2Novellierung des Maßregelrechts – Auswirkungen auf die Rehabilitation
Matthias Koller
2.1Der Idealfall
Idealtypisch gelingt es im Verlauf der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, eine stabile Behandlungsbeziehung mit dem Untergebrachten aufzubauen und auf dieser Grundlage seine psychische Störung oder jedenfalls deren Symptome zu bessern und dadurch seine Gefährlichkeit nachhaltig zu vermindern. Den Schlusspunkt stellen dann die Erarbeitung und Erprobung eines von dem Untergebrachten aktiv mitgestalteten sozialen Empfangsraums dar, der es einerseits ermöglicht, die Entwicklung des Untergebrachten auch über das Ende der Unterbringung hinaus begleitend zu beobachten, der vor allem aber stützende und stabilisierende Strukturen bereithält, die dem Untergebrachten helfen, auch nach der Entlassung aus dem stationären Maßregelvollzug psychisch stabil und straffrei zu bleiben. Sind diese Bedingungen erfüllt, wird es in aller Regel nicht schwerfallen, die ungünstige Gefährlichkeitsprognose, die in dem Urteil mit der Anordnung der Unterbringung aufgestellt worden war, zu entkräften und die Erwartung zu belegen, dass der Untergebrachte außerhalb des Maßregelvollzugs keine erheblichen rechtswidrigen Taten mehr begehen wird. Ist das der Fall, kann seine Unterbringung gemäß § 67d Abs. 2 Satz 1 StGB zur Bewährung ausgesetzt und außerhalb der Unterbringung erprobt werden, ob der (bisher) Untergebrachte die Angebote des während der Unterbringung erarbeiteten Empfangsraums tatsächlich nutzt, davon profitiert und psychisch stabil und straffrei bleibt – sich also bewährt. Gelingt dies nicht, bietet die Bewährungszeit mit ihren Rechtsregeln verschiedene Möglichkeiten der „Nachjustierung“, die von veränderten Weisungen (z. B. in Bezug auf die Kontakthaltung zur forensischen Ambulanz, die ambulante therapeutische Nachsorge oder die Wohn- und Arbeitssituation) über eine befristete stationäre Krisenintervention (§ 67h StGB) bis hin zum Widerruf der Aussetzung der Maßregel zur Bewährung (§ 67g StGB) führt, weil sich der Untergebrachte unter den ambulanten Bedingungen noch nicht bewährt hat.
2.1.1Einflussfaktor Recht
Der in Abschnitt 2.1 skizzierte idealtypische Verlauf orientiert sich in erster Linie am Behandlungsaspekt. Da die Unterbringung im Maßregelvollzug in einem vorgegebenen rechtlichen Rahmen stattfindet, spielen allerdings auch rechtliche Gesichtspunkte eine gewichtige Rolle. Das Recht bestimmt das Ziel der Behandlung: Der Erfolg der Maßregelunterbringung wird nicht an dem Maß der gesundheitlichen Stabilisierung des Untergebrachten, sondern an dem Grad der Abnahme seiner (strafrechtlichen) Gefährlichkeit gemessen; er erhält eine Bewährungschance, wenn er nicht mehr gefährlich erscheint (§ 67d Abs. 2 Satz 1 StGB). Das Recht beschreibt vor allem aber auch die – unter anderem zeitlichen – Grenzen der Unterbringung. Schon 1985 hat das Bundesverfassungsgericht die entscheidenden Grundsätze in einem Leitsatz zusammengefasst:
„Der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beherrscht Anordnung und Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Das hieraus sich ergebende Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsanspruch des betroffenen Einzelnen und dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit vor zu erwartenden erheblichen Rechtsgutverletzungen verlangt nach gerechtem und vertretbarem Ausgleich. Je länger die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus andauert, umso strenger werden die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit des Freiheitsentzuges sein.“ (BVerfG, Urteil vom 08. 10. 1985 – 2 BvR 1150/80, BVerfGE 70, 297 – 323; dejure.org., 2017).
2.1.2Einflussfaktor Öffentlichkeit
Mehr als 30 Jahre später hat der Gesetzgeber diese verfassungsrechtliche Vorgabe mit dem am 01. 08. 2016 in Kraft getretenen „Gesetz zur Novellierung des Rechts der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 des Strafgesetzbuches und zur Änderung anderer Vorschriften“ vom 08. 07. 2016 (BGBl. 2016, Teil I Nr. 34, S. 1610, Bundesanzeiger Verlag, 2016) näher konkretisiert. Anlass für die Erarbeitung der Gesetzesnovelle gaben einerseits der in den vergangenen Jahren beobachtete kontinuierliche Anstieg der Zahl der nach § 63 StGB untergebrachten Personen und insbesondere der „deutliche Anstieg der durchschnittlichen Unterbringungsdauern, ohne dass es konkrete Belege für einen parallelen Anstieg der Gefährlichkeit der Untergebrachten gibt“ (Bundestags-Drucksache 18/7244, Deutscher Bundestag, 2016). Außerdem hatte das Bundesverfassungsgericht in einer ganzen Reihe von jüngeren Entscheidungen eine striktere Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und seiner bereits 1985 dazu entwickelten Grundsätze angemahnt. Gleichzeitig hatten aktuelle Einzelfälle eine breite öffentliche Diskussion darüber ausgelöst, „inwieweit das Recht der Unterbringung nach § 63 StGB einer stärkeren Ausrichtung am verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bedarf“ (a. a. O.). Auf das Verdikt der Untherapierbarkeit und vom „Wegschließen – und zwar für immer“, mit dem der früheren Bundeskanzler Schröder in der „Bild am Sonntag“ vom 08. 07. 2001 insbesondere Sexualstraftäter belegt hatte, war eine Beschreibung des psychiatrischen Maßregelvollzugs als „Dunkelkammern des Rechts“ gefolgt, die „das Grundvertrauen in den Staat“ beschädigten und „nach grundlegenden Reformen [rufen]“ (Heribert Prantl, Süddeutsche Zeitung vom 10. 06. 2013).
