentliche Gottesgeschenk, das Gott in seiner Gnade auch Ungläubigen gewährt, dass die Irdischen nicht wissen, wann er sie ins Jenseits rufen wird. Man stirbt, wenn man halt stirbt.
Im Alter.
Ein Kinderglaube.
Im Adressbuch, der analogen Gedenktafel auf Papier, standen hinter Namen und Telefonnummern bis zu meinem vierzigsten Lebensjahr nur zwei oder drei kleine Kreuze, waren nur zwei oder drei Namen durchgestrichen. Jahr für Jahr wurden es mehr. Die Toten blieben von Lebenden eingebettet. Wer über ihnen im Register verzeichnet worden war, konnte nach wie vor persönlich erreicht werden, ebenso die unter ihnen notierten. Weil die Einträge bei der jährlichen Aktualisierung der A-Z-Listen nicht gelöscht wurden, sondern ihren einst im Alphabet zugewiesenen Platz behalten hatten, schien es, als würden sie...