Vorwort
Vor etwa fünfzig Jahren – ich war noch keine sechs und hatte noch keinen Gedanken daran verschwendet, was ich mit meinem Leben einmal anfangen wollte – besuchte ich mit meinem Vater Stonehenge. Das war, lange bevor es dort Verhaltensregeln oder Kontrollen gab, geschweige denn einen Zaun. An einem Frühlingsmorgen wanderten wir zwischen den riesigen Steinblöcken auf der leeren Hochebene von Salisbury umher, strichen mit den Händen über die glatten Steine und sprachen eher wenig. Es bedurfte keiner Worte. Es reichte, dort zu sein. Ich war so klein, dass ich natürlich nicht begriff, was für ein gewaltiger Zeitabstand zwischen uns und den Schöpfern dieser Anlage lag. Mein Kopf war auch noch nicht vollgestopft mit all dem Wissen aus Schule und Studium und den komplexen Gedanken und Überlegungen, die es mir nun als Erwachsenem schwer machen, vor einem solchen Monument einfach nur die Gefühle zuzulassen, die es hervorruft.
Klar war mir, dass ich vor etwas Uraltem und Wichtigem stand und dass, ganz einerlei, wer diese gigantischen Steine in Form geschlagen und aufgestellt hatte – es ernst gemeint hatte. Allein die unglaubliche Arbeit, die das Ganze gekostet haben musste, sprach Bände. Aber welche Geheimnisse Stonehenge barg, ahnte ich nicht, und obwohl meine Neugierde bei diesem ersten Besuch geweckt wurde, fragte ich mich nicht nach seinem Sinn und Zweck. Ich war mit meinen Empfindungen beschäftigt. Ich fühlte mich nämlich noch kleiner als ein sechsjähriger Knirps ohnehin, der sich an der Hand seines Vaters an einem solch befremdlichen Ort befindet. Ich atmete schneller und verspürte eine gewisse Beklemmung, weil mir vielleicht doch schwante, dass Menschen dieses gigantische Werk errichtet hatten, weil sie nach etwas Erhabenem trachteten, an dem ich aber nicht teilhaben sollte. Und während ich um die Säulen herumging, an ihnen emporschaute und sie betastete, überlief mich ein angenehmes Gruseln, weil wir, mein Vater und ich, vielleicht gar nicht hier sein durften und die Riesen, die diesen Ort gestaltet hatten, womöglich bald zurückkommen würden.
Mein Vater, der im Baugewerbe tätig war, erlebte diesen Tag vermutlich ganz anders als ich. Was er beruflich machte, wusste ich damals gar nicht genau, erst als Teenager bekam ich immerhin so viel mit, dass ich verstand, er konnte kaum ein Bauwerk anschauen, ohne im Kopf gleich eine Bestandsaufnahme von Größe und Form der benutzten Materialien zu machen und zu überschlagen, ob die Konstruktion stabil genug war, um den Elementen und dem täglichen Gebrauch durch die Menschen zu trotzen. Mein Vater war Kostenplanungsingenieur, und er musste im Entwurf des Architekten Maße, Kosten und Nutzen beurteilen und im Verlauf der Arbeit dafür sorgen, dass der fertige Bau der Vorstellung des Architekten entsprach und zudem innerhalb des veranschlagten Budgets oder sogar darunter blieb. Ich glaube schon, dass er auch gefühlsmäßig und spontan auf ein Gebäude reagieren konnte, aber das geschah sicher stets getrennt von seiner rationalen Betrachtungsweise, die in Fragen der Konstruktion, der technischen Umsetzung und der Wirtschaftlichkeit begründet war.
Heutzutage finde ich mich in einer Situation wieder, die der meines Vaters damals in Stonehenge wahrscheinlich gar nicht unähnlich ist. Ich bin ein Architektur- und Design-Fan. Ich bin fasziniert von den vielfältigen Wirkungen, die die Bauart eines Gebäudes oder die Anlage einer Straße auf meine Gefühle und Gedanken ausüben können, und um diese Wirkungen gewissermaßen hautnah zu erleben, habe ich Reisen durch die ganze Welt unternommen. Von Beruf bin ich Experimentalpsychologe und untersuche, wie uns Gebäude beeinflussen. Um eine Innenansicht der menschlichen Reaktionen auf die jeweilige Umgebung zu bekommen, greife ich auf ein breit gefächertes wissenschaftliches Instrumentarium zurück. Ich finde heraus, ob Bewohner eines Gebäudes aufmerksam sind (und auf was sie ihre Aufmerksamkeit richten) und ob und wann sie aufgeregt, gelangweilt, glücklich, traurig, ängstlich, neugierig oder eingeschüchtert sind. Ich möchte die Verbindung zwischen Gebäuden, die mein Vater so sorgsam ausmaß, und dem, was im Inneren ihrer Besucher vor sich geht, aufzeigen und verstehen.
Dabei überschreite ich ständig die Grenze zwischen meinem simplen Staunen als Sechsjähriger, also der emotionalen Reaktion auf die gebaute Welt, und meiner vernunftgesteuerten, kritischen Reaktion als in diesem Bereich forschender erwachsener Wissenschaftler. In diesem Buch möchte ich Ihnen von beiderseits dieser Grenze berichten.
