Zur Einleitung: Die Multidisziplinarität in der psychosozialen Arbeit mit Familien
Das vorliegende Lehrbuch richtet sich an Studierende und Fachkräfte in den Professionen und Disziplinen, deren Tätigkeit sich auf die Bearbeitung von Problemen und die Unterstützung von Familien richtet. So weit, variationsreich und von Veränderungen gekennzeichnet wie das Feld der psychosozialen Arbeit mit Familien selbst ist das Feld der hier beteiligten Professionen. Dazu zählen:
• Sozialarbeiter/Sozialpädagogen
• Pädagogen, Sonder- und Heilpädagogen sowie Erzieher
• Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichentherapeuten
• Familienberater, Erziehungsberater
• medizinische Professionen, insbesondere Fachärzte für Kinder- und Jugendmedizin, Psychiatrie und Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Der Konzeption dieses Buches liegt die Erkenntnis zu Grunde, dass sich die Probleme und Hilfebedarfe von Familien nicht angemessen über einen ausschließlich professionsspezifischen Zugang erkennen und bearbeiten lassen. Wir würden sogar so weit gehen zu behaupten, dass eine Vielzahl der Probleme und Fehlentwicklungen in der Versorgung von Familien, die seit einigen Jahren in Deutschland diskutiert werden (z. B. das zu späte Erkennen von Kindesmisshandlung in Familien, die eigentlich beim Jugendamt bekannt sind), direkt damit zusammenhängen, dass die im Handlungsfeld Familie tätigen Professionen oft nur in ihrem spezifischen professionellen oder institutionellen Zusammenhang agieren und keine Kooperation bzw. Informationsaustausch über Professionsgrenzen hinweg stattfinden. Darauf weist auch die prominente Familienforscherin Ziegenhain (2012) im folgenden Zitat hin:
»Familien in einem individuellen und passgenauen Sinne zu unterstützen und zu versorgen bedeutet, Hilfen und Leistungen gleichermaßen aus der Leistungspalette Gesundheit wie aus jener der Kinder- und Jugendhilfe bzw. der Rehabilitation und gegebenenfalls auch der Sozialhilfe bzw. der Grundsicherung für Arbeitssuchende auszuwählen. (…) Eine allein erziehende junge Mutter mit mehreren Kindern und massiven finanziellen Schwierigkeiten kann unter Umständen nur dann von einem Programm zur Förderung ihrer elterlichen Kompetenzen profitieren, wenn sie gleichzeitig finanzielle Unterstützung erhält und ihre älteren Kinder betreut werden, während sie sich beraten lässt« (Ziegenhain 2012 S. 88).
Immer noch kommt es vor, dass z. B. ein Kindertherapeut sich nur für die therapeutische Behandlung des ihm anvertrauten Kindes zuständig fühlt, obwohl die Problematik des Kindes im Wesentlichen durch die Probleme im Kontext seiner Familie zu Stande kommen und aufrechterhalten werden; dass medizinischen Fachkräften das Leistungsangebot und die Unterstützungsmöglichkeiten, die die Kinder- und Jugendhilfe böten, nicht bekannt sind, so dass es über eine rein medizinische Behandlung von Familienangehörigen hinaus keine substantiellen Hilfsangebote an die Gesamtfamilie und ihren Kontext gibt; dass soziale Fachkräfte die psychische Störung eines Familienmitglieds nicht erkennen und sie daher nicht in der Lage sind, die Person in einen geeigneten Behandlungskontext zuzuweisen, so dass die Maßnahmen und Hilfeleistungen aus dem Angebot der Kinder- und Jugendhilfe nicht zu substantiellen Veränderungen in der Familie führen; dass Lehrer in der Schule zwar den Zusammenhang zwischen Leistungsproblemen und psychischer Belastung ihrer Schüler erkennen, sich aber nicht aufgerufen fühlen, aktiv zu werden und eine diagnostische und unterstützende Intervention in der Familie in Gang zu setzen. Derartige Beispiele ließen sich noch in vielfältiger Weise fortsetzen.
Daher halten wir auch Ansätze, wie sie bspw. im neuen Lehrbuch »Soziale Arbeit mit Familien« von Uhlendorf et al. (2013) vermittelt werden, die ausschließlich an den Definitionen, Konzepten und Methoden einer Profession, hier der Sozialen Arbeit ansetzen, für verfehlt. Mittlerweile gibt es, auch aus der klinischen Sozialarbeit selbst, deutliche empirische Hinweise darauf, dass klassische Interventionsformen der Jugendhilfe wie z. B. die Sozialpädagogische Familienhilfe ihre Wirkung häufig auch deshalb verfehlen, weil sie eine professionsspezifisch zu eingeengte Vorgehensweise umsetzen, anstatt in Interventionsprozessen systematisch diagnostische, soziale, psychologische, psychotherapeutische, heilpädagogische und medizinische Hilfen, Erkenntnisse und Methoden zu verknüpfen (Gahleitner & Hahn 2008).
