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Private Regierung

Wie Arbeitgeber über unser Leben herrschen (und warum wir nicht darüber reden)

AutorElizabeth Anderson
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl250 Seiten
ISBN9783518759257
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR

Als Adam Smith und andere die Theorie freier Märkte entwickelten, war das ein progressives Projekt: Die Freiheit der Märkte sollte auch zur Befreiung der Lohnabhängigen führen - von den Zwängen obrigkeitsstaatlicher Strukturen, vor allem aber von der Gängelung durch die Arbeitgeber. In ihrem furiosen Buch zeigt Elizabeth Anderson, was aus dieser schönen Idee geworden ist: reine Ideologie in den Händen mächtiger ökonomischer Akteure, die sich in Wahrheit wenig um die Freiheit und die Rechte von Arbeitnehmern scheren.

Bereits die Industrielle Revolution hat den vormals positiven Zusammenhang zwischen freiem Markt und freiem Arbeiter aufgelöst, wie Anderson im ideengeschichtlichen Teil ihrer Untersuchung darlegt. Im nächsten Schritt bestimmt sie die gegenwärtige Beziehung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern neu: als eine von Regierungen und Regierten, wobei diese »Regierungen« private sind und quasi autokratisch herrschen können. Das Nachsehen haben die Beherrschten, nämlich die Arbeitnehmer, wie Anderson anhand zahlreicher Beispiele belegt. In beeindruckender Gedankenführung und stilistisch brillant dekonstruiert sie einen Mythos des Marktdenkens. Ein Glanzstück der Ideologiekritik.



<p>Elizabeth Anderson, geboren 1959, lehrt und forscht an der Universit&auml;t von Michigan in Ann Arbor und ist eine der wirkm&auml;chtigsten Philosophinnen der Gegenwart. Ihre Schwerpunkte liegen im Bereich der Moraltheorie und Ethik, der &Ouml;konomie, der politischen Philosophie und der feministischen Theorie.</p>

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Leseprobe

25Vorwort


Beginnen wir mit ein paar Fakten dazu, wie die Arbeitgeber heute ihre Angestellten kontrollieren. Walmart verbietet seinen Beschäftigten, während der Arbeit flüchtige Bemerkungen auszutauschen, und nennt dies »Zeitdiebstahl«.1 Apple inspiziert die persönlichen Gegenstände seiner Angestellten im Einzelhandel, die dadurch jeden Tag bis zu einer halben Stunde unbezahlter Zeit verlieren, während sie in der Schlange darauf warten, durchsucht zu werden.2 Tyson hindert die Arbeiter in seinen Geflügelfabriken daran, die Toiletten aufzusuchen. Einige waren gezwungen, sich einzunässen, während sie von den Aufsehern verspottet wurden.3 Etwa die Hälfte aller Beschäftigten in den USA sind von ihren Arbeitgebern schon einmal anlasslos auf Drogen getestet worden.4 Millionen werden von ihren Arbeitgebern unter Druck gesetzt, bestimmte politische Anliegen oder Kandidaten zu unterstützen.5

Wenn uns die US-Regierung solche Vorschriften machen würde, hätten wir längst zu Recht dagegen protestiert, dass unsere verfassungsmäßigen Rechte verletzt werden. Doch amerikanische Arbeiterinnen haben keine derartigen Rechte gegenüber ihren Bossen. Schon wer sich bloß gegen solche Zwänge ausspricht, riskiert seine Entlassung. Deshalb schweigen die meisten Betroffenen.

Der öffentliche Diskurs in den USA schweigt sich ebenfalls weitgehend über die Vorschriften aus, die Arbeitgeber ihren Beschäftigten machen. Wir haben die 26Sprache der Fairness und der Verteilungsgerechtigkeit, um über Niedriglöhne und unzureichende Sozialleistungen zu diskutieren. Wir verstehen es, über die Kampagne »Fight for $ 15« zu sprechen, gleichgültig auf welcher Seite wir bei dieser Frage stehen. Aber wenn es darum geht, auf welche Weise die Chefs das Leben ihrer Untergebenen beherrschen, fehlen uns die richtigen Worte.

Stattdessen reden wir so, als ob Arbeitnehmer von ihren Vorgesetzten nicht beherrscht werden. Man erzählt uns, dass uns unregulierte Märkte frei machen und dass allein der Staat unsere Freiheiten bedroht. Man erzählt uns, dass alle Transaktionen auf dem Markt freiwillig stattfinden. Man erzählt uns, dass alle Arbeitnehmer unter ihrem Arbeitsvertrag völlig frei sind, weil sie ihn freiwillig eingehen und aus freien Stücken wieder verlassen können – dass die Bosse nicht mehr Autorität über die Arbeiter haben als Kunden über ihren Gemüsehändler.

Aktivistinnen der Arbeiterbewegung argumentieren seit langem, dass dies falsch ist. Auf gewöhnlichen Märkten kann ein Verkäufer die angebotenen Produkte an einen Abnehmer verkaufen und sobald der Vorgang abgeschlossen ist, geht jeder für sich so frei seiner Wege wie zuvor. Arbeitsmärkte sind anders. Sobald Arbeitnehmer ihre Arbeit an einen Arbeitgeber verkaufen, händigen sie sich selbst dem Boss aus, dem es dann gestattet ist, sie herumzukommandieren. Anstatt den Verkäufer wieder frei davonziehen zu lassen, unterstellt der Arbeitsvertrag den Verkäufer der Arbeit der Autorität seines Chefs. Seit dem Niedergang der Arbeiterbewegung haben wir jedoch keine wirkungsvollen Formen mehr, über diesen Sachverhalt zu sprechen und somit auch darüber, welche Art von Autorität Vorgesetzte über ihre Untergebenen haben sollten und welche nicht.

