Position und Motiv
Jede Verhandlung beginnt mit einem Wunsch oder einem Bedürfnis. Wir und unser Verhandlungspartner möchten individuell etwas erreichen, was bisher noch nicht erreicht wurde. Ansonsten würde eine Verhandlung ja keinen Sinn machen. Nicht nur die Bedürfnisse der Gegenseite sollten analysiert und evaluiert werden, sondern auch die eigenen. Nur so kann im Idealfall von einem Verteilungskampf in eine aktive und produktive Tauschverhandlung übergegangen werden. Es ist von außerordentlicher Wichtigkeit, eine Position von einem Motiv zu differenzieren. Unter der Position verstehen wir das vom Verhandlungspartner geäußerte Wort, beispielsweise der Wunschpreis. Das eigentliche Motiv zeigt jedoch, was unser Verhandlungspartner wirklich will, was letztendlich sein wahres Interesse ist.
Anfänger konzentrieren sich fatalerweise meist nur auf die geäußerte Position, was eine Verhandlung schwierig und teilweise fast unmöglich macht. Profis, zu denen Sie nach der Lektüre dieses Buches gehören werden, versuchen hingegen, die wahren Bedürfnisse und Motive des Verhandlungspartners in Erfahrung zu bringen. Nebst einer gezielten Informationsbeschaffung (siehe Kapitel 1) sind hierfür Einfühlungsvermögen, Menschenkenntnisse und ein gewisses Maß an Fantasie nützlich und sehr wichtig.
Die Kenntnis der Motivation verleiht Ihnen Weitsicht, Spielraum und letztendlich auch eine gehörige Portion Macht, da wir die Bedürfnisse des Verhandlungspartners entweder erfüllen oder, sollte er nicht kooperieren, gezielt entziehen können.
Ring
Selbst im Kampfsport divergieren verbal geäußerte Positionen von persönlichen Motiven teilweise erheblich. Hört man den Kämpfern zu, äußern alle eine einzige Position: den Sieg! Analysiert man das Gegenüber jedoch etwas genauer und sieht man bewusst von der geäußerten Position ab, kommen nach und nach ganz andere, bis dahin versteckte Motive zum Vorschein.
In meiner aktiven Kampfsportzeit habe ich mit den Jahren meine Motivforschung des Gegners so weit perfektioniert, dass ich innerhalb kurzer Zeit mit einer relativ hohen Wahrscheinlichkeit in Erfahrung bringen konnte, was mein zukünftiger Gegner mit seiner Turnierteilnahme wirklich erreichen wollte. Manch einer strebte nach Ehre und Ruhm, andere hingegen wollten mit einem Kampf die eigene Angst bekämpfen, wiederum andere Kämpfer hatten die Motivation, Eindruck auf ihre Freunde, Familienmitglieder und das Publikum zu machen. Diese Erkenntnisse waren für mich jeweils von großem Wert. Ein Gegner, der Eindruck bei den anwesenden Personen schinden möchte, ist besonders gefährlich, da er meist sehr konsequent vorgeht und den Kampf von Anfang an aktiv und aggressiv gestaltet. Ihm ist es letztendlich nicht so wichtig zu gewinnen, sondern »einen guten Fight« zu liefern und somit einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Den Kampf in diesem Fall mit einem offenen Schlagabtausch zu beginnen, wäre hier wenig zielführend, da ein offener Schlagabtausch den Gegner motivieren könnte, aus den genannten Gründen noch mehr Druck aufzubauen. Solche Gegner sind daher mit gezielten strategischen und taktisch intelligenten Einzelaktionen zu bekämpfen und somit auch relativ einfach zu beherrschen.
Kämpfer, die hingegen Ruhm und Ehre als eigene Motivation erkennen lassen, sind erfahrungsgemäß weniger bereit in einem harten Schlagabtausch bis zum Äußersten zu gehen und im schlimmsten Fall ein eigenes K. o. zu riskieren. Dieser Typus ist gut mit einer konsequenten und harten Kampfführung besiegbar.
Sie sehen, obwohl beide Kämpfertypen im Vorfeld verbal als Position den Sieg äußern, haben Sie jeweils unterschiedliche, individuelle Motive und benötigen daher auch unterschiedliche strategische und taktische Vorgehensweisen.
Ich erinnere mich an einen Gegner, der bekannterweise aktiv in der rechtsextremen Szene tätig war. Als Kickboxer erhoffte er sich Anerkennung von anderen Personen seiner fragwürdigen Zunft. Sein Körper war mit auffälligen Tattoos übersät, was ich wiederum als Statussymbol und Anerkennungsversuch interpretierte. Als ich im Final auf ihn traf, waren die Zuschauerränge mit Bomberjacken- und Springerstiefel-tragenden Skinheads gefüllt, die ihrem Idol lautstark zujubelten. Immerhin galt es, einem Kickboxer wie mir, dann noch mit ausländischem Namen, eine besonders harte Niederlage zu bescheren. Ich wusste, dass ich seine Motivation der Anerkennung brechen musste, um ihn zu besiegen. Vor dem Kampf gab ich mich ruhig, gelassen, fast schon freundschaftlich ihm gegenüber. Ich suchte das friedliche Gespräch und suggerierte ihm so eine eingeschüchterte Haltung meinerseits. Ich erkannte in seinen Augen, dass er sich bereits als Superheld der anwesenden rechtsextremen Gruppe sah, da er von einem schnellen Kampfende überzeugt war.
