2 Relevante Erkenntnisse der Psychoanalyse für die Heilpädagogik
2.1 Lorenzers Beitrag zur Psychoanalytischen Pädagogik
Begonnen hat also alles mit Alfred Lorenzers Symbolisierungstheorie, die so aktuell wie nie ist (vgl. Mitzlaff 2009). Sie hat uns implizit einen Zugang zur Behinderung geliefert, welcher frei ist von einer naturalistischen Verkürzung, und Aloys Leber hat als erster den Transfer dieses psychoanalytischen Konzepts in die Heilpädagogik geleistet.
Bevor ich weitere Grundlagen der psychoanalytischen Theoriebildung heranziehe, möchte ich mich daher zunächst etwas eingehender mit Lorenzer befassen. Seit sich die Pädagogik in den 1970er Jahren wieder dem psychoanalytischen Verstehen zuwandte, galt vor allem seine materialistische Sozialisationstheorie als einer der wichtigsten Bezugspunkte. Lorenzer war einer der markantesten Vertreter der Psychoanalyse als einer gesellschaftskritischen wie tiefenhermeneutischen Erfahrungswissenschaft. Pointiert bezog er Stellung gegen eine behaviouristische Verengung der Betrachtung des Subjekts, welche die Konfrontation von Tatsachen und Theorie vom Feld gesellschaftlicher Praxis abzuschirmen suchte (vgl. Gerspach 2007).
Radikal wie kaum ein anderer Psychoanalytiker schenkte Lorenzer dem Grundmerkmal der herrschenden Produktionsweise, dem Widerspruch zwischen den besonderen Beziehungen der Mitglieder der Gesellschaft und der Natur auf der einen und den Bedingungen und Formen der Aneignung und Kontrolle der Produktivkräfte und des Sozialprodukts auf der anderen Seite seine ganze Aufmerksamkeit. Er hielt daran fest, dass die Aufhebung von Reflexions-, Diskussions- und Handlungsblockaden in den Individuen Voraussetzung politischer Solidarität ist, was ihn bewog, die Freilegung des politisch fruchtbaren Kerns der Psychoanalyse für eine systematische emanzipative Diskussion einzufordern (vgl. Lorenzer 1974, 276).
Vor kurzem haben Naumann, Busch und Schlücker noch einmal auf die nach wie vor aktuelle Leistung Lorenzers für die Analyse krisenhafter gesellschaftlicher Transformationsprozesse hingewiesen, mit deren Hilfe ein sich wandelnder Sozialcharakter auszuleuchten ist. Gerade Lorenzer war es, der mit seiner tiefenhermeneutischen Kulturanalyse dazu beitrug, dass sich die Psychoanalyse ihrer eigenen gesellschaftskritischen Methode bewusst wurde (vgl. Naumann 2003, 275 ff; Busch 2007, 20 ff; Schlücker 2008, 337 ff).
Für Lorenzer lag die Kontrolle hermeneutischer Prozesse nicht innerhalb des eigenen Verfahrensfeldes, sondern musste auf die Lebenssituation „draußen“ bezogen werden. Damit bleiben Theorie wie Praxis nicht auf sich selbst bezogen, stattdessen wird nach einem typischen Praxiszusammenhang gesucht. Verhaltensweisen des Subjekts werden als „hergestellte“ erachtet, deren Bedeutung nur über Interpretation aufzufinden ist (vgl. Lorenzer 1974, 44ff). Diese Selbstauffassung der Psychoanalyse ist für eine subjektorientierte Pädagogik von hoher Relevanz, denn sie verlangt danach, die in der Persönlichkeitsstruktur geronnenen Beziehungserfahrungen in ihrer gesellschaftsspezifischen Ausprägung zu verstehen.
Lorenzers Analyse beschädigter individueller Struktur reicht weit über beobachtungswissenschaftlich-erklärende Erkenntnisbildung hinaus. Görlich hat die besondere Bedeutung seiner „Hermeneutik des Leibes“ (vgl. Lorenzer 2002) herausgestrichen. Darin wird die Biologie auf den sozialen Sinn im eigenen Gegenstand der Natur, die Hermeneutik wiederum auf ihre Grenze im biologisch-organischen Fundament des Erlebens und Verstehens verwiesen (vgl. Görlich 2003, 31). Die Plausibilität dieser dialektischen Sicht wird durch die neueren Forschungsergebnisse der Neurobiologie bestätigt, die offenbaren, dass die Funktionalität des Gehirns zu großen Teilen von der psychosozialen Umwelt bestimmt wird.
Die psychoanalytische Herangehensweise an Problemlagen weist eine ganz besondere methodologische Eigenheit auf, die sich von allen anderen wissenschaftstheoretischen Zugängen unterscheidet. Das, was der Psychoanalytiker macht, lässt sich nicht mit der Begrifflichkeit des Erklärens, aber auch nicht mit jener des Verstehens fassen: „es gehört gewiss in den Bereich des Verstehens, enthält dabei aber offensichtlich Elemente beider Verstehensarten auf eine Weise, die ich mit dem Begriff des ‚szenischen Verstehens‘ gekennzeichnet habe“ (vgl. Lorenzer 1977, 8).
