Einleitung
Die ideale Begegnung mit einem älteren Menschen kann am besten beschrieben werden, wenn man sie durch die Augen eines Kindes betrachtet. Ich habe das an den vielen Sonntagnachmittagen gelernt, an denen ich einen meiner drei Söhne oder mehrere von ihnen in das Altersheim mitgenommen habe, in dem ich als geriatrischer Psychiater arbeite. Für einen kleinen Jungen oder ein kleines Mädchen ist das ein aufregender Ort, denn der riesige Innenhof dieser ehrwürdigen Institution in Miami wird durch ein Blätterdach zweier gewaltiger, 400 Jahre alter Kapokbäume überschattet. Hier gibt es Orte zum Verstecken zwischen den Wellenbewegungen der unteren Äste, die in gleichermaßen riesige Wurzeln übergehen. Kinder jagen gerne die braun und golden gesprenkelten, frei laufenden Hühner in einem mit Rankgittern versehenen Garten herum und laufen in den großen hölzernen Pavillon des Hofs hinein und wieder heraus, der von einem eindrucksvollen Banyanbaum und mehreren großen, mit Farn bewachsenen Dattelpalmen umgeben ist. Wie sich gewöhnlich herausstellt, besteht selbst für das wildeste Kind ein ebenso einprägsamer Teil des Tages darin, eine Reise durch die Stockwerke des Hauses zu machen, um die dort wohnenden Großeltern oder andere Personen, die man gerne mag, zu besuchen. Als Erwachsener bin ich fasziniert davon, wie die Bewohner des Heims von den auf Besuch kommenden Kindern angezogen werden, wie sie Hände halten, lachen und Begrüßungen auf Englisch, Spanisch, Kreolisch und Jiddisch ausrufen.
Zu einem ganz besonderen Besuch nahm ich meinen ältesten Sohn mit, der damals sechs Jahre alt war; wir wollten unsere älteste Bewohnerin treffen, eine 106 Jahre alte Frau namens Gloria. Auf dem Weg dorthin stellte mein Sohn eine Frage nach der anderen: „Wie alt ist sie eigentlich?“, „Wie ist es, 106 zu sein?“ und „Was macht sie den ganzen Tag lang?“. Er fragte sich, ob sie so sein würde wie die weit über 100 Jahre alte Japanerin, die im Alter von 116 zwei Tage schlief und dann die folgenden zwei Tage wach blieb. Als wir uns mit Gloria trafen, stellte er seine Fragerei plötzlich ein, und die beiden Augen, die sich kurz vorher über den mit weißen Kacheln ausgelegten Korridoren hin und her bewegt hatten, wurden nun groß wie Untertassen. Ich betrachtete diese Szene mit meinem kleinen Sohn und der älteren Frau, die einander anstarrten angesichts des Wunders der 100 Jahre, die zwischen ihnen lagen. Im Gesicht meines Sohnes und in seinem gesamten Verhalten bemerkte ich ein Gefühl der Ehrfurcht und der tiefen Neugier. Wir haben seitdem die Einrichtung viele Male besucht, aber er erinnert sich immer noch an diesen unbeschreiblichen Augenblick.
Wenn meine Aufgabe nur darin bestünde, das einzige und wichtigste therapeutische Instrument für Altentherapeuten zu nennen, so würde ich die Haltung meines kleinen Sohnes an diesem Tag als ultimative Ressource festhalten. Zahlreiche Erfahrungen aus der Praxis mit älteren Menschen haben mich gelehrt, dass der Sinn für solch ein Wunder immer noch der effektivste therapeutische Ratgeber ist. Ich schreibe dies in dem Wissen, dass all die Herausforderungen, die sich bei der Arbeit mit seelisch belasteten Klienten ergeben, im Laufe der Zeit verstärkt werden und leicht die Geduld und Fürsorglichkeit erdrücken können, die wir in jede Begegnung einbringen wollen. Der Zweck dieses Buches besteht darin, angehenden Altentherapeuten und anderen Berufsgruppen, die sich ärztlich und psychologisch mit älteren Menschen beschäftigen, verschiedene zentrale Instrumente an die Hand zu geben, um sie durch den Arbeitsalltag mit diesen älteren Klienten zu leiten, während gleichzeitig die grundlegenden Werte bewahrt werden, die uns zu einer wirklich guten Arbeit inspirieren. Doch lassen Sie mich zu Beginn dieser Reise drei zentrale, miteinander zusammenhängende Tugenden betonen, die jeglicher erfolgreicher therapeutischer Arbeit zugrunde liegen.
Neugier
Für Neugier gibt es viele Definitionen. Sie lässt sich aber vielleicht am besten mit den Worten eines ihrer eifrigsten „Anwender“ veranschaulichen. „Die Erfahrung hat mich gelehrt“, schrieb der große amerikanische Psychiater Henry Murray, „nicht an starre Überzeugungen, sondern an den aufregenden Prozess ihrer ständigen Rekonstruktion zu glauben, um immer wieder neue Tatsachen, Erfahrungen und Zustände zu berücksichtigen“ (übersetzt aus Murray, 1954 / 1981, S. 613). Ein solcher alles durchdringender Geist der Neugier ermöglicht es dem Altentherapeuten, sich in die Komplexität des älteren Klienten mit Interesse, Offenheit und Geduld zu vertiefen. Er vermittelt uns das erforderliche Wissen für die ärztliche Beurteilung, aber auch die Freude daran, etwas über dieses lange Leben eines Menschen in Erfahrung zu bringen, und er hilft uns dabei, eine von Fürsorge getragene, enge Beziehung aufzubauen. Die Lenkung der eigenen Neugier am älteren Klienten – d. h. die Fähigkeit, sie zugunsten des Klienten angemessen einzubringen, nicht einfach nur den eigenen geistigen und emotionalen Impulsen nachzugeben – ist eine zentrale Komponente bei der Reifung als Therapeut.
