(Sonder-)pädagogische Fallakquise und ihre Problemfelder am Beispiel der Thematik Adipositas im Kindes- und Jugendalter
Hendrik Trescher & Ulrich Oevermann
1 Allgemeines
Der vorliegende Beitrag behandelt die Akquiseproblematik im sonderpädagogischen Feld. Dabei soll die direkte Beforschung der sonderpädagogischen Klientel im Vordergrund stehen.1 Es werden zunächst gängige Wege des Feldzugangs in der sonderpädagogischen Forschung vorgestellt und diskutiert. Damit, das sei bereits jetzt erwähnt, soll Forschenden nicht der Eindruck vermittelt werden, dass sonderpädagogische Feldforschung nur schwer gelingen kann, vielmehr soll in diesem Zusammenhang auf potenzielle Hürden und Problematiken aufmerksam gemacht werden. Im Anschluss daran soll die mitunter multiple Problematik des Feldzugangs beispielhaft am Forschungsprojekt Adipositas im Kindes- und Jugendalter dargelegt werden.
Forscher müssen oftmals von einem von vorn herein festgelegten, mitunter mühevoll ausgearbeiteten, Akquisesetting abweichen, wenn im Verlauf der Akquise festgestellt wird, dass das oftmals idealtypisch formulierte Setting in der Forschungspraxis nicht eingehalten werden kann, weil es schlicht nicht zur gewünschten Materialgewinnung führt. Die Forschenden treffen immer wieder auf nicht einkalkulierte Hürden, die den Ablauf der Akquise verändern. Akquisetätigkeit ist aufgrund des hohen Intimitätsgrades, in welchen bei der sonderpädagogischen Feldforschung eingedrungen wird, nicht immer leicht zu planen. So sind manche Thematiken beispielsweise stark schambesetzt, und es ist nicht einfach, Menschen auf diese Themen, wie im Beispiel hier Adipositas, anzusprechen. Auch die Akquise über bestimmte Vermittler ist nicht immer einfach umzusetzen, bzw. mitunter gar nicht möglich. Hier sind beispielsweise Beratungskontexte zu nennen.
2 Gängige Wege des sonderpädagogischen Feldzugangs
Trotz guter Planung ist es in der sonderpädagogischen Forschungspraxis oftmals so, dass die Akquisetätigkeit in Abhängigkeit zu Fragestellung, Erhebungs- und Auswertungsmethode(n) sowie dem aktuellen Stand des jeweiligen Forschungsprozesses angepasst werden muss. Akquise muss also im Verlauf als prozesshaft bezeichnet werden.
2.1 Zugang über Betreuungsinstitutionen
Der Zugang über Betreuungsinstitutionen ist oftmals der Weg, der von vornherein als am schnellsten und einfachsten angesehen wird. Zunächst erscheint es logisch, dort mit der Akquise zu beginnen, da Wohneinrichtungen, Schulen, Arbeitseinrichtungen, Tagesförderstätten etc. qua Status einen engen Kontakt zu ihrer Klientel haben. Da zu erwarten ist, dass diese Einrichtungen mitunter sehr viele Menschen betreuen, kann auch davon ausgegangen werden, dass der Zugang über solche Institutionen eine relativ erfolgreiche Akquise verspricht. Dies mag für Einzelerhebungen auch zutreffen, insbesondere dann, wenn der Forschende mit der Institution vertraut ist, also die Klientel, das Personal und die formellen und informellen Strukturen kennt.2 Oftmals erscheint es daher sinnvoll und hilfreich, Betreuungsinstitutionen über Einzelpersonen anzusprechen, die dort tätig sind, und diese von dem eigenen Vorhaben respektive dessen Notwendigkeit und Sinn zu überzeugen. Dennoch ist damit noch längst nicht die Akquise garantiert, denn die Entscheidungswege solcher Einrichtungen sind mitunter lang. Während bei einem selbstverwalteten Kinderladen die Entscheidungskette kurz sein mag, müssen bei größeren Einrichtungen oftmals Bereichsleitung, Leitung und gegebenenfalls auch der Träger ihre Zustimmung erteilen. Dies ist mitunter schwierig und zeitaufwändig. Hierbei ist zu bedenken, dass die jeweiligen Entscheidungsträger ein Interesse an der Befragung haben müssen. Oftmals ist es aber gerade so, dass Vorbehalte bestehen, insbesondere dort, wo schambesetzte Problemfelder angesprochen werden, zumal Betreuungsinstitutionen ihre Klientel nicht verletzen möchten und ihre Fürsorgepflicht wahrnehmen müssen.3 Außerdem ist hier die Problematik des Gate-Keepings, also der (gezielten) Steuerung des Zugangs durch die angefragten Betreuungsinstitutionen zu bedenken.4 Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn die Betreuungsinstitution den Zugang zu von ihr nach eigenen Kriterien ausgewählten Einzelpersonen aus ihrer Klientel ermöglicht.
