Zu diesem Buch
Joachim König
Forschung in der Praxis der Sozialen Arbeit, im Alltag der stationären Jugendhilfe, an einem Vormittag in einer Kita oder mit Blick auf die Beratungsgespräche in einer Schwangerenkonfliktberatungsstelle – diesem spannenden Unternehmen widmet sich dieses Buch. Forschung wird aus sozialwissenschaftlicher Sicht üblicherweise und inzwischen sehr übereinstimmend definiert als die systematische, regelgeleitete, wissenschaftlich begründete Suche nach Erkenntnissen, Lösungen und Antworten auf Fragen in allen Bereichen gesellschaftlichen Lebens und deren anschließende Berichtlegung und Veröffentlichung.
Eigentlich geht es demnach um nichts anderes als um den Versuch, die Realität – in unserem Fall die Praxis der Jugendhilfe, Vorschulerziehung, Beratung oder eines der anderen Felder der Sozialen Arbeit – genau zu erfassen und daraus Schlüsse, neue Erkenntnisse zu ziehen. Gemeint ist also im Grunde das systematische Beschreiben und Bewerten solcher Wirklichkeiten, wie wir sie – z. B. eben in der Praxis der Sozialen Arbeit – erfahren, mit dem Ziel, mehr Wissen über sie zu erlangen und aus diesem Wissen Konsequenzen ziehen zu können, die für diese Praxis oder auch über sie hinaus von Bedeutung sind. Konkret könnte das so aussehen:
Praxisbeispiel
In einer seit vielen Jahren fest etablierten Einrichtung der stationären Jugendhilfe treffen die Leitungsverantwortlichen eine Entscheidung: Alle Einzel- und Gruppenberatungsangebote sollen auf den konzeptionellen Prüfstand gestellt werden. Neben dem Interesse, in diesem Bereich zu prüfen, ob die langjährig eingesetzten Angebote und Methoden noch zeitgemäß und mit Blick auf die Zielgruppe effizient erscheinen, steckt ein zweites Interesse hinter dieser Entscheidung: Gegenüber dem Kostenträger wird gleichzeitig versucht, Gestaltungswillen und Zukunftsfähigkeit zum Ausdruck zu bringen, weil auf Landesebene über die Schließung einzelner kleinerer Einrichtungen zu Gunsten von größeren Zentren diskutiert worden ist.
Um konkrete Anhaltspunkte für die Prüfung der Angebote und ihre Neukonzeption zu erhalten, plant ein »Konzeptions-Team« (für die vier Mitglieder aus den verschiedenen Wohngruppen werden drei Stunden Zeitentlastung je Woche für zunächst ein halbes Jahr gewährt) eine Befragung unter den 50 BewohnerInnen und den 20 MitarbeiterInnen. Gegenstand der Untersuchung soll einerseits die Einschätzung der Wirkung der insgesamt 20 verschiedenen Einzelangebote und andererseits die Zufriedenheit der Jugendlichen sein, jeweils aus der Perspektive beider Seiten, also aus Sicht der KollegInnen und aus Sicht der BewohnerInnen.
Vor dem Hintergrund solcher Situationen entstehen typischerweise Praxisforschungsprojekte, völlig unabhängig zunächst von ihrem Umfang, vom Aufwand, der dabei betrieben wird, und auch zunächst unabhängig von der Frage, wer in solchen Situationen forscht. Ob es also die Fachkräfte selbst sind, die sich an die Untersuchung ihrer Praxis machen, ob ForscherInnen »von außen« dazu beauftragt werden oder ob es sich um einen Ansatz handelt, bei dem gemeinsam und in enger Abstimmung Praxisforschung geplant und durchgeführt wird.
Praxisforschung in der Sozialen Arbeit ist also nichts anderes als eine bestimmte Form der Forschung, bei der »in unterschiedlich intensiver Kooperation mit den PraktikerInnen sozialpädagogische Projekte [besser: Praxis, Anm. d. Verf.] dokumentiert, analysiert, evaluiert, beraten und weiterentwickelt werden« (Munsch 2012, S. 1177) – letztlich also der ambitionierte Versuch, sowohl Theorie und Praxis als auch Forschen und Handeln in der Sozialen Arbeit systematisch und regelgeleitet miteinander zu verbinden.
In diesem Buch werden nun sowohl die Logik des Verlaufs als auch die einzelnen methodischen Schritte beschrieben und erklärt, die sich in der Praxisforschung systematisch immer wieder finden. Deshalb ist dieses Buch in erster Linie für Fachkräfte und für Studierende geschrieben, denen es um die systematische Untersuchung der Sozialen Arbeit in kleinen Ausschnitten, um ihre eigenen methodischen Möglichkeiten dabei und um die Frage nach den Grenzen solcher Strategien geht.
