Vorbemerkung des Herausgebers
Praxis und Theorie der Individualpsychologie (1. Auflage 1920) ist – nach Heilen und Bilden (1. Auflage 1914) – die zweite große Sammlung von Vorträgen, die Adler veröffentlichte, diesmal ohne Beiträge von Mitarbeitern. Die Entstehungszeiten sind gegenüber der ersten Sammlung nur wenig verschoben: Dort stammen die Beiträge aus den neun Jahren zwischen 1904 und 1913 (mit vereinzelten Nachträgen aus der Nachkriegszeit in den späteren Auflagen); in der hier erneut vorliegenden zweiten Sammlung sind Vorträge aus den elf Jahren zwischen 1909 und 1920 vereinigt. Beide Male macht sich die Zeit des Ersten Weltkriegs bemerkbar, in welcher Adler von seiner Tätigkeit als Truppenarzt offenbar voll in Anspruch genommen war. In der ersten Sammlung sind in den späteren Ausgaben die Jahre 1915 bis 1920, in der zweiten die Jahre 1915 bis 1917 unbesetzt.
In der früheren Sammlung kann man die allmähliche Klärung des theoretischen Standpunktes, die Einführung der Grundbegriffe und der als wesentlich betrachteten funktionalen Zusammenhänge verfolgen. Der (hier vorliegenden) späteren geht die Veröffentlichung des Hauptwerks Über den nervösen Charakter voraus. Der Begriffsapparat einer Sozial- oder Positionspsychologie der Entwicklung des normalen und des neurotischen Charakters sowie die Grundzüge einer Erziehung, durch die man charakterliche Fehlentwicklungen verhindern, und einer Psychotherapie, durch die man schon ausgebildeten Fehlhaltungen den Boden entziehen kann, liegen im großen fest.
Sinngemäß nehmen jetzt einen großen Teil des Textes Bemühungen ein, die Grundgedanken der Theorie auf die verschiedensten Sonderformen seelischer Störungen und charakterlicher Fehlhaltungen anzuwenden: Schlaflosigkeit, Hungerstreik, Zwangsneurose, Melancholie, Paranoia, Kriegsneurosen, Syphilidophobie, Trigeminusneuralgie, Verwahrlosung, Homosexualität, Prostitution und die Ablehnung des eigenen Geschlechts bei der Frau.
Daneben werden spezielle psychologische und charakterliche Erscheinungen eingehender behandelt, wie der Traum, die Halluzination, der Widerstand in der Behandlung, die Erscheinungen der »Distanz« und der »Lebenslüge« (ein Ausdruck, der hier zum erstenmal erscheint), und hypothetische Konstrukte wie das Unbewußte und die organischen Auslöser und Substrate neurotischer Erkrankungen.
Nicht zuletzt beschäftigt sich Adler mit dem Ausbau und der Präzisierung der aus seinem Grundansatz folgenden Anweisungen für den Erzieher und den Psychotherapeuten.
In zwei Beiträgen versucht er eine individualpsychologische Deutung schriftstellerischer Erzeugnisse, und zwar des Romanes Hofrat Eysenhardt von Alfred Berger und des Gesamtwerks von Dostojewski. In den Bemerkungen zu Dostojewski ist, wie mir scheint, überzeugend dargetan, daß der große Dichter mit künstlerischen Mitteln die Wechselbeziehungen zwischen Schicksal und Charakter in einer Weise schildert, die, in die Sprache der Wissenschaft übersetzt, den Überzeugungen, zu denen Adler gelangt war, erstaunlich nahe kommt. Diese Konvergenz ist um so bedeutsamer, als Dostojewskis Romane viel früher entstanden sind als Adlers Darstellung seiner Positionspsychologie – dies im Gegensatz zu der umfangreichen neueren Romanliteratur, in der versucht wird, aufgrund der Kenntnis Freudscher Ansätze menschliche Schicksale mit psychoanalytischen Mitteln zu deuten.
Auch der Beitrag über den Roman Hofrat Eysenhardt handelt von einem literarischen Vorläufer der Individualpsychologie. Der Held der Geschichte ist offenbar ein Mann, der tatsächlich um die Mitte des vorigen Jahrhunderts in Wien gelebt hat. Nicht nur in seiner Darstellung durch den Dichter, sondern auch in deren Würdigung durch Alfred Adler, ist aber die Grenze zwischen Tatsachenbericht und dichterischer Eingebung ständig so sehr verwischt, mit anderen Worten, der Leser wird über diese Grenzen so sehr im unklaren gelassen, daß er am Ende nicht weiß, ob die Gültigkeit der Grundthesen der Individualpsychologie an einem tatsächlichen Lebenslauf demonstriert werden soll, oder ob durch die Analyse eines Kunstwerks gezeigt werden soll, daß der Schriftsteller Berger die geheimen Zusammenhänge eines halb wirklichen, halb erdichteten Lebenslaufs im Sinne der Individualpsychologie dargestellt hat, ohne diese zu kennen.
Diese Zwielichtigkeit von Adlers Bemerkungen zu Bergers Roman ist geeignet, einen Leser, der Adlers Gedankenwelt erst kennenlernen will, in einem Maße zu verwirren, daß wir in der hier vorliegenden Neuausgabe auf ihren Abdruck verzichtet haben.
