I Fachbegriffe für die Priesterinnen, Seherinnen und Zauberinnen
Die grundlegenden Ansichten der Germanen über ihre Priesterinnen lassen sich bereits aus den mit ihnen assoziierten Fachbegriffen erkennen.
I 1. Die Bezeichnungen für die Priesterinnen
Es gab im Altnordischen und auch in den anderen germanischen Sprachen eine ganze Reihe von verschiedenen Bezeichnungen für die Priester und die Priesterinnen.
I 1. a) „gode/gydja“
Die wichtigste Bezeichnung für die Priester war „gode“ und für die Priesterinnen die entsprechende weibliche Form „gydja“.
Die dem zugrundeliegende germanische Form lautet „gudo, gudjon“. Dies ist eine Bildung zu „guda“ für „Angerufener, Gott“. Ein „gudo“ ist somit ein Anrufungspriester, wobei dieselben Worte auch für die Priesterinnen benutzt wurden. Mit „gudo“ ist das Adjektiv „gud“, das der Vorläufer des heutigen deutschen „gut“ ist, eng verwandt. Allerdings hat sich nicht das Wort „Gott“ aus „gut“ heraus entwickelt, sondern umgekehrt.
Der indogermanische Ursprung dieses Wortes lautete „ghuto“ für „angerufen“, was eine Bildung zu „ghau“ für „rufen“ ist.
Das wesentliche Motiv in den germanischen Bezeichnungen für die Priester und Priesterinnen ist also deren Tätigkeit der Anrufung der Götter.
Das altnordische Worte „gydja“ für „Priesterin“ findet sich auch in den Zusammensetzungen „hof-gydja“ für „Tempel-Priesterin“ und „blot-gydja“ für „Blutopfer-Priesterin“.
Auch die Bezeichnung für das Priesteramt selber leitete sich von dieser Wortwurzel ab und lautete im Altnordischen „godord“.
I. 1. b) „diar“
Das Substantiv „diar“ („Priester“) ist eng mit dem lateinischen „deus“ („Gott“) und mit dem Namen „Tyr“ des ehemaligen germanischen Göttervaters verwandt (indogermanisch: „dhyaus“, griechisch: „Zeus“, indisch: „deva“ usw.).
Dieser Begriff bedeutet demnach „der zu Tyr gehörige“ im Sinne von „Tyr-Priester“.
Die dazugehörige weibliche Form lautet „Dise“. Sie wird jedoch nur selten für die Priesterin, sondern fast immer für eine Göttin verwendet.
I 1. c) „ve“
Die Bezeichnung „ve“ für „Priester, Priesterin“ bedeutet wörtlich „Geweihte(r/s)“. Da sich diese Bezeichnung vor allem in Personen- und Ortsnamen finden, scheint sie zur Zeit der schriftlichen Überlieferung der Nordgermanen bereits unüblich geworden zu sein. Im Angelsächsischen hat sich diese Bezeichnung jedoch in dem Substantiv „wicca“ erhalten können, aus dem dann das englische „witch“ („Hexe“) wurde.
Dieses Wort findet sich auch schon im Germanischen als „wiho“ für „Geweihte(r), Priester(in)“. Nah damit verwandt ist das Substantiv „weitago(n)“ für „Seher(in)“.
Die Wurzel dieser Priester-Bezeichnungen ist das indogermanische Verb „ueik“ für „aussondern, weihen“.
I 1. d) „blot-kona“
Diese Priesterinnen-Bezeichnung ist ein Variante der „blot-gydja“ („Blutopfer-Priesterin“) und bedeutet „Blutopfer-Frau“.
I 1. e) „kennimadr“
Ein „kenni-madr“ ist ein „kundiger Mann“. Dieser Begriff wurde für Priester und Zauberer verwendet.
Es wäre denkbar, daß es auch eine weibliche Version dieser Bezeichnung gegeben hat, die dann in etwa „kenni-kona“ hätte lauten müssen.
I 1. f) „gisl“
Die sehr häufige Verwendung des Wortes „gisl“ in den germanischen Personennamen läßt vermuten, daß damit nicht nur „Geisel“ gemeint sein kann. „Gisl“ hatte auch die Bedeutung „Nachkomme“, aber es wäre auch denkbar, daß ein „gisl“ die „Geisel einer Gottheit“, also eine dieser Gottheit geweihte Person gewesen ist.
Diese Deutung der mit „gisl“ gebildeten Personennamen ist jedoch unsicher.
I 1. g) „drottningar“
Ein „drott“ ist ein Hausmitbewohner, ein Sippenmitglied, das Heer, ein Anführer, der Herr, der Meister, der König und Gott. Diese Bezeichnung eines Priesters ist also vor allem eine ehrerbietige Anrede – so ähnlich wie das christliche „Hochwürden“.
