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E-Book

Prozessethik

Zur Organisation ethischer Entscheidungsprozesse

AutorLarissa Krainer, Peter Heintel
VerlagVS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV)
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl246 Seiten
ISBN9783531922690
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis46,99 EUR
Im Zentrum dieses Buches steht die Frage, wie ethische Entscheidungen in modernen Organisationen und Unternehmen heute sinnvoll organisiert werden können. Der Ansatz der Prozessethik impliziert ein praxisorientiertes Beratungsmodell, das praktisch bereits erprobt ist und in den vielfältigsten Kontexten eingesetzt werden kann. Larissa Krainer und Peter Heintel bieten eine philosphische Fundierung von Prozessethik an, stellen zentrale Prämissen sowie Modellvorstellungen dieses Ansatzes vor und diskutieren verschiedene Felder der Angewandten Ethik. Praxisorientierte Hinweise zur Einrichtung und Organisation ethischer Entscheidungsprozesse runden das vorliegende Buch ab.

Univ.-Prof. Larissa Krainer ist Professorin für Kommunikationswissenschaft an der Universität Klagenfurt.
Univ.-Prof. Peter Heintel ist Professor für Philosophie und Gruppendynamik an der Universität Klagenfurt.

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Leseprobe
Das prozessethische Verfahren (S. 207-208)

In diesem Teil sollen konkrete Ausführungen und Anmerkungen zu Fragen der praktischen Organisation von Prozessethik erfolgen. Viele der Überlegungen folgen dabei älteren Ausführungen und greifen diese wieder auf582, wobei hier der Versuch erfolgen soll, sie auf breitere Basis zu stellen und zudem in größeren Kontexten zu denken. Über die theoretischen Prämissen, die für Prozessethik gelten sollen, wurde bereits ausführlich berichtet, sie sollen an dieser Stelle nicht wiederholt werden, wohl aber in Hinblick auf ihre organisatorischen Herausforderungen noch einmal stichwortartig festgehalten werden. Schließlich gilt es ferner zu beschreiben, wie unter Zuhilfenahme des bereits vorgestellten prozessethischen Modells584 ein prozessethisches Entscheidungsverfahren eingeleitet und durchgeführt werden kann.

Vorbemerkungen zu Herausforderungen an Prozessethik


Aus den bisher diskutierten ethischen Herausforderungen vor denen moderne Gesellschaften stehen (Krise der Ethik, Abdanken der autoritären und normgebenden Institutionen, Entdeckung des autonomen Ichs, aber auch dessen Grenzen, Überforderung von Individuen in der Übernahme von Verantwortung für komplexe Sachverhalte, auf die sie keinen vollständigen Einfluss haben etc.) haben wir an verschiedenen Stellen des Buchs die folgenden Ansprüche an Prozessethik entwickelt:

Prozessethik organisiert (kollektive) Selbstreflexion


In der philosophischen Tradition wurde Selbstreflexion primär als individualethische Kategorie konzipiert, wobei in vielen Überlegungen die Frage, wie „die anderen“, bis hin zur Gesellschaft, dabei in das eigene Handeln einbezogen, in ihm berücksichtigt werden können, in den meisten Überlegungen Berücksichtigung gefunden hat. Schon die Vorsokratiker (insbesondere Heraklit und die Pythagoreer) dachten den Menschen weniger als vereinzeltes Individuum, denn als Mitglied einer Gemeinschaft, in der Individuen, über politische wie private Rituale miteinander verbunden sind.

Ähnlich ist dies auch, wenn bei Zenon, Epikur, Platon oder der Stoa die Forderung nach einem geglückten Leben in der Gemeinschaft erhoben und der Begriff des „zoon politicon“ geprägt wird (das nicht anders als ein soziales Wesen gedacht werden kann) und dem abverlangt wird, tugendhaft zu handeln, um das Ideal der Glückseeligkeit zu erreichen. Oder auch bei Aristoteles, der die subjektive Glückseligkeit bereits als unzureichend bezeichnet und über diese hinaus nach sittlichen Tugenden fragt.

