|13|Vorwort zur 10. Auflage
Das Vorwort für ein Buch zu schreiben, das ich (Klaus Antons, nachfolgend abgekürzt mit KA) vor 47 Jahren verfasst habe und das seitdem mein Leben begleitet, ist nicht ganz einfach. Es ist durch neun Auflagen gelaufen, in fünf Sprachen übersetzt und so etwas wie ein Dauerbrenner geworden. Mein Dank gilt allen, die Übungen oder Papers beigesteuert haben, aber auch denen, die mich auf Fehler, Unzulänglichkeiten und Anachronismen aufmerksam gemacht haben. Inzwischen war es – in keineswegs allen Aspekten – von der Entwicklung überholt, durch Zusätze unübersichtlich geworden und bedurfte dringend einer Totalrevision. Sie wurde technisch möglich durch eine Digitalisierung des Lichtsatzes beim Verlag – bisher konnte ich nur vorne oder hinten etwas „anhängen“.
Ich staune nachhaltig darüber, dass dieses Werk, das ich im Alter von 29 Jahren verfasst – besser: kompiliert – habe, ein derartiger Renner geworden und geblieben ist. In der nachfolgenden Einleitung sei etwas differenzierter die überaus spannende und für die Entwicklung der Gruppendynamik im deutschsprachigen Raum nicht unerhebliche Rezeptionsgeschichte dieses Buches nachgezeichnet. Das Staunen bleibt – vermischt mit einer lange andauernden Beschämung (darüber, was so alles damit gemacht wird); Abwehr dagegen, zu einem Gruppendynamik-Papst hochstilisiert zu werden; aber auch Freude und Dankbarkeit über die zahllosen positiven Rezensionen und Rückmeldungen. Dieser Gefühlsmix bleibt bis zum heutigen Zeitpunkt, da sich für das Buch und die institutionalisierte Gruppendynamik in Deutschland das halbe Jahrhundert nähert.
Ein enormer Motivationsschub, mich an eine völlige Überarbeitung zu wagen, war die spontane Zusage zweier Freundinnen und Kolleginnen, daran mitzuwirken. Mit ihnen zusammen habe ich anderthalb Jahrzehnte lang instrumentierte gruppendynamische Trainings in der Schweiz durchgeführt. In dieser langjährigen und inspirierenden Zusammenarbeit mit Heidi Ehrensperger und Rita Milesi entstand eine Reihe von Übungen, die sich bewährt haben und die in diese Neuauflage eingehen. Dafür wurden einige, mit denen die „Praxis der Gruppendynamik“ heute nicht mehr befasst ist, herausgenommen.
Wir haben die ursprüngliche Aufteilung in zehn Kapitel wiederhergestellt und den Inhalt des 1992 hinzugefügten elften Kapitels in diese integriert – aber auch die Titel und Schwerpunkte der Kapitel verändert.
|14|Wir haben das Buch sprachlich angeglichen und dabei die heute gebräuchlich gewordenen Begrifflichkeiten der Gruppendynamik eingesetzt. Dabei ist viel sprachlicher Ballast entfallen. Viele Erläuterungen, Entschuldigungen und Rechtfertigungen waren nötig zu einer Zeit, als die Gruppendynamik meinte, sich als ernstzunehmende Methode der angewandten Sozialpsychologie legitimieren und entsprechend wissenschaftlich gebärden zu müssen. Die 45 Jahre seitdem zeigen, dass sie sich, in Übereinstimmung mit ihrem Begründer Kurt Lewin als eine überaus praktische Theorie erwiesen hat. Dennoch ist die Kleingruppenforschung, die in Deutschland am prägnantesten vom Münsteraner Psychologieprofessor Manfred Sader (u. a. 1976, 1991, 1995, 1996a, 1996b; s. a. Ardelt-Gattinger et al., 1998; König, 2001a) vertreten wurde, eine wichtige Basis für gruppendynamisches Handeln. Ihre US-amerikanischen Vorläufer finden sich in Standardwerken wie Benne, Bradford & Lippit (1950), Benne & Leavitt (1953), Bennis, Benne & Chin (1961/1975), Bradford, Gibb & Benne (1966/1972), Hare, Borgatta & Bales (1966), Homans (1950/1960, 1961/1966) und Miles (1964, 1965).
Den Begründer der Gruppendynamik, Kurt Lewin, haben wir wieder stärker ins Zentrum gestellt als er das bei den früheren Auflagen war. Seine für Sozialpsychologie, Gruppendynamik und Aktionsforschung bedeutenden Arbeiten auf der Basis seiner Feldtheorie (Lewin, 1946a, 1946b, 1953a, 1953b, 1963; Lewin & Lippitt, 1938; Lewin, Lippitt & White, 1939; s. a. Antons & Stützle-Hebel, 2015, dort eine ausführliche Bibliographie; Lück, 1996; Stützle-Hebel & Antons, 2017) sind für eine heutige Gruppendynamik wieder von Bedeutung.
