1.
Mutter, ich trage Dich wie eine Wunde auf meiner Stirn …
Es war im Herbst. Die Mutter starb kurz vor der Mittagspause. Ich hatte im Frauenseminar Bodensee die letzten Worte zur Beurteilung einer Prüfung ausgesprochen. Da erschien die Sekretärin mit ernstem Gesichtsausdruck, um mir die Nachricht vom Tod meiner Mutter zu überbringen. Er kam nicht überraschend. Die ganze letzte Nacht hatte ich an ihrem Bett verbracht und geahnt, dass es nicht mehr lange dauern würde. Jetzt fuhr ich rasch ins Altersheim, traf mich mit meiner Schwester, um die weiteren Schritte zu besprechen.
Um 14 Uhr kehrte ich pünktlich zurück und nahm die nächste Prüfung ab. Den Abend verbrachte ich bei meiner Schwester und ihrer Familie. Irgendwie waren wir trotz allem froh darüber, dass sich das Sterben nicht qualvoll hingezogen hatte. Unsere Mutter hatte ein langes Leben gehabt, ein schweres Schicksal. Und nun kam der Tod beinahe sanft und freundlich. Ich atmete erleichtert auf.
Aber ich fürchtete mich auch vor der Nacht. Allein im Haus, den Gedanken, Bildern, Erinnerungen an die Mutter ausgeliefert. Ich fragte meine älteste Tochter, ob sie eventuell bei mir übernachten könne, was sie aber vehement ablehnte. Meine Mutter hatte mich gebeten, ihren Nachruf zu schreiben, was ich ihr vor ihrem Tode zugesichert hatte. Auch ihre zögerlich vorgebrachte Bitte, eine «gewisse Angelegenheit» unerwähnt zu lassen, wollte ich berücksichtigen. Selbstverständlich. Ich wusste, was sie meinte, und wollte ihr diesen Gefallen erweisen.
So saß ich also in der Todesnacht allein im Haus vor meinem Computer, einerseits etwas bange und leicht verunsichert, andererseits aber bemühte ich mich, wachsam über die eigenen Schultern zu schauen, ja beinahe neugierig, was sich nun in den nächsten Stunden ereignen würde. Ich war auf alles gefasst.
Ich verfasste einen kurzen Text über das Leben meiner Mutter, drechselte an der Reihenfolge der Ereignisse in ihrem Lebenslauf herum, beschönigte hier etwas, glich dort etwas aus, vor allem umging ich die «gewisse Angelegenheit», indem ich die biografischen Daten leicht veränderte, damit am Schluss alles irgendwie wieder zusammenpasste.
Es war eine lange Nacht. Gegen Mitternacht klopften ein paar Regentropfen an die kleinen Dachfenster. Später wurde mir kalt, und ich ging in den Keller, um nachzusehen, ob die Heizung noch funktionierte. Am Abend zuvor, ich wollte mich gerade umziehen, um mich für die Nachtwache bei der Mutter herzurichten, hatte es eine kleine Explosion im Heizungsraum gegeben. Auch das noch, hatte ich gedacht, da drang auch schon Wasser durch den Gang. Inzwischen war der Schaden behoben, und die Heizung funktionierte.
Ich fröstelte trotzdem. Nun war also meine Mutter tot. Eine komplizierte und zum Teil quälende Beziehung war beendet. Die letzten Jahre waren vom Bemühen geprägt gewesen, einigermaßen miteinander zurechtzukommen, wenngleich die Versuche mehr oder weniger von schweigendem Groll überschattet waren. Das war nicht immer so gewesen.
Wir hatten auch eine gute Zeit miteinander, zunächst. Ich liebte sie. Sie stand im Mittelpunkt für mich. Sie war meine Königin, und ich war ihre Prinzessin. Wenn ich ins Zimmer eintrat, ging auf ihrem Gesicht die Sonne auf. Alle meine Gedanken drehten sich nur um sie. Wenn es ihr schlecht ging, ging es mir ebenfalls schlecht, und ich überlegte, wie ich sie wieder froh und heiter stimmen konnte. Wenn es ihr gut ging, fühlte auch ich mich wohl und glücklich.
In der Pubertät änderte sich das innige Verhältnis schlagartig. Sie ging mir auf die Nerven, ich konnte ihre Art einfach nicht mehr ertragen, mehr noch, ich dachte, so eine Frau, wie meine Mutter ist, möchte ich nie werden. Und in mir bildete sich ein Kernsatz, den ich immer wieder vor mich hersagte: Frausein ist eine ziemlich beschissene Sache. Ich versuchte oft recht ruppig, mir ihre Zuneigung vom Leib zu halten, sie aber blieb mir stets dicht auf den Fersen, verrichtete pausenlos tausend Liebesdienste, die mir zum Teil nicht ungelegen kamen, mich aber gleichzeitig auch ärgerten. Es war keine gute Zeit, und ich dachte oft darüber nach, wie ich aus dieser miesen familiären Inszenierung wieder herauskommen könnte. Ich wählte den Weg in die Opposition, den viele Jugendliche gehen, um gegen alles zu rebellieren. Äußerlich verunstaltete ich mich derart, dass keinerlei Ähnlichkeit mit ihr mehr erkennbar war. Sie hielt dennoch zu mir, nein, mehr noch, sie war zwar nicht gerade stolz auf mich, aber irgendwie genoss sie dennoch meinen Aufstand. Wenn es um irgendwelche modischen oder gar ausgefallenen Anschaffungen ging, unterstützte sie mich, wie sie nur konnte. Da sie in einer Textilfabrik arbeitete und dafür zuständig war, die Prototypen der Modelle zu nähen, kam sie auch als Erste mit den neuesten Trends in Berührung. Zu meinem 14. Geburtstag schenkte sie mir prompt ein wunderschönes zyklamenrotes Sackkleid, das ich mit großem Vergnügen trug und dabei viel Aufsehen erregte.