Kant fordert, dass die Maxime des eigenen Handelns „jederzeit zum allgemeinen Gesetz“ erhoben werden können sollen und Hegel prägt schließlich den Begriff der Sittlichkeit, der, in Rückgriff auf Aristoteles wiederum politisch gefasst ist und der den Begriff individueller Moralität, den er in der Kant’schen Philosophie kritisiert und zu überwinden versucht, um das Prinzip einer kollektiven Ethik erweitert.588 Auch die spätere Differenzierung von Individualethik und Sozialethik deutet in eine solche Richtung. Der lutherische Theologe von Oettingen, dem die Einführung des Begriffs der Sozialethik zugeschrieben wird, wollte damit betonen, dass Menschen erst in ihrer Einbindung in soziale Kontexte zu sittlichen Wesen werden.

Aus prozessethischer Perspektive reicht das nicht aus und zwar aus zweierlei Grund: Die Wahrnehmung des/der Anderen als Wesen, dessen/deren Rechte, wie ethischen Normen wahrgenommen und weitgehend respektiert werden sollen, gilt freilich als wichtige Prämisse, die soziales Leben überhaupt erst gewährleistet. Prozessethik bleibt aber nicht im Denken und Vermuten über das Wohl der Anderen stehen, sie fragt konkret nach und ist somit auf praktische Konfrontation des über Andere Gedachten mit dem von ihnen selbst Gesagten aus. Möglich, dass es zu Übereinstimmungen führt, es kann aber auch sein, dass das nicht der Fall ist (erster Grund). Prozessethik fragt Betroffene und überprüft deren Meinungen, Haltungen, Normen und Werte somit empirisch.

