2.3 Selbstbetrachtungen
In NEUROSIA inszeniert Praunheim seinen eigenen Tod. Der Regisseur tritt am Anfang des Films in einem Kinosaal auf, um seine filmische Autobiografie vorzustellen. Aus dem Publikum schallen ihm Buhrufe entgegen, viele seiner Gegner haben sich dort versammelt. Tunten schneiden Grimassen. In einer kurzen Ansprache versucht Praunheim die Argumente seiner Kritiker provokativ zu entwaffnen:
Vielleicht werden jetzt einige Kritiker meinen, dass man einen autobiografischen Film erst machen kann, wenn man achtzig ist oder scheintot. Aber man hat mir immer wieder vorgeworfen, dass ich meine Darsteller lächerlich mache oder ausbeute [Zwischenruf: »Ausbeuter!«]. Deswegen habe ich mich nun entschlossen, mich selber lächerlich zu machen und auszubeuten. Vielleicht werden nun einige sagen, das entspräche nur meinem Exhibitionismus und meiner Eitelkeit. Aber dazu möchte ich demütig bemerken: Verzeiht mir, dass ich so berühmt bin, verzeiht mir meine Schönheit, verzeiht mir meine künstlerische Begabung.[30]
Es fällt ein Schuss, Rosa von Praunheim stürzt zu Boden und das Licht geht aus. Im weiteren Verlauf des Films erhält die Journalistin Gesine Ganzman-Seipel (Désirée Nick) von ihrem Fernsehsender HAU-TV den Auftrag, den Mord an Praunheim zu untersuchen und das Rätsel um seinen verschwundenen Leichnam zu lösen. Ihre Ergebnisse soll sie in einer mehrwöchigen Reportage präsentieren. Ganzman-Seipel erschleicht sich Zugang zu seiner Wohnung und interviewt zahlreiche Bekannte und Zeitgenossen Praunheims, die ein facettenreiches Bild des Selbstdarstellers zeichnen. In die fiktionale Reportagestory um Frau Ganzman-Seipel werden reale Meinungen, Geschichten und Erfahrungen von und mit Rosa von Praunheim eingeflochten. Bekannte Darsteller aus seinen Filmen, wie Luzi Kryn, Evelyn Künneke und Lotti Huber kommen zu Wort, aber auch ehemalige Liebhaber und Gegner. Ganzman-Seipel findet sogar einen Nazi-Drohbrief in Praunheims Büro, in dem ihm Vergasung angedroht wird.
Abbildung 3: NEUROSIA
Désirée Nick präsentiert in NEUROSIA Praunheims Leben in betont grotesker Form. Frau Ganzman-Seipel ist der Prototyp alles Spießigen. Für die Reportage über Praunheims Verschwinden und den vermeintlichen Mord muss sie ihr Lieblingsthema, eine Sendung über gemeine Gartenrotschwänzchen, unterbrechen. Nur widerwillig nimmt sie den Auftrag von ihrem Chefredakteur an. Dennoch ist sie für die Aufgabe scheinbar geeignet: Der Bruder ihrer Tante zweiten Grades habe sich wegen Homosexualität behandeln lassen (allerdings erfolglos), sie habe deshalb mit dem Thema etwas Erfahrung. Désirée Nick verkörpert eine punkig karikierte Spießerin, die in sich Unvereinbares miteinander verbindet: einerseits ihre Angewidertheit von Praunheims Leben und Art, andererseits das zur Darstellerin passende Auftreten in extravaganten Kostümen und wasserstoffblonder Kunstfrisur. Nick ist in NEUROSIA tatsächlich so schrill, dass sie von der Literaturwissenschaftlerin Alice Kuzniar in ihren Studien über Praunheims Filme einmal irrtümlicherweise als Transvestit betrachtet wird.[31] Das seinerzeit öffentliche Profil von Nick als Kabarettistin und die von ihr dargestellte Figur stehen konträr zueinander. Mit Nick lässt er eine Gegnerin von einer Sympathieträgerin verkörpern. Durch diese Besetzung »gegen den Strich« erreicht Praunheim eine kritische, aber nie die Sympathie des Publikums verlierende Führung durch sein Werk und Leben. Gegenüber verständnislosen Kritikern setzt Praunheim zu einer taktischen Umarmung an, indem er seine Gegner zu Wort kommen lässt. Kuzniar sieht in NEUROSIA eine geschickt kalkulierte Strategie des Rückzugs:
She [Désirée Nick] interviews relatives, former friends, and colleagues, most of whom have little good to say about him. Paradoxically the film becomes more a vehicle for these other characters than for its director, a strategy of withdrawal that explains many of von Praunheim’s tactics both cinematically as well as politically.[32]
Tatsächlich bringt NEUROSIA zahlreiche interessante Personen in Zusammenhang mit Praunheim, die alle etwas über ihn berichten möchten. »Viel Feind, viel Ehr«, scheint die Prämisse des Films zu sein, wobei fast alle Protagonisten ihre Feindschaft bewusst künsteln und schließlich ihre grundlegende Sympathie für Praunheim bekunden. Der Regisseur wirkt im Verborgenen und behält in der Inszenierung – letztlich im Schnitt – die Kontrolle über sein Werk.