Eine „drottningar“ ist eine Herrin, Königstochter oder Königin – möglicherweise wurden auch Priesterinnen so angeredet, auch wenn dies nicht überliefert ist.
I 2. Die Bezeichnungen für die Seherinnen und die weisen Frauen
Die Seherin läßt sich meistens nicht von der weisen Frau unterscheiden – auch die Abgrenzung zur Priesterin und zur Zauberin ist schwierig, da es sich letztlich um dieselben Personen handelt, die lediglich einen verschiedenen Aspekt ihres Berufes ausüben – oder aus einer unterschiedlichen Perspektive gesehen werden.
I 2. a) „visinda-kona“
Dieser Name bedeutet „Weisheits-Frau“, also „weise Frau“, womit in der Regel Seherinnen bezeichnet werden.
I 2. b) Völva / Wala
Diese beiden Namen sind sprachliche Varianten desselben Substantives, der „Stab-Frau“, d.h. „Stab-Trägerin“ bedeutet. Der Stab als Symbol des Weltenbaumes, der Diesseits und Jenseits verbindet, war eines der Abzeichen der Seherinnen.
Diese Bezeichnung ist inhaltlich mit dem Begriff „Druide“ verwandt, das sich aus „dru-vid“ zusammensetzt und „Eichen-Seher“ bedeutet. Im Keltischen, aus dem der Begriff „Druide“ stammt, gab es es auch die genaue Entsprechung zu „Wala“, die „Veled“ lautete: „Stab-Träger(in)“, d.h. „Seher(in)“.
I 2. c) „spa-kona“, „spa-dis“
Das altnordische Verb „spa“ bedeutet „spähen“ und wurde vor allem im Sinne von „in die Zukunft blicken“ gebraucht. Diese „Späher-Frau“ ist also eine „Zukunfts-Schauerin“, d.h. eine Seherin.
Von diesem Begriff gab es auch die Variante „spa-dis“, was „Seher-Göttin“ bedeutet – die Seherinnen wurden des öfteren übernatürlichen Wesen verglichen.
I 2. d) Saga
Der Name dieser Göttin bedeutet „Seherin“. Sie wird durch die Verselbständigung eines Beinamens der Freya entstanden sein.
I 3. Die Bezeichnungen für die Zauberinnen und Hexen
Zu den Zauberinnen gibt es eine ganze Reihe von verschiedenen Bezeichnungen, die sich vor allem auf ihre Tätigkeit beziehen.
Dieselben Bezeichnungen können wertschätzend-furchtsam „Zauberin“, aber auch ängstlich-verdammend „Hexe“ bedeutet – dies hing lediglich von der Perspektive des Sprechers ab.
I 3. a) „fjölkyngis-kona“
Dieser Name bedeutet „vielwissende Frau“, wobei dieses Wissen eine klare Assoziation zur Magie hat. Daher kann man diesen Namen sinngemäß mit „Magiekundige Frau“ übersetzen.
Als „Weisheits-Frau“ wird u.a die zauberkundige Grimhild bezeichnet. In manchen Sagen wird dieser Begriff auch nicht ganz treffend mit „eine Frau, die zuviel wußte“ übersetzt.
I 3. b) „görninga-vättr“
Ein „görning“ ist eine Tat, insbesondere eine mithilfe von Magie vollbrachte Tat. Dieses Substantiv leitet sich von dem Verb „gör“ für „erbitten, erflehen“ ab, das sich in diesem Zusammenhang offensichtlich auf eine Anrufung der Götter bezieht.
Eine „vättr“ ist ein „Wesen, Wicht, Geist, übernatürliches Wesen“.
Die Bezeichnung einer Zauberin als „görninga-vättr“ sieht sie somit als ein durch ihre Anrufungen fast übernatürliches Wesen an, das durch ihre von den Göttern unterstützte Magie Dinge vollbringen kann, die ansonsten unmöglich sind.
Der Ursprung dieses Namens liegt offenkundig in den Anrufungen der Götter im Kult durch die Priester und Priesterinnen.
I 3. c) „for-däda“
Diese Bezeichnung ist recht neutral und bedeutet wörtlich „förderliche Tat“, womit ein Zauber gemeint ist, der das Vorhaben einer Person unterstützt. „for-däda“ ist somit ein recht technisch-neutraler Begriff für „Zauberin“ – sozusagen eine „Förderin“.
I 3. d) „galdra-kona“, „galdra-kind“
Der „galdr“ ist der rituelle Gesang. Eine „galdr-kona“ ist daher eine Kultsängerin oder eine Zauberin, die Zauberlieder...