In den bisherigen Auflagen des Werks ist noch ein weiterer Beitrag enthalten, der einen Leser von 1974 nur verwirren und vom Wesentlichen ablenken kann. Es ist das Kapitel ›Myelodysplasie oder Organminderwertigkeit?‹, etwas unorganisch kurz vor dem Ende der Sammlung eingefügt, aber tatsächlich vor allen übrigen Beiträgen, im Jahre 1909, entstanden. Wie die Jahreszahl zeigt, handelt es sich um eine Arbeit aus der Zeit des pathologisch-anatomischen Zwischenspiels in der Entwicklung der Adlerschen Theorie, das mit der Studie über Minderwertigkeit von Organen 1907 beginnt, zu dem auch die beiden Beiträge ›Entwicklungsfehler des Kindes‹ und ›Über Vererbung von Krankheiten‹ gehören, die wir in unserer Neuausgabe von Heilen und Bilden ebenfalls nicht mit abgedruckt haben, und das mit dem Beitrag ›Myelodysplasie oder Organminderwertigkeit?‹ im Jahr 1909 im wesentlichen abgeschlossen zu sein scheint.
In Adlers Werdegang als Theoretiker der Persönlichkeitsentwicklung spielt dieser Exkurs ins Somatische eine bedeutende Rolle. Denn durch die pathologisch-anatomischen Ansätze wurde man in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit auf seinen Namen aufmerksam. Hiermit mag es zusammenhängen, daß Adler diesem Kind seines Geistes gegenüber bis zuletzt Gefühle väterlicher Zuneigung bewahrte, auch nachdem es ihm längst klar geworden war, daß Organminderwertigkeiten bei der Entwicklung von Minderwertigkeitsgefühlen und bei der Entstehung der neurotischen Formen des gesuchten Ausgleichs nur eine auslösende und allenfalls verstärkende Wirkung haben, daß sie zu der Ableitung einer Systematik der verschiedenen Neuroseformen aber nicht geeignet sind. Jedenfalls steht fest, daß in den späteren Falldarstellungen Adlers die besondere Art der Organminderwertigkeiten keine mit den Besonderheiten der Position in der Familie auch nur entfernt vergleichbare Rolle spielt.
Um den Leser nicht nachträglich auf Wege zu locken, die längst als Holzwege erwiesen sind, wurde auf eine Aufnahme auch dieses Aufsatzes in die vorliegende Neuausgabe verzichtet.
Ohnehin findet sich in einem Aufsatz von 1912 noch mindestens eine bemerkenswerte Nachwirkung der pathologisch-anatomischen Phase, ein Versuch, gewisse neurotische Erscheinungen, etwa das Ausweichen in das »Als-Ob« nicht aus der Dynamik der Leitlinien, aus der Spannung zwischen allzu hoch gesteckten Zielen und übertriebenen Sicherungstendenzen zu verstehen, sondern aus der verhältnismäßigen Leistungsfähigkeit und infolgedessen wechselnden Vorherrschaft antagonistischer »psychischer Apparate« (oder gar »Bahnen«). In der Abhandlung ›Über männliche Einstellung bei weiblichen Neurotikern‹ (1911) ist auf Seite 142 f dieser Sammlung die Rede von der Wechselwirkung zwischen einem »fingierenden Apparat« und einem »korrigierenden Apparat«. Auf der Funktionstüchtigkeit des letzteren beruht danach das Gefühl der »Verpflichtung zur Logik« und die Fähigkeit, sich »vernünftig« zu benehmen. Eine »Korrelationsschwäche der korrigierenden Bahnen«, das heißt eine verhältnismäßige Minderwertigkeit des korrigierenden Apparats, die seine Kompensationsfähigkeit noch weiter herabsetzt, oder auch »stärkere Leistungen« des »fingierenden Apparats« dagegen sollen der Psychose, der Schizophrenie zugrunde liegen.
Es scheint mir bedeutsam, daß diese Gedankengänge noch aus der Zeit vor der Trennung von Freud (und vor der Niederschrift des Hauptwerks Über den nervösen Charakter stammen. Der »korrigierende Apparat« Adlers hat alle Merkmale des Freudschen »Realitätsprinzips« und ist zweifellos mit diesem identisch. Dagegen enthält, soweit ich sehen kann, die Theorie Freuds kein Gegenstück zu Adlers »fingierendem Apparat«. Übrigens findet sich in Adlers späteren Schriften keine Fortentwicklung dieses Ansatzes. Das ist verständlich; denn verschiedene einander ausschließende oder miteinander unverträgliche Verhaltensweisen einer Mehrzahl von seelischen Apparaten zuzuschreiben, widerspricht dem Adlerschen Grundansatz, nach welchem die Person gerade nicht als eine Art Bühne verstanden werden soll, auf der verschiedene »Instanzen« gegeneinander kämpfen. Sein Ansatz kennt vielmehr nur einen einzigen Akteur, das – »ungeteilte« – Individuum, das leider die im Grenzfall krankmachende Fähigkeit besitzt, Verschiedenes und sogar Widersprüchliches gleichzeitig zu wollen. Es liegt also in der Konsequenz seines Ansatzes selbst, daß das Denken in Apparaten auch im einzelnen mehr und mehr durch echt dynamische Annahmen abgelöst wird.
Aufgrund von Erfolgen der Erziehung und der Psychotherapie erheben sich Zweifel sogar an der Bedeutsamkeit der körperlichen Grundlagen von Störungen wie dem Einnässen. Ob ein Kind nach dem dritten Lebensjahr...