Lorenzer geht von einem spezifischen Symbolkonzept aus. Die Symbolbildung ist eine Ich-Leistung, um die unbewussten Abkömmlinge der somatischen Reizquellen zu organisieren. Seinem Verständnis nach verläuft dieser Prozess wie folgt: Unbewusste Inhalte werden unter bestimmten Bedingungen vom Unbewussten „freigegeben“, um vom erkennenden Ich aufgenommen und verarbeitet zu werden (vgl. Lorenzer 1973, 110). Er erachtet die Einführung von Sprache als das Wesentliche menschlicher Identitätsentwicklung. Da der Mensch von Anbeginn seines Lebens notwendig auf den Anderen angewiesen ist, muss er frühzeitig seine Interaktionsfähigkeit ausbilden. Weil Sprache gemeinhin die Grundvoraussetzung jeder sozialen Rollenfindung darstellt, ist die Verfügungsgewalt darüber so wichtig.
Zunächst werden in der frühkindlichen Sozialisation mit der Einführung von Sprache die bis dahin vorsprachlichen Interaktionsformen (von Mutter und Kind) benannt. Mit der Einführung von Sprache in den frühen Dialog mit den primären Objekten erhalten diese bestimmten Interaktionsformen einen Namen und werden zu symbolischen Interaktionsformen. Damit wird ein Symbolsystem errichtet, welches von der konkreten Interaktionserfahrung fortschreitet zu ihrer Abstraktion. Denn die Mutter ist nicht primär als Person für das junge Kind bedeutsam, sondern über die an sie gebundene Interaktion, die Befriedigung von Bedürfnissen und Regulation von Affektzuständen verheißt.
Hier werden Sprache und Symbol zum ersten Mal verknüpft: „So ist es nicht zufällig, dass das erste Wort eines Kindes meist Mama heißt. Mit ihm kann es der Freude über die Befriedigung und Sicherheit vermittelnde Beziehung zur Mutter (...) Ausdruck verleihen. Durch Mama-Rufe kann es sich diese begehrte Beziehung real herstellen. Es kann sich aber auch mit dem Wort jenes Mama-Erlebnis vergegenwärtigen und damit deren vorübergehende Abwesenheit immer besser ertragen“ (vgl. Leber 1981, 36). Nach und nach entwickeln sich daraus immer reifere symbolische Interaktionsformen.
Umgekehrt sticht eine Verdrängungsleistung dadurch hervor, dass dem Bewusstsein wieder die Verfügung über die seelischen Repräsentanzen entzogen wird. Ist der Prozess der Anbindung von Interaktion an Sprache von einer heftigen Konfrontation von Konfliktpotentialen begleitet, macht diese eine psychische Abwehrarbeit nötig, was dazu führt, dass die bereits erworbenen symbolischen Interaktionsformen nicht beibehalten werden. Unter dem Druck dieser Konflikte wird den nicht bewusstseinsfähigen Interaktionsformen gleichsam die Sprache wieder entzogen, sie werden desymbolisiert. Dabei markiert das Gefälle von desymbolisierten zu symbolischen Interaktionsformen die Momente der problematisch erlebten Sozialisation (vgl. Lorenzer 1974, 275). In diesen Fällen handelt es sich um „nicht symbolische Strukturen“, auch als Klischee oder Zeichen identifiziert (vgl. Lorenzer 1973, 113).
Als herausragende Form der Desymbolisierung nimmt Lorenzer das unbewusste Drama des ödipalen Konflikts her, in welchem der Inzestwunsch auf Grund der Angst aufgegeben wird, vom Vater als dem Rivalen um die Gunst der Mutter kastriert zu werden. Eine realitätsgerechte Erledigung der dazugehörigen Affekte und Phantasien führt zum Untergang des Ödipuskomplexes. Der Verzicht auf das infantile Liebesobjekt befördert dabei die allmähliche Loslösung aus der kindlichen Abhängigkeit und lässt wichtige Individuationsschritte in Richtung auf eine stabile Selbstidentität zu (vgl. Kohut 1973; Mahler u. a. 1980). Der begonnene Symbolisierungsprozess kommt jetzt voran.
Lorenzer sieht in der Symbolbildung das Merkmal einer gelungenen Strukturbildung des Subjekts. Wenn aber die Kastrationsangst zu groß ist, um noch symptomfrei bewältigt werden zu können, müssen die ödipalen Wünsche verdrängt werden. Das Kind bleibt an die infantilen Interaktionsmuster und mitschwingenden Phantasien fixiert, ohne davon bewusst zu wissen und wird in seiner psychischen Mobilität eingeschränkt: „Die Verdrängung mündet aus in eine Desymbolisierung (...), wobei anstelle des symbolvermittelten Verhaltens (...) ein klischeebestimmtes blindes Agieren und Reagieren einsetzt.“ Lorenzer legt hier eine Privatsprache mit ihren pathogenen Verfälschungen von Wortbedeutungen frei, wo der subjektive Sinngehalt aus dem öffentlichen Kontext ausgeschlossen ist. Die Privatsprache tritt in Widerspruch zu den allgemeinen Wortbedeutungen der Umgangssprache (vgl. Lorenzer 1973, 120ff).
An diesem Punkt wird der sprachlichen Organisation der erlebten Realität mit Hilfe symbolischer Interaktionsformen bereits eine vorsprachliche Regulierung in der frühen Mutter-Kind-Beziehung vorangestellt. Damit öffnet sich uns ein Tor zum Verständnis eines Sozialisationsprozesses, in welchem schon vorsprachliche Störungen angelegt werden, was eine weitgehende Symbolisierungsunfähigkeit hinterlässt (vgl. Lorenzer 1977, 79ff). Die subjektive Struktur wird beschädigt hergestellt, sie gerät gar zur Struktur verhinderter Subjektivität (vgl. Finger 1977, 156), indem die Symbolisierungspotenz des Kindes basal behindert wird (vgl. Trescher 1979, 130).
Setzte noch die klassische psychoanalytische Methodik an einer...