Das Buch ist gedacht als Lernhilfe und Arbeitsgrundlage für alle, die über ihre Bemühungen in der Praxis selbst hinaus auch am Erwerb von belastbarem Wissen über diese Praxis interessiert sind:
• für alle, die nach Möglichkeiten suchen, ihre eigene Praxis einer systematischen Beschreibung und Bewertung zu unterziehen;
• für alle, die Kriterien für Entscheidungen brauchen, ob und unter welchen Bedingungen Maßnahmen und Veränderungen in der Praxis sinnvoll und Erfolg versprechend erscheinen;
• für alle, die eine Grundlage für die Planung und Durchführung eines eigenen kleinen Praxisforschungsprojektes suchen;
• für alle, die methodische Fragen innerhalb eines bereits laufenden Forschungsprozesses klären wollen.
W-Fragen als Grundstrategie
Diesem Vorhaben liegt interessanterweise immer eine – ganz einfache – Grundstrategie und Logik zugrunde. Ein roter Faden, der sich deshalb auch durch das Buch zieht und in Verbindung mit den vorgestellten Methoden in der Lage ist, ein so komplexes und differenziertes Feld wie das der Sozialen Arbeit zu erschließen: W-Fragen. Kinder machen das so. Meine Kinder haben mich, als sie noch klein waren, darauf gebracht, indem sie viele Jahren mit großer Ausdauer immer und immer wieder Fragen gestellt haben, und zwar einen ganz bestimmten Typ von Fragen: »Warum ist das so?« – »Wie geht das?« – »Wann machen wir das?« – »Wo geht’s denn da hin?« – »Wozu brauchst Du das?« und so weiter. Wir alle kennen diese berühmten W-Fragen. Sie helfen uns – ausformuliert oder nur gedacht – bei der Erschließung der Welt, beim Kennenlernen und Verstehen von komplizierten und unübersichtlichen Gebieten, in denen wir uns noch nicht auskennen. Ein vierjähriges Kind stellt im Schnitt 300 bis 400 solcher Fragen jeden Tag!
Schon seit der Antike spielen diese Fragen auch in der Philosophie eine entscheidende methodische Rolle: Seit Aristoteles nämlich gelten W-Fragen als der entscheidende philosophische Zugang zur Ergründung komplizierter und zunächst vielleicht undurchschaubarer Zusammenhänge und Phänomene. Auf der Suche nach Begründungen und Erklärungen für bisher Unbekanntes gilt dessen Erschließung durch das Stellen und die Versuche der anschließenden Beantwortung von W-Fragen als zentrales Grundprinzip (vgl. z. B. Wolf 1994 zu Aristoteles).
Darum geht es in diesem Band
Die Praxis der Forschung in der Praxis der Sozialen Arbeit – wie geht das? Darauf will dieses Buch eine möglichst verständliche und nachvollziehbare Antwort geben. Eigentlich geht es der Praxisforschung um nichts anderes als um den Versuch, die alltägliche Realität in den Feldern der Sozialen Arbeit genau zu erfassen und daraus Schlüsse und neue Erkenntnisse zu ziehen. Ziel der Forschung ist also im Grunde das systematische Beschreiben und Bewerten solcher Wirklichkeiten, wie wir sie in der Praxis der Sozialen Arbeit erfahren, mit dem Ziel, mehr Wissen über sie zu erlangen und aus diesem Wissen Konsequenzen ziehen zu können, die für diese Praxis oder über sie hinaus von Bedeutung sind.
Und genau das wird auch immer wichtiger, denn Forschung gewinnt nicht nur in der Theoriebildung, sondern vor allem auch in der Praxis der Sozialen Arbeit zunehmend an Bedeutung. Dem Alltagsgeschäft der Fachkräfte und auch den verschiedenen Zielgruppen angemessene Designs und passgenaue Forschungsmethoden sind inzwischen in der Lage, belastbare Befunde zu generieren, die dann der Kontrolle, der Weiterentwicklung oder auch der Legitimierung der Praxis in den verschiedenen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit dienen und darüber hinaus den Diskurs der Sozialarbeitswissenschaften unterstützen können.
Deshalb beschreibt dieses Buch systematisch und theoretisch begründet konkretes Handlungswissen für die Praxisforschung, stets anhand von Beispielen aus Kitas, der Jugendhilfe, der Jugendsozialarbeit, der Sucht- und Straffälligenhilfe, der Beratung und vielen anderen Feldern der Sozialen Arbeit. Im Zentrum steht dabei ein an zwölf Arbeitsschritten orientiertes Verlaufsschema eines Praxisforschungsprozesses, das der Orientierung, Vorbereitung, Planung und Durchführung eigener Ansätze dienen kann.
Gedacht ist der Band daher nicht nur als Lehrbuch für Studierende, sondern auch als Arbeitshilfe und Nachschlagewerk für Fachkräfte, die sich als Forscherinnen und Forscher in eigener Sache verstehen. Ein Buch also,...