Vorwort
Was haben die Bücher der Bibel, die Gesänge Homers, die Werke von Schiller und Goethe, die Erzählungen von Joseph Roth, die Romane von James Joyce und von Friedrich Glauser gemeinsam? − Die Rechte für diese Texte sind abgelaufen. Sie sind gemeinfrei oder Public Domain. Das gilt auch für die Meisterwerke von Botticelli, Tizian, Ferdinand Hodler, Sophie Taeuber-Arp oder Wassily Kandinsky. Sie alle sind seit mehr als siebzig Jahren tot. Ihre Werke dürfen ohne weitere Abgeltung genutzt werden. Ob sie nun neu herausgegeben, ob ihre Texte adaptiert, gekürzt, verändert werden, ob ihre Bilder in Büchern reproduziert oder auf T-Shirts, Aschenbecher und Teetassen gedruckt werden – alles ist erlaubt.
Was ihr ererbt von euren Vätern habt,
remixt es, um es zu besitzen.
(frei nach Johann Wolfgang von Goethe)
Public Domain ist keine Ausnahme, sondern die Regel. Die überwiegende Mehrheit aller künstlerischen Werke, die in der Kulturgeschichte der Menschheit geschaffen wurden, ist frei. Geschützt ist nur ein winzig kleiner Teil: nämlich jene Werke, deren Urheber noch nicht siebzig Jahre tot sind.
Eigentlich ist das alles nicht neu, und in den meisten Ländern ist das Recht auf Nutzung seit Jahrzehnten in den nationalen Urheberrechtsgesetzen verankert. Warum wird es gerade jetzt zum Thema? –Im Zuge der Computerrevolution der letzten Jahrzehnte wurden überall künstlerische Werke der Vergangenheit digitalisiert. Ein unübersehbares Angebot steht heute gratis zur Verfügung. Kulturelle Werke zum Nulltarif in der Form von Public Domain – das mag für die junge Generation eine Selbstverständlichkeit sein, für alle anderen ist es eine Revolution. Bis vor wenigen Jahren galt die Regel: Bücher kosten Geld, auch wenn die Texte darin alt sind und seit Jahrzehnten keine Überarbeitung mehr erfahren haben. Ähnlich war es mit Reproduktionen von Bildern: Auch dafür musste bezahlt werden, und die Beschaffung war oft mit viel Aufwand verbunden.
Lange, vielleicht zu lange, war die Diskussion um das Thema Kultur und Digitalisierung vom Umgang mit aktueller Musik und der hitzig geführten Debatte über die Möglichkeiten des Downloads bestimmt. Eine Praxis, die in Deutschland verboten, in der Schweiz aber nach wie vor erlaubt ist. Darum geht es in diesem Buch nicht. Es geht vielmehr um freie kulturelle Werke. Das vorliegende Buch unternimmt eine Tour d’Horizon durch die Welt dieser freien kulturellen Werke. Dabei geht es weniger um die Werke an sich als um grundsätzliche Fragen, die sich im Alltag stellen. Sie stellen sich jeder Leserin und jedem Leser, jeder Hörerin und jedem Hörer, oder neudeutsch allen Usern. Und sie stellen sich noch stärker all jenen, die sich professionell im weitesten Sinne mit Kultur beschäftigen: also Vermittlern, Kuratoren, Herausgebern, Lehrpersonen und Medienschaffenden. Für sie alle ist dieses Buch gedacht.
Zu Beginn des Buches stehen das Gesetz und die Auseinandersetzung mit grundsätzlichen juristischen Fragen. Der Teufel liegt bekanntlich im Detail, und hier soll der Text des Zürcher Urheberrechtsspezialisten Martin Steiger weiterhelfen: Wann genau ist ein Werk Public Domain? Und wie ist das mit der Übersetzung? –Bei Werken, die wie die Bibel ständig neu übersetzt werden, eine sehr wichtige Frage. Wie verhält es sich mit Bildern, vor allem wenn hoch auflösende Daten fehlen? –Gibt es ein Recht auf diese Daten? Und wie sieht es schliesslich mit dreidimensionalen Objekten aus? Man denke etwa an den berühmten ‹David› von Michelangelo: Sind Bilder dieser Skulptur aus dem frühen 16. Jahrhundert auch gemeinfrei?
Das Rijksmuseum Amsterdam mit seinen weltberühmten Gemälden von Rembrandt, Jan Vermeer oder Frans Hals hat mit seiner Neueröffnung im Frühjahr 2013 einen grossen Coup gelandet und eine schwindelerregende Zahl von Kunstwerken digital in hoher Auflösung zugänglich gemacht. Die Aktion sandte eine Schockwelle durch die Museumslandschaft: viele waren begeistert, einige aber auch schockiert. Wie sieht es nun in der Schweiz aus mit dem Zugang zu digitalisierten Werken der Kunst, der Literatur, der Musik und des Films? –Unser Autor Daniel Boos, er gehört selbst zu den Public-Domain-Aktivisten, hat Kulturinstitutionen befragt und dabei eine interessante Feststellung gemacht: Nicht wenige der angefragten Spezialisten zeigten sich überrascht und hatten zum Zeitpunkt der Anfrage noch keine Antwort bereit. Für die Herausgeber dieses Buches ein Hinweis auf die Aktualität dieses Bandes. Für viele Kulturinstitutionen hat inzwischen ein Lernprozess begonnen. Wie ein solcher Prozess aussehen kann, schildert die Kuratorin Merete Sanderhoff vom Statens Museum for Kunst (SMK) in Kopenhagen. Sie bringt das Potenzial von Digitalisierung auf den Punkt: «Wir haben heute die Möglichkeiten, die Vision der Aufklärung umzusetzen: Zugang zu Wissen und Bildung für alle. Jeder auf unserer Welt sollte diese Möglichkeit haben.» Die Bilder aus der dänischen Nationalgalerie sind heute auch bei Wikipedia zu finden. Auch das ist ein Teil des Lernprozesses, den man in Dänemark durchlaufen hat. Die Online-Enzyklopädie Wikipedia ist auf Public-Domain-Werke angewiesen.