Abbildung 4: Desirée Nick, im Hintergrund Rosa von Praunheim
Die Arbeit der Journalistin ist nur eine Travestie der realen Klatschspaltenkolumnisten, die über ihn tatsächlich »Pfui Rosa!« und »Nervensäge der Nation« titelten. Ganzman-Seipel ist keine Gefahr, ganz im Gegenteil. Mit großer Hingabe betreibt sie investigativen Qualitätsjournalismus, indem sie in wochenlanger Arbeit herauszufinden versucht, wer Rosa von Praunheim tatsächlich ist. Am Ende des Films hat sie sich mit ihrem journalistischen Sujet angefreundet und rettet den noch lebenden Rosa von Praunheim aus den Fängen eines Tuntenclans. Auf einem Hausboot halten ihn die vier Tunten, deren Leben er später in TUNTEN LÜGEN NICHT (2002) dokumentiert, fest und zwingen ihn dazu, niedere Arbeiten zu verrichten. »Er gehört zu mir« bricht Désirée Nick singend in das Boot ein. »Alles fangen wir gemeinsam an«, singen die Tunten, dem Rosa von Praunheim nur ein weinerliches »weil ich alleine gar nichts kann« hinzufügt. Er kommentiert dabei seine filmische Arbeitsweise, sich von seinen Darstellern inspirieren zu lassen. Drehbücher und Filme entstehen in Gemeinschaftsarbeit. Praunheim präsentiert sich in Abhängigkeit der von ihm Gefilmten. So wie er den Film mit dem Vorwurf eröffnet, er würde seine Darsteller ausnutzen, so wird dieser durch die gegenseitige Abhängigkeit entkräftet.
Durch selbstironische Offenheit zieht Praunheim den Zuschauer unentwegt auf seine Seite. Mit hämischer Freude können wir Gesine Ganzman-Seipels Eindringen in Rosa von Praunheims Welt und ihre Ablehnung dieser verfolgen. Nachdem sie sein Zimmer betreten hat, findet sie dort zahllose Kondome, Gleitgel und eine Packung Jacutin. Sie stellt sich die Orgien vor, die hier stattgefunden haben, die im Film in einer (alb-)traumhaften Rückblende angedeutet werden. Als sie sich auf seinem Bett erschöpft niederlässt, findet sie eine Flasche Punica. »Der fruchtige Durstlöscher«, liest sie auf dem Etikett. In einer Rückblende ist zu sehen, wie Rosa von Praunheim eben diese Flasche zum Wasserlassen nutzt. Ganzman-Seipels Reaktion beim Öffnen der Flasche ist zu erwarten, entsetzt und angeekelt wendet sie sich ab. Auf ihrer Suche nach »Blut, Sperma und Diskriminierung«[33] hat sie jedoch zahlreiche Funde gemacht, die sie in ihrer Sendung verwerten kann.
In seinem Buch zum Film 50 Jahre pervers spricht Praunheim hingegen fast ohne Ironie über seine Filme und sexuellen Erfahrungen. Technisch detailliert beschreibt er seine Begegnungen, die in einer Auflistung seiner Sexualpartner eines Jahres münden.[34] »It is not easy to detect irony in these pages; in fact one marvels at its absence«[35], stellt Kuzniar fest. Auch im Buch Sex und Karriere ist der Titel Programm. Sexuelle Erfahrungen und Berichte von der Filmarbeit werden miteinander vermengt. Durch diese detailgetreue und chronologische Veröffentlichung seines Privatlebens, etwa auch durch die Publikation seiner Tagebücher 2009 in Rosas Rache, gelingt ihm eine scheinbare Distanzlosigkeit, die einen Angriff auf seine Person nur schwer möglich macht.
Sieben Jahre nach NEUROSIA entsteht abermals ein filmisches Selbstporträt, PFUI ROSA!. Hier begleitet ihn der befreundete Kameramann René Krummenacher durch seinen Alltag. Praunheim erläutert im Film seine Einstellung zu Privatem und Öffentlichem: »Ich finde es wichtig, Privatleben öffentlich zu machen. Vorurteile entstehen aus Ignoranz, aus Gerüchten, aus Angst vor Unbekanntem. Wollen wir, dass sich unsere Einstellung zum Sex ändert, müssen wir lernen, ihm mutig ins Auge zu sehen.«[36] Gleichfalls wird gezeigt, wie Praunheim im Rahmen eines Lehrauftrags am San Francisco Art Institute das Thema Homosexualität wählt und sich selbst als Studienobjekt anbietet. Seine Studenten sollen ihn beim Geschlechtsakt mit einem Pornodarsteller filmen. Praunheim wählt absolute Konfrontation, um sich verständlich zu machen. In 50 Jahre pervers schreibt er darüber: »Meine Schüler am San Francisco Art Institute stammten meist aus reichen Häusern, das Schulgeld war sehr hoch, und ich konnte mich mit ihren oberflächlichen Interessen wenig anfreunden. Ich hatte nur Spaß daran, sie zu schockieren.«[37] Die in ihrem Verhalten als oberflächlich empfundenen Schüler konfrontiert Praunheim mit einem radikalen Gegenkonzept zum konventionellen Unterricht. Im von Deutschen ohnehin oft als prüde empfundenen Amerika werden die Schüler mit ihrer eigenen Scham konfrontiert und »gezwungen«, sich filmisch mit Sexualität zu beschäftigen.
Zudem sind in PFUI ROSA! zahlreiche Fernsehausschnitte aus Talkshows der 90er Jahre zu sehen. In Interviews stellen nicht immer nur die Moderatoren die Fragen, sondern Praunheim fordert diese provokativ durch Gegenfragen heraus. Als er über sein Sexualleben befragt wird, stellt er die gleiche Frage dem Moderator.[38] Sogar einem Priester stellt er in der Talkshow LIVE AUS DER ALTEN...