1. "Wir haben fertig":
Der 22. September und die Folgen
„Ich bin in diesem Jahr 40 Jahre in der FDP. Das vierzigste Jahr war das bitterste Jahr für mich persönlich. Es war auch das bitterste Jahr für den politisch organisierten Liberalismus in Deutschland. Es war das bitterste Jahr für unsere FDP.
Leider konnte ich meinen Auftrag als Spitzenkandidat nicht erfüllen: Den Wiedereinzug der FDP in den Bundestag, das Wiedererlangen des Regierungsauftrags.
Es gab in Teilen der Öffentlichkeit geradezu eine Vernichtungssehnsucht gegen uns, auch gegen mich persönlich.
Deshalb möchte ich zunächst einmal „Danke“ sagen. Danke dafür, dass Ihr in großer Zahl zu mir gehalten habt, als ich persönlich angegriffen wurde.
Ich sage auch danke dafür, dass Ihr in großer Zahl zu mir gehalten habt, als ich schwer gestürzt bin und oft unter großen Schmerzen mein Programm absolviert habe.
Meine liberale Familie hat in den schwersten Stunden zu mir gehalten. Das werde ich nicht vergessen. (…)
Klar, wir haben viel aufzuarbeiten nach dieser verheerenden Niederlage. Aber auch dabei geht es um Stil.
Wir sollten uns hier ehrlich die Meinung sagen. Aber wir sollten nicht vergessen: Die FDP wird als politische Kraft gebraucht und nicht als Selbsterfahrungstruppe.“
(Rainer Brüderle auf dem FDP-Bundesparteitag am 7. Dezember 2013 in Berlin)
Als Sie am Nachmittag des Wahlsonntags erfahren haben, die FDP werde wohl unter fünf Prozent bleiben, was ging Ihnen da als erstes durch den Kopf?
Ich wollte es eigentlich nicht wahr haben. Meine Einschätzung war, es ist offen, ob wir weiterhin zusammen mit der CDU/CSU regieren können. Dass wir nicht in den Bundestag kommen könnten, der Gedanke war mir völlig fremd. Das hielt ich für ausgeschlossen. Deshalb dachte ich, dass die Meldungen, die am Wahltag im Laufe des Nachmittags durchsickerten, falsch sind. Bei diesen Wahlnachfragen bleiben ja die Briefwähler außen vor. Erfahrungsgemäß schneiden wir bei den Briefwählern immer sehr gut ab. Am Sonntagnachmittag ging ich also schon davon aus, es wird eng. Aber ich glaubte zu diesem Zeitpunkt immer noch daran, dass wir über die fünf Prozent kommen.
Wie lange hatten Sie noch gehofft? Wann haben Sie aufgegeben?
Innerlich aufgegeben hatte ich gegen 21 Uhr. Anschließend habe ich mich mit meiner Frau und meinen engsten Mitarbeitern zu einem Glas Wein in eine Berliner Weinstube zurückgezogen. Da kam dann so um 23 Uhr die Meldung im Fernsehen: 4,97 Prozent für die FDP. Da keimte plötzlich wieder Hoffnung auf, es könnte klappen. Die noch nicht ausgezählten Stimmzettel kamen aber überwiegend aus den neuen Ländern, wo wir sehr schwach waren. Auch deshalb sah das Endergebnis leider anders aus.
Während des gesamten Wahljahres lag die FDP ja nie stabil und deutlich über 5 Prozent.
Es war mir klar, dass es schwierig würde. Ich hatte gehofft, dass die alles in allem erfolgreiche Bilanz von Schwarz-Gelb sich auch deutlich auf dem Konto der FDP niederschlagen werde. Und dass die Wähler wissen, dass es ohne FDP keine Fortsetzung der bürgerlichen Koalition geben kann. Die Sorge, wir könnten die fünf Prozent nicht schaffen, hatte ich deshalb nicht.
Sie waren der Spitzenkandidat, „Gesicht und Kopf“ der Liberalen. Als feststand, dass die Partei gescheitert ist, hatten Sie da das Gefühl: Ich habe versagt, ich bin schuld?
Als Spitzenkandidat trägt man natürlich Verantwortung für das Wahlergebnis. Da rede ich nicht drumherum. Deshalb habe ich noch in der Wahlnacht die Verantwortung für unser schlechtes Abschneiden übernommen. Es gehört sich einfach, dass man sich zu seiner Verantwortung bekennt.
Erwarteten Sie „mildernde Umstände“, weil Sie gesundheitlich angeschlagen waren?
Ich habe mich bis an die Grenze dessen, was ich vermochte, im Wahlkampf eingebracht. Aber ich hatte nach meinem Sturz im Juni nicht mehr die gleiche Kraft. Ich war angeschlagen, nicht nur physisch. Es wirkten zudem noch die Angriffe des „Stern“ nach. Trotzdem habe ich zu verantworten, dass wir es nicht geschafft haben.