Der zweite Grund liegt darin, dass für den Fall, dass verschiedene Normen und Wertsetzungen aufeinandertreffen, diese gegenseitig wahrgenommen, wenn möglich verstanden werden und letztlich und im günstigsten Fall miteinander so verhandelt werden sollen, dass sie in gemeinsam akzeptable Maßsetzungen übergeführt werden können. Zielsetzung dabei ist es, von der individuellen Selbstreflexion zu einer kollektiven Selbstreflexion voranschreiten zu können, die, auf breitere Basis gestellt, letztlich auch mehr Sicherheit in ethischen Fragen oder auch eine umfassendere Reflexion in komplexen Themenstellungen ermöglichen soll.
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis6
Einleitung10
Prozessethik–erste Thesen zum Geleit10
Zur Genese des Buchs11
Zum Aufbau des vorliegenden Buchs13
Warum „noch“ eine Ethik? Zur Frage der „Zuständigkeit“ für Ethik15
Gibt es ein ethisches Vakuum?15
Auf dem Weg zur Prozessethik als Organisation sich selbst reflektierender Praxis18
Ethik zwischen Stabilität und??????Innovation. Prozessethik als Befragung von Gewohnheiten19
Prozessethik als Organisation einer Grenzdialektik von Emotionen21
Zum historischen Umgang mit Grenzdialektik: der Weg von Unten und der Weg von Oben22
Mit Prozessethik vom individuellen Gewissen zur kollektiven Autonomie25
Prozessethik als Konflikt und Widerspruchsmanagement – über „systemische“ Wertfiguren26
Zur Funktionalität von gesellschaftlichen Subsystemen als eigenständigen und miteinander konfligierenden Wertfiguren29
Von der theoretischen Einsicht zum praktischen Prozessieren von Ethik31
Exkurs zur Rolle des autonomen Individuums: einsame Opposition, Lückenbüßer oder moralische Letztinstanz und Erstinstanz für Selbstreflexion?32
Prozessethik in der philosophischen Tradition35
Theoretische und praktische Hinführungen39
Ethik im Zwiespalt39
Ethik – menschliche Fähigkeit oder erlernbare Tugend?39
Ethik zwischen Individuum und Gesellschaft41
Ethik – relatives oder allgemeines Gut, bloßer Zufall oder bestimmter Zweck?43
Ethik zwischen individueller Entscheidung und kollektiver Vereinbarung45
Ethik zwischen Vorhersehung und nachträglicher Beurteilung48
Ethik zwischen Selbst und Fremdbestimmung49
Prozessethische Vorannahmen51
Ein transzendentaler Freiheitsbegriff als Bedingung der Möglichkeit von Prozessethik51
Die Relativierung von Normen und Werten52
Chancen und Grenzen des Individuums53
Ethik und Entscheidung53
Anthropologische Grundkonstante der Ethik: Der Mensch als Differenzwesen56
Selbstentfremdung der Freiheit57
Prozessethik als dialektische Methode58
Der Mensch als ausgezeichnetes Wesen61
Vom Was zum Wie62
Von der Notwendigkeit der Abstraktion64
Konsequenzen für Prozessethische Verfahren66
Von der individuellen zur kollektiven Differenzsetzung67
Herstellung einer gemeinsamen Sichtweise68
Konfliktbeobachtung, Konfliktforschung, Konfliktbegleitung69
Notwendigkeit und Sinn von Konflikten72
Widerspruch und Differenz77
Angewandte Ethik als Beitrag zur praktischen Philosophie80
Politik und Ethik82
Prozessethische Reflexion88
Recht und Ethik90
Prozessethische Reflexion94
Medien und Ethik96
Prozessethische Reflexion99
Ökonomie und Ethik101
Prozessethische Reflexion105
Technik und Ethik109
Prozessethische Reflexion114
Ökologie und Ethik116
Ethik in Medizin, Pflege und klinischen Organisationen120
Prozessethische Reflexion126
Sport und Ethik129
Prozessethische Reflexion132
Wissenschaft und Ethik134
Prozessethische Reflexion138
Bildung und Ethik140
Prozessethische Reflexion144
Ethik und Kultur145
Prozessethische Reflexion147
Ethik und Geschlecht149
Prozessethische Reflexion153
Ethik und Beratung153
Wo Ethik versagt und durch Enttabuisierung neue Tabus geschaffen werden155
Resümee156
Das prozessethische Modell157
Vorbemerkungen zum Begriff „Modell“157
Das Modell162
Feld I: Differenzwesen Mensch und Notwendige Widersprüche164
Differenzwesen Mensch164
Notwendige Widersprüche167
Feld II: Konflikte und Konfliktpotentiale189
Feld III: Unmittelbare Reaktionsformen und Lösungsmethoden191
Unmittelbare Reaktionsformen191
Lösungsmethoden194
Feld IV: Antworten196
Feld V: Instanzen des Schutzes und der Rechtfertigung199
Kirchen201
Natur201
Mensch202
Gewissen, Staat und Demokratie202
Politische Ideologien203
Das prozessethische Verfahren204
Vorbemerkungen zu Herausforderungen an Prozessethik204
Prozessethik organisiert (kollektive) Selbstreflexion204
Selbstreflexion betrifft Individuen und Kollektive205
Selbstreflexion benötigt ein Sich in Distanz Setzen zu Normen und Werten206
Kollektive ethische Entscheidungen entlasten von individueller Überforderung207
Ethik bedarf der Einrichtung von kollektiven ethischen Entscheidungsprozessen208
Prozessethik als angewandte Dialektik212
Repräsentationsverfahren müssen gegenseitige Feedbackschleifen ermöglichen212
Zur Organisation prozessethischer Entscheidungsverfahren214
Prozessethische Verfahrensschritte im Rahmen von größeren Systemen (Repräsentatives Verfahren)219
Abschließenden Bemerkungen zur Verwendung des Prozessethischen Modells und des Prozessethischen Verfahrens221
Zitierte und verwendete Literatur222
Internetquellen245

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