Kapitel 1
Homo sovieticus
A
n der Newa, knapp 50 Kilometer von Leningrad entfernt, rückte Wladimir Spiridonowitsch Putin auf einem mit Kratern übersäten Schlachtfeld vor. Seine Befehle glichen einem Himmelfahrtskommando. Er sollte die deutschen Stellungen auskundschaften und, wenn möglich, eine »Zunge« gefangen nehmen – im Armee-Jargon einen Soldaten zum Verhören. Es war der 17. November 1941 und bereits bitterkalt.[1] Die gedemütigte Sowjetarmee kämpfte verzweifelt darum, ihre vollständige Zerschlagung durch Nazi-Deutschland abzuwenden. Die letzten Reservepanzer aus der Stadt hatten die Newa vor einer Woche überquert, und Putins Kommandeure hatten nun Befehl, die von 54 000 deutschen Infanteristen gehaltenen, stark befestigten Stellungen zu durchbrechen.[2] Putin hatte keine Wahl: Er musste gehorchen. Er und ein Kamerad näherten sich einem Schützenloch an einer von Gräben durchzogenen, mit Granattrichtern übersäten und blutgetränkten Front. Plötzlich erhob sich ein Deutscher. Alle drei Männer waren überrascht. Einen erstarrten Augenblick lang geschah nichts. Der Deutsche reagierte zuerst, zog den Splint einer Handgranate und warf sie vor Putins Füße. Sein Kamerad wurde getötet, und Putins Beine von Splittern durchsiebt. Der deutsche Soldat hielt Putin für tot und floh. »Das Leben ist eigentlich eine ganz einfache Sache«, sagte ein Mann, der die Geschichte Jahrzehnte später mit einem charakteristischen Fatalismus erzählte.[3]
Putin, damals 30 Jahre alt, lag verwundet an einem Brückenkopf am Ostufer der Newa. Die Befehlshaber der Roten Armee hatten Truppen über den Fluss geschickt, in der Hoffnung, die Einkesselung Leningrads zu durchbrechen, doch der Versuch scheiterte. Zwei Monate zuvor hatte die Blockade mit der Eroberung Schlüsselburgs (heute: Petrokrepost) begonnen, einer alten Festungsstadt an der Newa-Mündung.
Die deutsche Blockade Leningrads dauerte 872 Tage. Durch Bomben, Hunger und Krankheit verloren dabei eine Million Zivilisten ihr Leben. Der Führer habe beschlossen, St. Petersburg dem Erdboden gleichzumachen, hieß es in einem deutschen Geheimbefehl vom 29. September. Eine Kapitulation werde nicht akzeptiert. Artillerie- und Luftangriffe sollten die Instrumente der Zerstörung sein und der Hunger ihr Komplize, da man die Ernährung der Bevölkerung nicht als Aufgabe der Sieger betrachtete.[4] Nie zuvor hatte eine moderne Stadt eine vergleichbare Belagerung durchlitten.
»Sind Eure Verluste hiermit zu Ende?«, telegrafierte ein aufgebrachter Stalin am zweiten Tag der Belagerung an die Verteidiger der Stadt. »Vielleicht habt Ihr schon beschlossen, Leningrad aufzugeben?« Das Telegramm war von der gesamten sowjetischen Führung unterzeichnet, darunter auch von Wjatscheslaw Molotow, der 1939 gemeinsam mit seinem deutschen Amtskollegen Joachim von Ribbentrop den berüchtigten Nichtangriffspakt unterzeichnet hatte, der inzwischen gebrochen worden war.[5]
Es war keinesfalls das Ende der Verluste. Die Einnahme von Schlüsselburg fiel mit heftigen Luftangriffen auf Leningrad selbst zusammen, bei welchen unter anderem auch das größte Lebensmittellager der Stadt in Flammen aufging. Die Sowjetstreitkräfte, die die Stadt verteidigten, waren, wie überall in der Sowjetunion, in Auflösung begriffen. Das Unternehmen Barbarossa, die am 22. Juni 1941 begonnene Invasion der Nazis, hatte die sowjetischen Verteidigungslinien entlang einer fast 1600 Kilometer langen Grenze von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer durchbrochen. Selbst Moskau schien in Gefahr.
Für Stalin kam eine Aufgabe Leningrads nie infage. Er betraute den Chef des Generalstabs, Georgi Schukow, damit, die Verteidigung der Stadt zu organisieren, was dieser mit großer Brutalität tat. Am Abend des 19. September unternahmen sowjetische Streitkräfte auf Schukows Befehl einen ersten, 600 Meter weiten Vorstoß über die Newa, um die Blockade zu brechen, wurden jedoch durch die überwältigende deutsche Feuerkraft zurückgeschlagen. Im Oktober versuchte man es noch einmal und entsandte die 86. Division, zu der auch Putins Einheit, das 330. Schützenregiment, gehörte. Der Brückenkopf, den diese Truppen am Ostufer der Newa errichten konnten, wurde aufgrund seiner Größe Newski Pjatatschok genannt, nach dem Wort für ein Fünf-Kopeken-Stück oder ein sehr kleines Fleckchen Land. An der Stelle seiner größten Ausdehnung war das Schlachtfeld gerade einmal anderthalb Kilometer lang und weniger als 800 Meter breit. Für die Soldaten, die dazu verdammt waren, dort zu kämpfen, war es eine brutale, sinnlose Todesfalle.
