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Beraten als Handlungsform – erste Annäherungen und Spezifizierungen
Die (erziehungs-)wissenschaftliche Literatur über Beratung füllt seit den 1960er Jahren viele Bibliotheksregale (allein mit über 11.500 Büchern in den Bibliotheken der Universität Heidelberg), die zu referieren hier den Rahmen sprengen würde. Dennoch sollen im Folgenden grundlegende Aspekte zusammengetragen werden, die uns helfen zu verstehen, was es mit der Praktik Beraten auf sich hat. Dafür werden zunächst einige grundlegende Überlegungen und Erkenntnisse zur Spezifizierung von Beraten zusammengetragen, die es uns im Verlauf des Buches ermöglichen, diese komplexe Handlungsform näher zu fassen ( Kap. 1.1). Da einer der Fokusse dieses Bandes die Frage danach ist, was Personen machen, wenn sie beraten, richtet sich der Blick anschließend auf Erkenntnisse aus einer erziehungswissenschaftlichen Bezugsdisziplin4, die sich mit dem Phänomen Beraten als Interaktion seit vielen Jahren befasst (vgl. Kallmeyer 1985; 2000; Nothdurft 1984; Nothdurft u. a. 1994) und handlungskonstitutiv erklären kann, was Beraten als Praktik ausmacht ( Kap. 1.2).
1.1 Allgemeine Grundlagen der Praktik Beraten
Beraten ist eine Aktivität, die zum Grundrepertoire menschlicher Handlungsformen zählt. Sie kann in transitiver (jemanden beraten) und reflexiver (sich beraten) Form sowohl in alltagsweltlichen Zusammenhängen (unter Freunden, in der Familie) als auch in professionellen Kontexten vorkommen (z. B. in der Schule, der sonderpädagogischen Förderstelle, der Weiterbildungseinrichtung oder der schamanischen Praxis) und sich an Personen oder Organisationen richten. Der Unterschied zwischen alltagsweltlichen und professionellen Kontexten besteht darin, dass wir von professionellen Berater/ -inne/n erwarten, dass sie auch dementsprechend handeln. Sie sollen wissen, was sie tun,5 und im Sinn der ratsuchenden Person oder Organisation beraten, also beispielsweise keine eigenen (möglicherweise zum eigentlichen Anliegen konträren) Absichten verfolgen. Da sich jedoch gewisse (institutionelle, finanzielle etc.) Abhängigkeiten nicht vermeiden lassen, sollen sie zumindest in der Lage sein, diese zu reflektieren, um etwaige negative Einflüsse auf das Beratungshandeln zu minimieren.6
Wir gehen zwar auch in privaten Kontexten, wenn wir uns einen Rat holen, zumeist davon aus, dass der Ratgeber oder die Ratgeberin nach bestem Wissen und in unserem Sinn handelt. Sie sind jedoch – im Gegensatz zu den meisten professionellen Berater/inne/n – in der Regel nicht für diese spezifische Tätigkeit ausgebildet. Auch fehlt es ihnen, gerade weil es private und/oder freundschaftliche Verbindungen gibt, an der notwendigen Unabhängigkeit7 und Nicht-Betroffenheit. Geht es beispielsweise um die Berufsfindung, können beratende Gespräche mit Verwandten und Freunden eine gute Unterstützung darstellen, weil sie eine gewisse Kenntnis von mir als Person und meinen Fähigkeiten, Vorlieben etc. haben. Möglicherweise wären die um Rat Befragten aber unmittelbar/mittelbar von einer Entscheidung meinerseits für einen bestimmten Beruf betroffen, wenn damit zum Beispiel der Umzug in eine andere Stadt, die Finanzierung einer eigenen Wohnung o. ä. verbunden wäre. Sie könnten mir also aus eigenen Motiven zu- oder abraten, die wenig mit mir und der für mich »richtigen« Entscheidung zu tun haben. Demgegenüber werden gerade Asymmetrien zwischen Berater/inne/n und ratsuchenden Personen als konstitutiv für Beratung erachtet (vgl. Nothdurft/Reitemeier/Schröder 1994).
Betrachtet man den inflationär anmutenden Gebrauch des Begriffes Beratung,8 liegt die Frage auf der Hand, ob das, was jeweils unter diesem Namen firmiert, das Gleiche ist, Ähnlichkeiten aufweist oder doch sehr unterschiedliche Konkretionen erfährt. In einem ersten Zugriff können wir auf die spezifischen Situationen und deren jeweilige (interne und externe) Konstitutionsbedingungen schauen, in denen Beratung zu beobachten ist.
Implizite und explizite sowie integrierte und differenzierte Beratung
Im pädagogischen Berufsalltag gibt es immer wieder Situationen, in denen Beraten zum einen beiläufig neben anderen pädagogischen Praktiken stattfindet oder ausdrücklich gewünscht wird (vgl. zum Folgenden Tab. 1 auf S. 22).