27Zwei Fragen möchte ich im Folgenden beantworten. Erstens: Warum reden wir so, als ob Arbeitnehmer bei der Arbeit frei sind und als ob die einzigen Gefahren für unsere individuelle Freiheit vom Staat ausgehen? Zweitens: Wie sähe ein Rahmen aus, in dem sich besser darüber reden ließe, wie die Arbeitgeber das Leben von Arbeitnehmern einschränken, so dass sich dann auch eine Diskussion darüber führen ließe, wie man Arbeitsplätze so gestalten kann, dass sie den Interessen der Arbeitnehmer mehr entgegenkommen?

Mein Schwerpunkt liegt in beiden Abhandlungen auf der Ideologie. Eine Ideologie ist ein abstraktes Modell, das man verwendet, um sich die soziale Welt vorzustellen und mit ihr beziehungsweise in ihr zurechtzukommen. Ideologien vereinfachen die Welt und übergehen dabei viele ihrer charakteristischen Eigenschaften. Eine Ideologie ist gut, wenn sie uns dabei hilft, uns in der Welt zurechtzufinden. Um uns zu helfen, muss sie die normativ bedeutsamen Eigenschaften der Welt und die wesentlichen kausalen Verknüpfungen zwischen diesen Eigenschaften identifizieren, so dass wir auf sie einwirken können, was uns Menschen letztlich befähigt, wirksame Mittel zur Umsetzung unserer Ziele zu finden. Ideologien helfen uns auch dabei, unseren laufenden Beurteilungen der Welt eine Richtung zu geben, indem sie hervorheben, was wir an dieser Welt bereits für gut oder schlecht halten. Schließlich sind sie auch ein Vehikel für unsere Hoffnungen und Träume. Ein Modell kann Probleme in unserer gegenwärtigen Welt aufdecken, kann aber auch die Ursachen solcher Probleme erkennbar machen, so dass wir eine bessere Welt schaffen könnten, wenn diese Ursachen beseitigt oder bekämpft würden. Mit anderen Worten: Ideologien haben die Funktion von Idealen, da sie uns die Welt nicht nur darstellen, wie sie 28ist, sondern auch, wie sie erfreulicherweise sein könnte, wenn bestimmte Maßnahmen ergriffen würden.

Bislang habe ich erklärt, was Ideologien im nicht pejorativen Sinne des Wortes sind. Wir können schwerlich ohne sie auskommen. Durch unsere persönliche Erfahrung haben wir nur mit einem kleinen Ausschnitt der Welt Kontakt. Um eine umfassendere Beurteilung und Planung zu ermöglichen, müssen wir Aspekte der Welt, die wir nicht unmittelbar erfahren, in irgendeiner Weise zur Darstellung bringen, repräsentieren. Und selbst den Teil, mit dem wir Erfahrungen gesammelt haben, filtern wir durch unsere Ideologien, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was solche Erfahrungen bedeuten. Wir müssen vereinfachen, damit wir uns auf die wichtigen Dinge konzentrieren können.

Diese Tatsachen über unsere kognitiven Beschränkungen lassen die Gefahr aufkommen, dass unsere Modelle von der Welt im pejorativen Sinne des Wortes ideologisch sind. Dies kommt dann vor, wenn unsere Ideologien problematische Eigenschaften der Welt ausblenden oder diese Eigenschaften in ein irreführend positives Licht setzen, wenn ihnen die normativen Konzepte fehlen, die nötig sind, um das erkennbar zu machen, was an den Eigenschaften problematisch ist, oder sie den Raum der Möglichkeiten falsch darstellen, um bessere Optionen, die Mittel zu deren Realisierung oder deren Vorzüge im Dunkeln zu lassen. Natürlich kann kein Modell alle normativ relevanten Eigenschaften der Welt erfassen. Wenn es nur verhältnismäßig unbedeutende, zufällige und idiosynkratische Eigenschaften außer Acht lässt, sollten wir Nachsicht walten lassen. Wenn diese Eigenschaften aber strukturell so in die soziale Welt eingebettet sind, dass sie die Interessen bestimmbarer Gruppen auf ernste oder unberechtigte Weise systematisch unter29graben, müssen wir unser Modell überarbeiten, um solche Eigenschaften zu berücksichtigen, und müssen herausfinden, mit welchen Mitteln sie sich ändern lassen. Das ist dann umso schwieriger, wenn den Interessen derer, die den öffentlichen Diskurs dominieren, mit der herrschenden Ideologie bereits gut gedient ist.

In Kapitel 1 beantworte ich meine erste Frage – warum wir so reden, als ob Arbeiter bei der Arbeit frei seien –, indem ich mich in die Geschichte der Ideologie des freien Marktes vertiefe. Ich argumentiere, dass viele den Markt befürwortende Denker ursprünglich für die Freiheitsinteressen der Arbeiter empfänglich waren. Sie hatten Gründe zu glauben, dass freie Märkte den Arbeitern helfen würden, insofern sie diese aus ihrer Unterordnung unter die Arbeitgeber und andere mächtige Organisationen befreien würden. Sie setzten ihre Hoffnungen in ein Modell, mit dem die Vorhersage verbunden war, dass die Freigabe der Märkte insgesamt die Arbeitsmärkte zu unbedeutenden Erscheinungen einer Welt machen würde, in der die meisten Erwachsenen – jedenfalls so sie männlich waren – wirtschaftlich selbständig wären. Die industrielle Revolution zerstörte diese Hoffnungen, nicht jedoch die Idee der Marktgesellschaft, auf der...

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