Hätte die FDP mit einem anderen Spitzenkandidaten vielleicht besser abgeschnitten?
Das ist sehr theoretisch. Der Parteivorsitzende wollte die Spitzenkandidatur nicht übernehmen. Und von den Bundesministern hat niemand „hier“ gerufen.
Am Wahlabend saßen Sie im Berliner Congress-Centrum mit anderen Spitzenpolitikern der FDP – Philipp Rösler, Guido Westerwelle, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger – zusammen, ehe sie alle auf die Bühne gingen, um bei der Wahlparty die Niederlage einzugestehen. Wie war die Stimmung? Gab es persönliche Vorwürfe, gab es Schuldzuweisungen?
Im Präsidium, das da tagte, war die Stimmung depressiv. Bei Mitarbeitern, die wussten, sie würden ihre Jobs verlieren, flossen auch Tränen. Es ging insgesamt schon sehr emotional zu. Persönliche Vorwürfe oder Schuldzuweisungen gab es nicht, aber auch keine kritische Selbstreflektion. Dafür saß der Schock zu tief. Keiner von uns war auf diese Situation vorbereitet. Deshalb war es nötig und richtig, dass Philipp Rösler und ich schnell vor die Kameras gingen und die Verantwortung für unsere Niederlage übernahmen.
Die Mitglieder des Präsidiums sind an diesem Wahlabend relativ schnell auseinander gegangen. Ist das nicht ein Indiz, dass das Mannschaftsspiel innerhalb der FDP schon seit einiger Zeit nicht mehr so richtig klappte?
Trauerarbeit lässt sich schlecht im Kollektiv bewältigen.
Nun ja, man kann sich auch gemeinsam betrinken.
Das gegenseitige Bestätigen, es sei eine katastrophale Situation, hätte auch nicht weiter geholfen. In dieser Situation musste zunächst einmal jeder mit sich und der Lage klarkommen.
Wo war an diesem Wahlabend eigentlich der FDP-Ehrenvorsitzende Hans-Dietrich Genscher?
Bei uns im Präsidium war er nicht.
Hatte er vielleicht geahnt, dass es so katastrophal endet?
Das ist möglich. Vielleicht hat er sich zu Hause wohler gefühlt als in der hektischen Atmosphäre einer Wahlparty.
Kurz nach 18 Uhr ging der ehemalige Generalsekretär Christian Lindner als Erster vor die Kameras. War das so abgesprochen?
Ja. Es war kurz nach 18 Uhr. Das war bei einem so knappen Ergebnis eine undankbare Rolle. Wir wussten ja noch nicht, wie es wirklich ausgeht. Man kann da viel Falsches sagen.
Christian Lindner wirkte bei seinen ersten Stellungnahmen sehr nüchtern, geradezu unberührt von dem Wahldesaster, das sich da abzeichnete. Er erweckte den Eindruck einer gewissen Distanz zur damaligen FDP-Spitze.
Das mag so sein, ich habe ihn dabei nicht beobachtet. Aber dass das Verhältnis zwischen dem ehemaligen Generalsekretär Lindner und dem Vorsitzenden Rösler nicht das innigste war, ist ja bekannt. Wie es in dieser Lage in Christian Lindner aussah, ließ sich von außen nicht erkennen. Ich glaube, auch er war sehr betroffen, weil die Partei zum ersten Mal nicht mehr in den Bundestag kam.
Lindner sagte noch am Wahlabend, der Liberalismus müsse „neu gedacht“ werden. Er meinte auch, die FDP müsse „wieder als seriöse Kraft“ wahrgenommen werden, mit „differenzierten“ Positionen. Das war doch eine ziemlich deutliche Kritik an der Partei und ihrem Spitzenkandidaten.
Er meinte es wohl anders. Er bezog sich meines Erachtens auf die Zuspitzung des Wahlkampfes 2009 auf die Steuerpolitik, was später zu Enttäuschungen bei den Wählern geführt hat. Schließlich hatte er schon 2009 gemeinsam mit Daniel Bahr und Philipp Rösler ein Buch über den mitfühlenden Liberalismus geschrieben.
Sie spotteten damals über den „Säusel-Liberalismus“.
Ich halte die Einstellung, man müsse die Dinge weicher spülen, statt sie pointiert darzustellen, für falsch. Ich glaube nicht, dass man so zustimmungsfähiger wird. Eine Partei sollte auf den verschiedenen Politikfeldern schon klare Kante zeigen. Es gibt unterschiedliche Arten, Politik zu formulieren. Ich bin für klare Positionen und für eine konsequente Umsetzung.
Ist es nicht so, dass die auf Harmonie bedachten, geradezu konsenssüchtigen Deutschen es lieber gern weichgespült haben? Angela Merkel hat 2013 auch eine Art Säusel-Wahlkampf geführt.
Es ist wohl ein Stück Zeitgeist. Der großen Mehrheit der Deutschen geht es gut,...