Neugier trägt auch dazu dabei, dass wir die Paradoxien des Alterns verstehen und bewältigen, ohne selbst überwältigt zu werden oder die Hoffnung zu verlieren. Wie wichtig es ist, sich mit einer solchen ärztlichen Dialektik zu befassen, wurde durch eine faszinierende Abhandlung mit dem Titel „The Productive Paradoxes of William James“ illustriert, die von dem Sozialpsychologen Gordon Allport (1943) verfasst wurde. In dieser Abhandlung sprach Allport von mehreren zentralen „Rätseln“, denen jeder Psychologe in seiner Arbeit begegnet. Dazu gehört auch das psychophysische Rätsel („In welcher Beziehung steht die Seele zum Körper?“) und das Rätsel des Selbst („Wie kann man die Einheit der menschlichen Persönlichkeit erklären?“). Allport beschrieb, wie außerordentlich erfolgreich William James darin war, alle Aspekte dieser Rätsel zu erkunden, ohne auf einer Antwort zu bestehen. Diese Fähigkeit geht vielleicht auch auf das zurück, was James in seiner eigenen Entwicklung erlebte, die gleichzeitig nebeneinander bestehende Zustände tiefer Depression und großer Hoffnung mit einschloss. Ähnlich wie Murray sprach Allport davon, wie edel die Neugier sei: „Zu eng gefasste Grenzen können weder Ihre Wissenschaft retten, noch können sie der Menschheit helfen. Sorgen Sie dafür, dass Ihre Ansätze vielfältig sind. ... Wenn Sie sich in Paradoxien verstricken, fragen Sie sich, wozu das gut ist“ (übersetzt aus Allport, 1943, S. 119).
Meine erste Anweisung an den Leser lautet also: Lassen Sie Ihre Neugier das erkunden, was ich die „produktiven Paradoxien des Alters“ nenne, denn hier handelt es sich um Themen, auf die ich in diesem Buch immer wieder zurückkommen werde. Vergleichbar mit der Arbeit der Zellen im menschlichen Körper beschäftigt sich jede dieser Paradoxien des Alterns mit dem gleichzeitigen Auf- und Abbau der Produkte des Lebens. Das Ziel dieses Buches besteht darin, die positiven Elemente, die oft übersehen werden, stark hervorzuheben; der Schlüssel zu ihrer Entdeckung sind dabei die Neugier des Therapeuten und die Neugier des Klienten. Zu den Paradoxien gehören die folgenden:
Körper versus Seele
In Kapitel 1 setze ich mich mit einer Definition des Alterns und mit mehreren wichtigen Theorien zum Lebenszyklus auseinander. Am auffälligsten bei dieser Erörterung ist die Spannung zwischen dem körperlichen Abbau und der eindeutig vorhandenen Möglichkeit seelischen Wachstums und seelischer Reifung. Manchmal nehmen wir an, dass der körperliche Verfall unvermeidlich einen seelischen Verfall mit sich bringt; doch hier handelt es sich um eine eingeschränkte Sicht auf den Prozess des Alterns. Denn neben der messbaren Kontinuität des zellulären Alterns beachtet sie nicht die qualitativen Diskontinuitäten, die man in der psychologischen Entwicklung des hohen Alters beobachten kann.
Wachstum versus Abbau
Es kann einem schon schwindelig werden, wollte man alle mit dem Alter zusammenhängenden Veränderungen im sozialen und psychischen Leben älterer Klienten zusammenstellen. Dies gilt vor allem dann, wenn Sie bestimmte zentrale Gewohnheiten, Beziehungen und Aktivitäten zu erhalten oder sogar zu erweitern versuchen, während Sie gleichzeitig mit enormen Ausfällen in diesen Bereichen konfrontiert sind. Kapitel 2 beschäftigt sich mit den Aufgaben eines Therapeuten, der sich mit diesen scheinbar gegensätzlichen Kräften – bezogen auf unterschiedliche Klienten und unterschiedliche Settings – auseinandersetzt und sich darauf konzentriert, wie wir auf unsere eigenen inneren Ängste und Vorurteile gegenüber dem Altern reagieren und wie wir sie bewältigen. Kapitel 3 gibt einen Überblick darüber, wie man in der Beurteilungsphase die wichtigsten mit dem Alter einhergehenden Elemente identifiziert. Kapitel 4 erörtert die Aufgaben und Reaktionen der Betreuungspersonen.
Eros versus Thanatos
Die Nähe zu Thanatos (das griechische Wort für den Tod wird in der Psychoanalyse im Sinne des Todestriebs verwendet) oder die Nähe zum Tod nimmt im hohen Alter immer stärker zu, auch wenn Personen dem Eros folgen, der für das Lieben und lebensbejahende Beziehungen und Aktivitäten steht. Die häufigen altersbezogenen medizinischen Probleme, die in den Kapiteln 5 bis 8 erörtert werden, stehen für die Diskontinuitäten bei der Verfolgung von Eros – wie etwa jene, die sich durch körperliche Krankheit, Schmerzen, Depression, kognitive Beeinträchtigung oder Verlust von Personen, die man geliebt hat, ergeben – und für die Unterwerfung unter Thanatos, indem sich manche Menschen voller Verzweiflung...