Als der Kampf begann, stürmte mein Gegner wie erwartet aus seiner Ecke hervor und schlug wild und kopflos auf mich ein. Um ihm noch mehr falsche Sicherheit zu geben, erwiderte ich seine Attacken in den ersten 30 Sekunden nicht, sondern verbarg mich hinter meiner stabilen Doppeldeckung. Die anwesenden Glatzköpfe tobten und jubelten ihm ohrenbetäubend zu. Mein Gegner fing nun an, zusätzliche provozierende Gesten zu machen und mich hämisch auszulachen. Genau darauf hatte ich gewartet. Mit voller Kraft schlug ich ihm aus meiner Doppeldeckung blitzschnell einen direkten Schlag in den Solar Plexus. Er brach unter einem herzzerreißenden Schrei sofort zusammen und robbte auf allen Vieren über die Kampffläche – ein wahrlich demütigender und nahezu jämmerlicher Anblick! Von den Zuschauerrängen verstummten die Anfeuerungsrufe seiner zahlreichen Anhänger schlagartig. Er versuchte sich daraufhin aufzurappeln, da er die Verachtung seiner eigenen Gefolgsleute förmlich spüren konnte. Ich erkannte an seinen weit aufgerissenen Augen, wie sich Panik in ihm breitmachte. Das war mein Moment, den Kampf definitiv zu beenden. Als er torkelnd versuchte, erneut einen halbherzigen Angriff zu starten, versetzte ich ihm einen blitzschnellen Drehkick auf die Leber, was für ihn das vorzeitige Ende des Kampfes bedeutete. Seine mitgebrachten glatzköpfigen Anhänger waren allesamt verstummt und verließen mit hängenden Köpfen die Kampfhalle, während ihr ehemaliger Held noch immer halb bewusstlos auf der Kampffläche herumkroch und verzweifelt nach Luft japste.
Ich hatte es geschafft, ihm sein Motiv, die Anerkennung von seinesgleichen, mit einer gezielten Aktion erfolgreich strittig zu machen und ihn so zu besiegen.
Er wurde im Übrigen in den darauffolgenden Jahren nie mehr wieder in einem Turnier gesehen und versank in der Bedeutungslosigkeit.
Business
Gerade in der täglichen Geschäftswelt gilt es, Positionen und Motive konsequent auseinanderzuhalten und diese unterschiedlich zu betrachten und zu werten.
Wie bereits erwähnt, verstehen wir unter der Position die verbal oder schriftlich ausgedrückte Forderung, beispielsweise eine Preisreduktion von zehn Prozent. Das Motiv hingegen spiegelt den eigentlichen Beweggrund für das Tun wider, beispielsweise finanzielle Sicherheit durch eine in Aussicht gestellte Provision bei einer bestehenden, belastenden privaten Hypothek.
Um Motive korrekt zu erkennen und zu analysieren, eignen sich genaue Beobachtungen und gezielte Fragetechniken vor, während und nach den einzelnen Verhandlungsrunden. Motive lassen sich erfahrungsgemäß in einem unkonventionellen Rahmen, zum Beispiel bei einem gemeinsamen Essen, besonders gut evaluieren.
Interessanterweise haben die wichtigsten Motive häufig keinen direkten ersichtlichen Zusammenhang mit der bevorstehenden Verhandlung und müssen daher in den richtigen Kontext gestellt und als solche verstanden werden. Auch die individuellen Werte Ihres Verhandlungspartners sind von großer Wichtigkeit. Bedenken Sie, dass besonders persönliche Werte wie Ethik, Moral, Fairness, aber eben auch Unfairness, individuell sind und daher einer genauen Betrachtung und Gewichtung bedürfen.
Wenn wir das Motiv und die Werte schließlich ermittelt haben, stellt sich für uns die wichtigste Frage: Wie lassen sich diese gewonnenen Erkenntnisse für unsere bevorstehende Verhandlung am besten nutzen?
Die Bedürfnispyramide nach Maslow
Besonders Raymond Saner hat sich in seinem exzellenten Buch »Verhandlungstechnik« intensiv mit der Bedürfnispyramide im Verhandlungskontext befasst und interessante Schlussforderungen gezogen.
Wir wissen, dass jeder Mensch individuelle Bedürfnisse hat. In erster Linie sind dies lebensnotwendige Dinge wie Wasser, Nahrung, Unterkunft, Luft, aber auch Sex.
Der Sozialpsychologe Maslow legte dar, dass sich der Mensch erst dann weiteren Wünschen und Bedürfnissen zuwendet, wenn diese Grundbedürfnisse gedeckt sind. Unter diesem Aspekt ist beispielsweise die Nahrung solange ein entscheidender Faktor im Leben eines Menschen, bis sein Nahrungsbedürfnis durch Nahrungsaufnahme befriedigt ist. Ab diesem Moment ist Hunger für ihn keine eigentliche Motivation mehr.
Die jeweils höhere Pyramidenstufe im aufgezeichneten Modell wird erst dann erreicht, wenn die Bedürfnisse der darunterliegenden, niedrigeren Stufe einigermaßen befriedigt wurden. Nach dieser Theorie ist es also entscheidend, auf welcher Stufe der Pyramide sich Ihr Gegenüber zum Zeitpunkt der Konfrontation gerade befindet.
Die zweite Stufe ist nach Maslow das Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit.
Die Bedürfnispyramide nach Maslow, 1954
Nach Erreichen dieser Stufe stellt sich die Stufe des sozialen Umfeldes, beziehungsweise der...