Das Buch hat so etwas wie einen langsamen Paradigmenwechsel erfahren. Kontinuierliche Rückmeldung war, dass die damaligen „Papers“, die wir als Arbeitspapiere rückübersetzt haben, mindestens so hilfreich und praxisförderlich sind wie die Übungen und dass sie das Buch attraktiv machen: gruppendynamisches Wissen und Können in praxisbezogenen Portionen. Sie sind alle sprachlich überarbeitet und inhaltlich auf den Stand der Zeit gebracht. Dieser Paradigmenwechsel zeigt sich im veränderten Untertitel dieser Ausgabe: nicht mehr „Übungen und Techniken“, sondern „Übungen und Modelle“. Die „Techniken“ klingen eben sehr technisch – unser heutiges Verständnis ist, dass weniger die Techniken als die Person dessen, der sie anwendet, der wichtigere Erfolgsfaktor ist. Nach heutiger Sichtweise sind Übungen eine spezielle Form von Design und Intervention (Fengler, 1976, 1987; Götz-Marchand, 1976; Hornstein et al., 1971; Krainz & Paul-Horn, 2009; Milesi, 2006/2015; Rechtien, 1992/2007; Voigt & Antons, 1987) – auf diesen, 1973 noch nicht gedachten Zusammenhang wird in Kapitel 9 verwiesen. Manche neuen Übungen gehen von einem Konzept aus (z. B. der Gruppendynamische Raum), zu dessen Verständnis dann Übungen entwickelt wurden. – Einen Text von 1992 zur wechselvollen Rezeptionsgeschichte dieses Buches haben wir in die Einleitung als Abschnitt 2 aufgenommen.
|15|In der seit 1973 zunehmend sich professionalisierenden Gruppendynamik – die gesamte Diskussion sei hier nicht aufgenommen, sondern nur darauf verwiesen – schwankt heute die Stimmung zwischen der These des „Verschwindens der Gruppendynamik“ oder gar der Gruppe selbst (Edding & Kraus, 2006; König, 2007, 2011), mit einer zwar betrauerten, aber realistischen Einschätzung des Terrainverlustes, den unser Ansatz und unser Verfahren haben hinnehmen müssen – und einem gedämpften Optimismus, wie er vorwiegend von der österreichischen Seite (Heintel, 2008; Pichler, 2015; Wimmer, 1993, 2006) zu vernehmen ist. Hier wird darauf verwiesen, wie notwendig die Kenntnis und Beherrschung sogenannter Schlüsselqualifikationen ist: diejenigen sozialen Kompetenzen, die u. E. immer noch am besten zu trainieren sind in einem gruppendynamischen Training und auch mithilfe von Übungen, wie sie in diesem Buch beschrieben sind. Diese Ambivalenz in der Beurteilung der Situation verdanken wir vielleicht auch dem Begründer der Gruppendynamik, Kurt Lewin, der schließlich den Begriff der Ambivalenz hoffähig gemacht hat (vgl. Antons & Stützle-Hebel, 2015).
Die andere Seite des Erfolgs von Gruppendynamik zeigt sich weniger in den immer noch relativ konstanten Verkaufsziffern dieses Buches, sondern in folgender Betrachtung: Das, was 1973 unter „Gruppendynamik“ praktiziert und subsumiert wurde, hat sich inzwischen auf eine Vielzahl von Konzepten und Methoden ausdifferenziert. Damals vertrat oder „hütete“ diese erste der psychosozialen Wellen eine Vielzahl von Anliegen und Verfahren, die sich inzwischen verselbständigt haben, eigene Methoden und Techniken geworden und sich in entsprechenden Fach- und Berufsverbänden organisiert haben. Das hat immer wieder zu einem Substanzverlust in der verbandsmäßig organisierten Gruppendynamik geführt, spricht aber letztlich für deren langfristigen Erfolg, auch wenn wir uns deren Federn nicht selbst an den Hut stecken können. Es sind vor allem:
Supervision, Coaching, Beratung
Organisations- und Teamentwicklung
Erlebnis- und Outdoor-Pädagogik
Mediation
Planspielmethoden
Moderne Großgruppenmethoden
Familien- und Organisationsaufstellungen
Kommunikationstrainings
Lebens- und Karriereberatung
Visuelle Kommunikation
Moderationsmarkt
Diversity-Kompetenz
Weil diese zeitgenössischen Verfahren sich ihrer gruppendynamischen Wurzeln nicht mehr bewusst sind, werden wir an gegebenen Stellen darauf hinweisen. Un|16|sere Position ist also: Nicht die Gruppe oder die Gruppendynamik ist verschwunden, sie hat sich vielmehr in andere,...