1. Etwa wenn die Sozialpädagogin in der offenen Jugendarbeit beim Projekt »Videoclip drehen« von einer Jugendlichen den letzten Streit mit den Eltern erzählt bekommt und erfährt, dass das Mädchen es nicht mehr zu Hause aushält, und daraufhin ein Gespräch mit ihr über die aktuelle Situation und mögliche Handlungsalternativen beginnt.
2. Oder wenn die Kursleiterin im Spanisch-Fremdsprachenkurs von einem Teilnehmer während einer Konversationsübung wegen seiner Schwierigkeiten beim Vokabellernen angesprochen wird, die er gern beheben würde, woraufhin die Dozentin mit ihm einen Einzeltermin zur näheren Klärung vereinbart und darüber hinaus in der nächsten Sitzung einen Exkurs über verschiedene Methoden des Vokabellernens abhält.
3. Oder wenn eine Lehrerin aus der Lehrerfortbildung an eine Schule gerufen wird, um die Kolleg/inn/en vor Ort bei der Entwicklung individueller Förderkonzepte zu unterstützen und zu coachen.
Solche »Situationen mit Beratungscharakter« (Knoll 2008, S. 24 ff.) lassen sich in Bezug auf die Explizitheit wie auch hinsichtlich ihrer Einbettung in alltägliche Arbeitsabläufe (integriert) bzw. in Abgrenzung zu alltäglichen Arbeitsgeschehnissen (differenziert) unterscheiden. Knoll spricht hier von integrierten und impliziten (Beispiel 1), integrierten und expliziten (Beispiel 2) sowie von differenzierten und expliziten (Beispiel 3) Beratungssituationen (vgl. ebd., S. 26 f.).9
Tab. 1: Typen von Situationen mit Beratungscharakter (Knoll 2008, S. 26)
Beratung findet zum anderen aber auch in vielen pädagogischen Handlungsfeldern als institutionalisiertes Angebot statt, wie beispielsweise als Erziehungs-, Familien-, Gründungs-, Schuldner-, Weiterbildungs-, Migrations- etc. -beratung. Hier ist Beraten der – zumindest nominelle – Handlungskern der jeweiligen Interaktion und wird mittels spezifischer Settings (geschützte Räumlichkeiten, feste Zeiten und Ansprechpartner/innen) explizit von der Außen-/Alltagswelt abgetrennt. Jedoch weisen interaktionsanalytische Studien darauf hin, dass Beraten auch in seiner institutionalisierten Form vielfach nicht in »Reinform« vorkommt, sondern es gleichfalls ein Wechselspiel mit anderen Aktivitäten, wie Wissen vermitteln, anleiten, überprüfen, diagnostizieren, informieren etc., gibt. In manchen Fällen wird faktisch gar nicht beraten, obwohl die Interaktion als Beratung bezeichnet wird (vgl. Maier-Gutheil 2009, S. 145 ff.).
Es wurde bereits betont, dass das Handeln in Beratungssituationen von einer spezifischen Logik und (Handlungs-)Struktur bestimmt wird. Wie diese aussieht, schauen wir uns jetzt an.
1.2 Das Handlungsschema der Beratung10
Werner Kallmeyer, Soziolinguist, der über 25 Jahre am Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim im Bereich Pragmatik forschte, hat das Kernhandlungsschema11 von Beratung12 rekonstruiert und an unterschiedlichen Beispielen von Beratungsgesprächen exemplifiziert (vgl. Kallmeyer 1985; 2000). Konstituierend für eine Beratungssituation ist, wie bereits erwähnt, die Orientierung an einem Problem oder Anliegen, das eine der am Gespräch beteiligten Personen zu bewältigen hat und für das sie die Unterstützung einer anderen (hierfür ausgebildeten) Person in Anspruch nimmt. Damit ist zunächst die problem-/anliegensbezogene Ausgangslage beschrieben, die den Startpunkt für – mit Knolls Worten – sowohl integriert-implizite als auch differenziert-explizite Beratungssituationen bildet. Kallmeyer zeigt, dass diese »Grundstruktur des Beratungshandelns« (Kallmeyer 2000, S. 236 ff.) aus basalen und voneinander unterscheidbaren Komponenten besteht, die im folgenden Modell des Kernhandlungsschemas der Beratung abgebildet sind und einer gewissen Ablauflogik folgen. Allerdings sind diese Aspekte nicht als linearer Ablauf zu verstehen, der so und nicht anders erfolgt. Vielmehr handelt es sich bei den genannten Aspekten um ein Inventar, dessen sich die Interagierenden bedienen, um die jeweils damit verbundenen Aufgaben zu...