Auch ein Kontakt über Träger/Verbände hat Vorteile. Wenn ein Träger als Vermittler gewonnen werden kann, erhält der Forscher idealerweise Zugang zu sehr vielen Einrichtungen. Allerdings fehlt dann oftmals der (so bedeutende) Kontakt zu Einzelpersonen,5 die je konkret im Feld arbeiten. Schlussendlich schließen sich aber beide Wege nicht aus.
Wenn im konkreten Fall beispielsweise Interview-Partner oder zu beobachtende Personen über Aushänge generiert werden sollen, ist grundsätzlich zu bedenken, dass eine solche Akquiseform gewisse Probleme mit sich bringt. Zum einen müssen Institutionen gewonnen werden, die eine solche Anfrage positiv beantworten und durchführen. Geschieht dies, ist damit aber noch kein Fall akquiriert, denn oftmals müssen gesetzliche Vertreter den Aushang (welcher idealerweise an prominenter Stelle aushängt – dies bedarf allerdings wieder persönlichen Engagements einzelner Institutionsmitglieder) beachten und auf diesen antworten. Hierzu bedarf es zunächst der Einsicht, dass die betreute Person zu der gesuchten Gruppe gehört. Dies mag für Berufsbetreuer noch einfach sein, da sie eine gewisse professionelle Distanz zum Feld haben und eben aufgrund einer vorliegenden eingeschränkten Rechtsmündigkeit des Mündels erst bestellt wurden. Für Eltern ist dies mitunter sehr schwierig, da die Einsicht, dass das eigene Kind beispielsweise unter die Gruppe aggressiv oder übergewichtig fallen soll, möglicherweise gar nicht vorhanden ist.6 Eventuell werden Tatsachen verdrängt, möglicherweise bestehen auch große Scham und nicht zuletzt Schuldgefühle. Gegebenenfalls besteht auch die Angst, dass diese durch die Interviewsituation hervorgerufen werden können, was wiederum zu Hemmungen führen kann, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen. Selbst wenn die persönliche Bereitschaft des Entscheidungsbevollmächtigten dazu bestände, heißt das immer noch nicht, dass er es für sinnvoll, angemessen oder notwendig ansieht, das betroffene Mündel a) damit zu konfrontieren und b) darüber hinaus einen Zugang für Fremde zu schaffen.
Zum anderen muss neben der Einsicht der Betroffenheit bei Vormund und Mündel ein übergeordnetes Interesse an der Thematik bestehen, da durch die Teilnahme an einem sonderpädagogischen Projekt für die Beteiligten in der Regel keine konkrete Hilfe geleistet wird. Somit werden der Zeitaufwand und der Eingriff in die Privatsphäre, welche durch die Feldforschung zweifelsohne entsteht, nicht entlohnt (weder durch eine konkrete Gegenleistung noch durch einen Geldbetrag).7
Es hängt jedoch stark davon ab, wer beforscht werden soll. So ist es bestimmt einfacher, Menschen mit geistiger Behinderung zu akquirieren als beispielsweise aggressive Kinder. Zum einen ist geistige Behinderung ein manifestes gesellschaftliches Label, welches durch eine medizinische Diagnose festgehalten wird, was beim Label aggressives Kind nicht der Fall ist. Zum andern gibt es viele Sondereinrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung, in welchen dann eben die komplette Klientel unter das Label geistige Behinderung fällt. Dies ist bei aggressiven Kindern nicht der Fall.
2.2 Zugang über Beratungs- und Selbsthilfeinstitutionen
Auch hier ist es von vornherein von Vorteil, den persönlichen Zugang über einzelne Mitglieder zu suchen, als nur eine anonyme schriftliche Anfrage zu stellen, weil sich erfahrungsgemäß in einem persönlichen Gespräch einzelne Institutionsmitglieder von der Bedeutung und der Relevanz eines Forschungsprojektes überzeugen lassen.
Beratungs- und Selbsthilfeinstitutionen sind Kontexte der Diffusität, dort kann potenziell alles Persönliche angesprochen werden.8 Sie haben den Vorteil, dass dort die zu beforschende Problematik bereits thematisiert wird, das heißt, dass anders als bei Betreuungsorganisationen kein Tabubruch entstehen muss, wenn die Mitglieder der Institution ihre Klientel ansprechen. Das heißt, bei denjenigen, die sich in solchen Institutionen helfen lassen, kann davon ausgegangen werden, dass sie sich des vorliegenden Beratungsbedarfs bewusst sind, ist dies doch die Grundvoraussetzung...