Der Schlüsselbegriff einer zeitgemäßen Familienhilfe heute lautet daher: Vernetzung. Der Handlungsfeldbegriff, der in der vorliegenden Buchreihe umgesetzt wird, versucht, die Problematiken, Hilfebedarfe und Interventionsmöglichkeiten aus der dem Feld – hier: Familie – eigenen Struktur und Dynamik zu entwickeln. Professionen und ihre Handlungslogiken kommen erst da ins Spiel, wo Problematiken und Bedarfe von Familien aus einem Verständnis des Feldes selbst klar geworden sind und man die Frage sinnvoll stellen kann, welches Hilfsangebot, welche Intervention, welche Methode hier am ehesten Erfolg verspricht, um dann zu prüfen, von welcher Profession oder Institution – oder einer Kombination von diesen – dies geleistet werden kann. Wir halten es daher auch nicht für sinnvoll, ein Lehrbuch zur Arbeit mit Familien auf der Basis des Methodeninstrumentariums einer Profession aufzubauen, sondern wählen den Weg, Probleme und Hilfebedarfe von Familien zunächst anhand des Entwicklungszyklus der Familie in seinen verschiedenen Phasen aufzubauen, um dann noch spezifischere Problemfelder im Bereich Familie darzustellen. Maßgeblich sind hierbei die aus der Struktur, Dynamik und Entwicklungslogik von Familien hervorgehenden Problemstellungen und Aufgaben. Wie sich im Verlaufe des Buches zeigen wird, sind zeitgemäße professionelle Interventionen in den meisten Fällen nur aus einer Kombination der Handlungsweisen verschiedener Professionen und der Kooperation verschiedener Einrichtungen und Dienste zu leisten. Daher erscheinen uns gerade auch solche Konzeptionen von Institutionen und Diensten besonders zukunftsweisend zu sein, in denen schon institutionell verankert verschiedene Professionen koordiniert zusammenarbeiten und Familien möglichst vielfältige Dienste und Hilfsangebote aus einer Hand bzw. unter einem Dach zur Verfügung stellen. Zu nennen wären hier insbesondere neue Konzeptionen für Familienzentren, das Mehrgenerationenhaus, neue Konzeptionen für Beratungszentren, Familienkliniken sowie die erreichten Fortschritte bei der Koordinierung im Rahmen der Frühen Hilfen, die im Folgenden ausführlich dargestellt werden. Im Bereich der Familienberatung ist das sog. Multidisziplinäre Team sogar gesetzlich fest geschrieben. Besonderer Bedarf an Vernetzung und Kooperation besteht darüber hinaus im Bereich des Kinderschutzes. Ein weiterer Bereich, in welchem eine interprofessionelle Kooperation nun auch gesetzlich festgeschrieben ist, ist die Familiengerichtsbarkeit bzw. die Beratung von Eltern nach Trennung/Scheidung in Sorge- und Umgangsrechtskonflikten (Roesler 2012).
Selbst in der Medizin, beispielsweise in der hausärztlichen Praxis, aber auch in stationären Klinikkontext, ist mittlerweile die Erkenntnis angekommen, dass Patienten Familien haben und eine Erkrankung, insbesondere eine chronische Erkrankung, sinnvoll nur im Kontext der Familie verstanden, diagnostiziert und behandelt werden kann. Diese neue Ausrichtung in der medizinischen Versorgung wird als Familienmedizin bezeichnet, wobei sich dieser Ansatz in Deutschland bisher nur zögerlich durchsetzt, während in den USA eine zum Teil schon jahrzehntelange Praxis und Institutionalisierung der Familienmedizin stattgefunden hat (vgl. McDaniel et al. 1992; einen guten Überblick über die Situation in Deutschland gibt das Themenheft der Zeitschrift Familiendynamik 2/2013). Familienmedizin akzeptiert die grundlegende Tatsache, dass von einer Erkrankung meist auch andere Familienangehörige betroffen sind (z. B. wirkt sich eine Prostatakrebserkrankung beim Mann immer auch auf die Paarbeziehung und die Sexualität aus), dass man bei einem Gespräch mit Angehörigen oder der ganzen Familie sehr viel mehr über die Kontextbedingungen der Erkrankung und ihre Auswirkungen auf die Familie erfährt (typisch ist z. B., dass ein erfahrener Kardiologe bei einer Herzerkrankung des Mannes routinemäßig auch ein Gespräch mit der Partnerin führt, weil er von dieser sehr viel mehr über die Belastungen ihres Partners erfährt) und dass man für eine erfolgreiche Behandlung die Unterstützung von Angehörigen bzw. der Familie gewinnen muss (dies wird z. B. in der psychotherapeutischen Behandlung von Essstörungen systematisch umgesetzt, indem immer auch einen Familiengespräch geführt wird; s. Kap. 12). Der letztere Aspekt der...