Fast alle Menschen auf der Welt machen Tag für Tag Erfahrungen mit gebautem Raum – zu Hause, am Arbeitsplatz, in Amts- und Geschäftsgebäuden, in Vergnügungs- und (Aus-)Bildungsstätten. Wir alle ahnen, dass diese Orte gezielt so geplant und gebaut sind, dass sie unser Denken und Tun beeinflussen, und oft suchen wir sie ja auch gerade deshalb auf, weil wir diese Einflüsse erleben wollen. (Etwa in Kirchen oder Freizeitparks.) Doch obwohl wir alle gefühlsmäßig auf die Architektur von Gebäuden und Orten reagieren, haben wir natürlich im Alltag oft weder Zeit noch Lust, ihre Wirkung genauer aufzudröseln und uns klarzumachen, was wir da empfinden.
Andererseits wollen viele von uns als engagierte Bürger überall auf diesem Planeten – heute vielleicht mehr denn je – verstehen, wie Orte funktionieren, ja, wir wollen sogar dazu beitragen, dass sie besser funktionieren. Denn zum einen wissen wir, dass wir vor gewaltigen Veränderungen stehen. Verstädterung, Ballungsprobleme in Städten, Klimawandel und der enorme Energiebedarf in immer neuen Regionen der Welt fordern uns alle zum Nachdenken darüber auf, wie wir unsere eigene Umwelt gestalten, unser Überleben sichern und unsere psychische Gesundheit erhalten wollen. Zum anderen speist sich dieser neue Wunsch nach Mitgestaltung unserer Lebensschauplätze aus den neuen, uns zur Verfügung stehenden Erfindungen wie Smartphones oder dem Internet. Leichter als je zuvor können wir miteinander in Verbindung treten und Ideen, Bilder und sogar Informationen über unsere geistig-seelische und körperliche Befindlichkeit austauschen.
Ich bin überzeugt, wenn wir, im Großen wie im Kleinen, bessere Orte einrichten wollen, müssen wir mit der Beobachtung der komplexen Beziehungen zwischen unseren eigenen Erfahrungen und den Orten beginnen, an denen wir sie machen und in die sie später ja auch wieder eingehen. Daran können sich alle beteiligen. Und um diese Beziehungen zu verstehen, müssen wir uns des Arsenals sowohl der neuen wissenschaftlichen Theorien als auch der modernen Technologie bedienen. Das ist doppelt dringlich, weil die gleichen Technologien, mit denen wir die menschliche Reaktion auf Orte untersuchen können – von standortbezogenen Smartphone-Apps bis zu Sensoren, welche die biometrischen Daten von Straßenpassanten messen –, zunehmend auch zur Optimierung der traditionellen Planungsinstrumente eingesetzt werden, die unsere Gefühle, Wünsche, Bedürfnisse und Entscheidungen beeinflussen. Mehr noch, diese Technologien definieren vom öffentlichen Raum bis zur Bedeutung einer Wand oder Mauer alles neu und revolutionieren zum Guten wie zum Schlechten die Art und Weise, wie uns unsere Umgebung berührt.
■ Wie es mit dem Bauen anfing
Der Wunsch, Umgebungen so zu gestalten, dass sie die Gefühle und das Handeln der Menschen beeinflussen, ist alt, ja, sogar älter als alle anderen Errungenschaften der menschlichen Zivilisation: älter als die schriftliche Kommunikation, als der Städte- und Siedlungsbau und sogar älter als der Beginn der Landwirtschaft. Die Wurzeln dieser planerischen Bemühungen liegen in der Südtürkei, unweit der Stadt Urfa, in den uralten Ruinen von Göbekli Tepe. Sie sind mehr als elftausend Jahre alt und bestehen aus einer Reihe von Mauern und Säulen, von denen manche mehr als zehn Tonnen wiegen.1 Als architektonisches Zeugnis ist Göbekli Tepe, abgesehen von ein paar sehr simplen, von Menschenhand erbauten Behausungen, das älteste uns bekannte Bauwerk. Ja, Göbekli Tepe wurde ebenso viele Jahrtausende vor Stonehenge errichtet wie Stonehenge vor unserer heutigen Zeit. Aber es ist insofern wichtiger, als es lange gehegte Auffassungen über die Ursprünge des Bauens über den Haufen wirft. Vor seiner Entdeckung war es nämlich gängige Meinung, dass Ackerbau und Viehzucht und die damit einhergehende Sesshaftigkeit der Menschen unsere baulichen Tätigkeiten und letztendlich den Bau von Städten erst in Gang gesetzt hätten. Aber damit hatte man das Pferd vom Schwanz her aufgezäumt. Die Steine in Göbekli Tepe sind offenbar von Jägern und Sammlern, die sich von ihrer Jagdbeute ernährten, dort aufgestellt worden und nicht von sesshaften Bauern. Die ausgegrabenen Mauern sind höchstwahrscheinlich die allerersten, die nicht errichtet wurden, um Besitz und Familie vor Feinden, den Unbilden der Natur und den neugierigen Blicken der Nachbarn zu schützen, sondern zu anderen Zwecken. Welchen genau lässt sich nach so langer Zeit nicht mehr herausfinden, aber die wenigen Zeugnisse menschlichen Treibens dort – Tierknochen, Reste von Feuerstellen und in Säulen gemeißelte Piktogramme menschlicher Figuren und großer Vögel, Schlangen und fleischfressender Säugetiere – legen die Vermutung nahe, dass Göbekli Tepe als religiöse Kultstätte diente. Aller Wahrscheinlichkeit nach war es auch eine Pilgerstätte, die über viele Jahrhunderte gebaut und umgebaut, besucht und verändert wurde. Klar ist, dass niemand dort wohnte. Vielleicht sollte der Ort zum Nachdenken und Beten inspirieren, und die Reliefs der grauenerregenden Kreaturen, die man dort fand, waren als Totems gedacht, die den Menschen die Furcht vor den schrecklichen Gefahren...