2.1.3Der Maßregelvollzug: kalt erwischt
Obwohl die (verfassungs-)rechtlichen Grundsätze seit jeher Geltung beanspruchten, hat ihre gesetzliche Konkretisierung durch die Novelle vom 08. 06. 2016 die Praxis „kalt erwischt“ und jedenfalls Auswirkungen auf die praktische Arbeit im Maßregelvollzug – und in der forensischen Nachsorge. Denn die Novelle beschränkt sich nicht darauf, die Voraussetzungen für die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB und namentlich das Kriterium der drohenden „erheblichen rechtswidrigen Taten“ zu präzisieren. In ihren praktischen Auswirkungen wesentlich wichtiger erscheinen vielmehr die neuen Vorgaben zur Beendigung der Unterbringung. Erhebliche praktische Auswirkungen haben auch die Veränderungen im Verfahrensrecht. Der novellierte § 463 Abs. 4 StPO gibt für die Zeit der Unterbringung einen künftig deutlich engeren Begutachtungstakt und erhöhte Anforderungen an die Gutachterauswahl vor.
2.1.4Das Dreigestirn: Zeit – Deliktschwere – Prognoselast
Schon seit 2007 sah § 67d Abs. 6 StGB ausdrücklich die Möglichkeit vor, die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus für erledigt zu erklären, wenn „die weitere Vollstreckung der Unterbringung unverhältnismäßig wäre“. Die Novelle konkretisiert den Verhältnismäßigkeitsmaßstab mit den neuen Sätzen 2 und 3 des § 67d Abs. 6 StGB jetzt auf dreifache Weise:
1.Sie zieht zwei Zeitschwellen – nach 6 Jahren und nach 10 Jahren vollzogener Unterbringung – ein, von denen an die Unverhältnismäßigkeit der weiteren Unterbringung gesetzlich vermutet wird, wenn nicht ausnahmsweise die besondere Gefährlichkeit des Untergebrachten den weiteren Freiheitsentzug rechtfertigt.
2.Sie beschränkt mit zunehmendem Zeitablauf den Kreis der prognoserelevanten Taten. Während die Unterbringung (bei Vorliegen auch der weiteren Voraussetzungen) anzuordnen ist, wenn von dem Untergebrachten „erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, zu erwarten sind“ (§ 63 StGB), darf sie über 6 Jahre hinaus nicht fortgesetzt werden, wenn nur Rückfalltaten drohen, durch die erheblicher wirtschaftlicher Schaden angerichtet würde. Erforderlich ist jetzt vielmehr die Gefahr von „erheblichen rechtswidrigen Taten […], durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden oder in die Gefahr einer schweren körperlichen oder seelischen Schädigung gebracht werden“ (§ 67d Abs. 6 Satz 2 StGB). Und an der Zehn-Jahres-Schwelle reichen auch Gefährdungsdelikte, wie etwa die besonders schwere Brandstiftung, nicht mehr aus; über 10 Jahre hinaus darf die Unterbringung nämlich nur fortdauern, wenn im Falle der Entlassung erhebliche Taten drohen, „durch welche die Opfer körperlich oder seelisch schwer geschädigt werden“ (§ 67d Abs. 6 Satz 3 i. V. m. § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB), also Tötungs-, schwere Körperverletzungs- oder gravierende Sexualdelikte.
3.Schließlich kehrt die Novelle ab der ersten Zeitschwelle die Prognoselast um: Während bis dahin der Grundsatz „im Zweifel für die Sicherheit“ gilt und die weitere Unterbringung nur zur Bewährung ausgesetzt werden kann, wenn sich die anfänglich ungünstige Prognose nachweislich wesentlich verbessert hat und der Untergebrachte deshalb nicht mehr gefährlich ist, darf die Unterbringung über 6 bzw. 10 Jahre hinaus nur noch fortdauern, wenn dem Untergebrachten mit tragfähigen Gründen weiterhin eine besonders ungünstige Gefährlichkeitsprognose zu stellen ist. Ab der...