Immer mehr Bibliotheken, Archive und Museen kooperieren deshalb mit Wikimedia, das ist die Bilder- und Mediensammlung der Online-Enzyklopädie Wikipedia. Auch in der Schweiz gibt es bereits erste Erfahrungen mit dieser Zusammenarbeit: Zum Gedenken an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs machte etwa im Jahr 2014 das Schweizerische Bundesarchiv 5100 Fotos aus dieser Zeit online zugänglich und übertrug diese auch auf die Plattform Wikimedia.1 2015 geschah dasselbe mit der berühmten Sammlung Gugelmann. Es handelt sich dabei um einen umfangreichen Bestand der Schweizerischen Nationalbibliothek (NB) mit Landschaftsansichten und Bildern von helvetischen Brauchtümern aus dem 18. und 19. Jahrhundert.2
Das vorliegende Buch ist der dritte Band der Serie ‹Edition Digital Culture› und wird vom Migros-Kulturprozent im Christoph Merian Verlag herausgegeben. Seit 1998 fördert das Migros-Kulturprozent Projekte im Bereich der digitalen Kultur. Das gilt auch für das Thema Public Domain. Vor einigen Jahren hat der Herausgeber die Schweizer Aktivisten um Daniel Boos und Mario Purkathofer gebeten, ihren damals durchgeführten Public-Domain-Tag, der jeweils am 1. Januar des Jahres stattfand, in einem etwas grösseren Rahmen durchzuführen. Das haben sie mit dem viel beachteten Projekt ‹Re:Public Domain› im Jahr 2013 mit Anlässen an verschiedenen Orten der Schweiz getan.3 Mario Purkathofer und Daniel Boos, die Initiatoren des Projekts, kommen in diesem Buch ausführlich zu Wort. Eine Bearbeitung ganz besonderer Art ist die Neufassung des Jahrhundertromans ‹Der Mann ohne Eigenschaften› von Robert Musil: Mario Purkathofer hat dieses Werk in Spiegelschrift gesetzt und neu gedruckt. Warum dies mehr als eine Spielerei ist, erklärt die Musil-Kennerin Villö Huszai in ihrem Beitrag. Solche radikalen Bearbeitungen von künstlerischen Werken mögen einigen respektlos vorkommen. Sie stellen aber nichts anderes als eine innovative Art von Aneignung dar. Die Kunst- und Medienwissenschaft spricht bei solchen Bearbeitungen heute von einem Remix. Der Remix ist zu einer zentralen künstlerischen Praxis der Gegenwart geworden. Was dies genau bedeutet, erklären die letzten beiden Aufsätze im vorliegenden Buch von Wolfgang Ullrich und Leonhard Dobusch. Public Domain ist ein Thema, das noch an Wichtigkeit gewinnen wird. Zwei weitere Themen sind eng damit verbunden: ‹Open Data› und ‹OpenGLAM›. Bei beiden geht es um freien Zugang zu Daten – im Fall von Open Data gehören dazu beispielsweise offizielle Statistiken, im Fall von OpenGLAM geht es um Daten von Galerien, Bibliotheken, Archiven und Museen – englisch eben ‹Galleries, Libraries, Archives, Museums›.4 Das Recht auf Schutz von künstlerischen Werken ist zwar Teil der Europäischen Menschenrechtskonvention. Es gibt aber neben dem Recht auf Schutz auch einen Anspruch auf Zugang. Das hält etwa ein aktueller Bericht des UN-Menschenrechtsrats vom Dezember 2014 fest.5
War nun auch Johann Wolfgang von Goethe, wie wir heute mit einem Augenzwinkern feststellen können, ein Freund des Remix? Das eingangs leicht veränderte Zitat aus ‹Faust I› lautet wörtlich: «Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen. Was man nicht nützt, ist eine schwere Last, nur was der Augenblick erschafft, das kann er nützen.»
Dominik Landwehr, Zürich, Oktober 2015
Dominik Landwehr (* 1958) ist Leiter des Bereichs Pop und Neue Medien in der Direktion Kultur und Soziales beim Migros Genossenschafts-Bund und Herausgeber der Reihe ‹Edition Digital Culture›. Er ist verantwortlich für Projekte wie die Internetplattform www.digitalbrainstorming.ch, den Jugendwettbewerb bugnplay.ch oder das Förderprogramm ‹Digitale Kultur›. Landwehr ist promovierter Kultur- und Medienwissenschaftler...