Putin war ein ungebildeter Arbeiter, einer von vier Söhnen von Spiridon Putin, eines Küchenmeisters, der vor der Revolution einst in dem berühmten Hotel Astoria in der Stadt gearbeitet hatte. Spiridon war zwar ein Anhänger der Bolschewiki, verließ die Reichshauptstadt jedoch während der auf die Oktoberrevolution 1917 folgenden Unruhen und Nahrungsmittelengpässe. Er ließ sich im Dorf Pominowo in der sanften Hügellandschaft westlich von Moskau nieder, woher seine Familie stammte. Dort kochte er für Wladimir Lenins Witwe Nadeschda Krupskaja in deren offizieller sowjetischer Datscha im Gorki-Distrikt am Stadtrand vom Moskau.[6]
Nach ihrem Tod im Jahre 1939 arbeitete er am Rückzugsort des Komitees der Kommunistischen Partei Moskaus. Im Astoria soll er einmal für Grigori Rasputin gekocht haben und einmal auch für Josef Stalin, als dieser Lenins Witwe besuchte. Damit begründete er eine Familientradition im Dienste der politischen Elite. Die Nähe zur Macht konnte seine Söhne jedoch nicht vor den Nazis schützen; die ganze Nation kämpfte ums Überleben.
Als die Nazis im Juni 1941 die Sowjetunion überfielen, war Wladimir Putin bereits ein Veteran. In den dreißiger Jahren hatte er auf U-Booten gedient, bevor er sich unweit von Leningrad in dem Dörfchen Petrodworez (Petersdorf) niedergelassen hatte, wo Peter der Große seinen Palast am Finnischen Meerbusen errichtet hatte. In den chaotischen Tagen, die der Invasion folgten, hatte er sich, wie viele seiner Mitbürger, sofort als Freiwilliger zur Verteidigung der Nation gemeldet und war anfangs einer Störabteilung des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten der UdSSR (NKWD) zugeteilt – der gefürchteten Geheimdienstbehörde, aus der später der KGB hervorgehen sollte. Das NKWD schuf 2222 solcher Abteilungen, um die Nazis hinter der Front zu schikanieren, welche damals rasch näher kam.[7] Eine der ersten Missionen Putins im Krieg war eine Katastrophe. Er und 27 andere Partisanen sprangen nahe der Stadt Kingissepp (Jamburg) mit dem Fallschirm hinter den deutschen Truppen ab, die auf Leningrad vorrückten. Die Stadt lag nahe der Grenze zu Estland, welches die Sowjetunion zusammen mit Lettland und Litauen im Jahr zuvor besetzt hatte, als Teil des berüchtigten Nichtangriffspakts mit Hitler. Putins Abteilung gelang es angeblich, ein Waffendepot in die Luft zu sprengen, doch bald wurden Verpflegung und Munition knapp. Einheimische versorgten sie mit Nahrungsmitteln, verrieten sie aber auch an die Deutschen, die von vielen Balten – wenigstens zu Anfang – als Befreier von der sowjetischen Besatzung willkommen geheißen wurden. Deutsche Truppen umzingelten die Einheit und feuerten auf sie, als diese versuchte, über eine Straße zurück zu den sowjetischen Linien zu gelangen. Putin trennte sich von seiner Truppe, verfolgt von Deutschen mit Hunden, und verbarg sich in einem Sumpf, wo er untertauchte und durch ein Schilfrohr atmete, bis die Häscher ihre Suche nach ihm aufgaben.[8]
Wie genau er es wieder zurückschaffte, verliert sich im Nebel der Geschichte, doch überlebten nur er und drei weitere Mitglieder seiner Einheit den Überfall. Das NKWD verhörte ihn nach seiner Flucht, doch es gelang ihm, den Verdacht der Fahnenflucht oder Feigheit zu zerstreuen. Bald schickte man ihn zurück an die Front.[9] Vielleicht war Putin besonders mutig, vielleicht trieb ihn aber auch nur blanke Angst: Stalins am 16. August ausgegebener Befehl Nr. 270 drohte Soldaten, die sich ergaben, mit Hinrichtung und ihren Familien mit Internierung.
T
rotz aller Bemühungen seitens der Behörden, den Schein der Normalität zu wahren, verschlechterten sich die Lebensbedingungen in Leningrad zusehends. Die Schule begann regulär am 1. September, doch nur drei Tage später schlugen die ersten deutschen Granaten in der Stadt ein.[10] Da die Blockade nun vollständig war und die Stadt regelmäßig aus der Luft angegriffen wurde, verschärften die Behörden die Rationierung von Lebensmitteln.
Nach und nach wurden die Rationen kleiner, was zu Mutlosigkeit, Verzweiflung und schließlich zum Tode führte. Während Wladimir Putin außerhalb der Stadt kämpfte, waren seine Frau Maria und ihr kleiner Sohn darin gefangen. Wladimir und Maria, beide Jahrgang 1911, waren Kinder des turbulenten russischen 20. Jahrhunderts, geprägt vom Ersten Weltkrieg, der bolschewikischen Revolution und dem darauf folgenden Bürgerkrieg. Sie lernten sich in Pominowo kennen, wohin sein Vater nach der Revolution gezogen war, und heirateten 1928 im zarten Alter von 17 Jahren. Die Jungvermählten zogen zurück nach Leningrad, wo sie sich 1932 bei ihren Verwandten in Petrodworez niederließen. Nach Putins Militärdienst in der Marine bekamen sie einen Sohn namens Oleg, der noch im Kindesalter verstarb. Ein Jahr vor Kriegsausbruch bekamen sie einen zweiten Sohn, Viktor.
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