Die ersten Liebesabenteuer versuchte sie zu überwachen, aber ich floh stets vor ihr. Doch die Flucht gelang mir nicht wirklich. Wenn ich mich mit einem Jungen traf, musste ich an sie denken. Wenn ich irgendwo in einem Gebüsch herumknutschte, war sie in meinen Gedanken stets mit dabei. Je mehr ich versuchte, sie aus meinem Kopf zu verbannen, umso hartnäckiger nistete sie sich in mir ein. Gleichzeitig fühlte ich mich schlecht. Es war ein ständiges Hin und Her zwischen dem Drang, mich von ihr abzugrenzen, und einem schlechten Gewissen, das mir oft genug das ganze Leben versalzte. Schließlich ist sie meine Mutter, sagte ich mir, aber bevor ich den Satz zu Ende gedacht hatte, meldeten sich eine unbändige Auflehnung und die Sehnsucht, einfach ich selbst zu sein. In meiner Not kaufte ich mir ein Tagebuch und schrieb mit einem Mont-Blanc-Füllfederhalter mit der Federspitze BBB (das sind die ganz breiten) über Seiten «ich hasse sie, ich hasse sie, ich hasse sie …» und auf den nächsten Seiten «es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid …» und ganz klein am Rand mit Bleistift «ich liebe sie». Obwohl das Tagebuch abgeschlossen war, gelang es meiner Mutter, es zu öffnen und zu lesen. Das war der Tag, an dem ich auch noch begann, sie zu verachten. Dazwischen funkte immer wieder etwas, was sich wie Zuneigung anfühlte, bei dem ich mir aber nicht sicher war, ob es doch einfach nur Pflichtgefühl war.
Am besten ging es mir mit ihr, wenn ich nicht mit ihr alleine sein musste, wenn es irgendeinen Freund, eine Freundin gab, die sich als Pufferzone zwischen mich und meine Mutter schob. Ich war ihr dann nicht mit Haut und Haaren ausgeliefert und konnte mich im Windschatten der anderen Person aufhalten. Gleichzeitig gab es jemanden, der sich um meine Mutter kümmerte, und dies nicht ungern. Denn meine Mutter war bei anderen als Gesprächspartnerin sehr beliebt.
Als ich dann selbst Mutter wurde und Kinder bekam, wurde es nochmals komplizierter. Eines war klar, so eine Mutter wie sie wollte ich nie werden. Und ich versuchte eigentlich, alles anders zu machen als sie, denn ich wollte unter keinen Umständen in ihre Fußstapfen treten. Der Aufbruch der 68er unterstützte mich darin, sie immer wieder mit kleineren oder größeren Schockerlebnissen außer Gefecht zu setzen. Mit meinem Erziehungsstil nach der antiautoritären Methode verschlug es ihr beinahe den Atem. Dann aber war sie mir wieder eine unentbehrliche Hilfe bei der Betreuung, und es kümmerte mich keineswegs, wenn sie von den Kindern Verhaltensweisen forderte, die aus dem autoritären Lager stammten. Schließlich war sie der Garant dafür, dass ich mich auch mal für einige Tage oder gar Wochen aus dem anstrengenden Familienbetrieb absetzen konnte.
Im späteren Erwachsenenalter pendelte ich weiterhin zwischen verdeckter Zuneigung und offen bezeugter Ablehnung hin und her, je nachdem, in welcher Verfassung ich mich selbst befand. Es gibt wohl kein Gefühl, keine Empfindungsart, die ich nicht bestens kannte. Die ganze Palette von Zuneigung, ja gelegentlich gar Sehnsucht nach ihr, über Mitleid und Mitgefühl für ihre Situation bis zum Gefühl des peinlichen Berührtseins durchlebte ich im ständigen Wechsel. Oft aber schämte ich mich einfach für sie und hätte alles darum gegeben, sie vom Erdboden verschwinden zu lassen. Quälende Schuldgefühle verfolgten mich, überschatteten mein ganzes Leben. Sie veranlassten mich dazu, für sie überschwänglich Geschenke zu kaufen, vor allem schöne Kleider, Seidenblusen in Lila, Altrosa und Crème mit dem jeweils farblich dazu passenden Rock, die sie prompt mit der Erklärung zurückwies «das alles ist viel zu schön für mich». Das ärgerte mich maßlos und veranlasste mich dazu, mich über Wochen aus dem Kontakt abzumelden, was sie wiederum zutiefst verletzte und mir bei der erstbesten Gelegenheit vorwurfsvoll aufs Brot schmierte. Ein Teufelskreis.
Meine Schwester und ich versuchten, die Zeit bis zur Übersiedlung ins Altersheim so lange wie möglich hinauszuzögern. Sie übernahm den Einkauf, begleitete sie bei ihren Besorgungen, und von mir wurde natürlich auch eine entsprechende Dienstleistung erwartet. Da aber alles, was mit Haushalt zu tun hat, noch nie meine Domäne war, sorgte ich...