Die Rolle der Ratingagenturen hat sich seit ihrer Entstehung im 20. Jahrhundert als objektive Instanz zur Bewertung der Ausfallwahrscheinlichkeit von Eisenbahnanleihen stark gewandelt. Heute werden viele verschiedene Finanzprodukte aus unterschiedlichsten Branchen bewertet. In mehr als 100 Ländern bewerten die großen Ratingagenturen Schuldtitel im Wert von mehreren Billionen Euro[52]. Das folgende Kapitel soll einen historischen Abriss geben und die Entwicklung dieser Bedeutungszunahme aufzeigen. Dabei spielt zum einen die durch regulatorische Vorschriften erzeugte Nachfrage nach Ratings eine Rolle, zum anderen haben aber auch die zunehmenden internationalen Verflechtungen und das stark wachsende Volumen von Verbriefungstransaktionen die Ratingagenturen so mächtig werden lassen. Anhand von Beispielen aus der aktuellen Euroschuldenkrise und folgenschwerer Verfehlungen in der jüngeren Vergangenheit soll die besondere Bedeutung der Ratingagenturen für die Finanzmärkte aufgezeigt werden.
Schon einige Jahrhunderte bevor die ersten Ratingagenturen Anfang des 20. Jahrhunderts in Amerika entstanden, gab es in Amerika und Europa bereits funktionierende Kapitalmärkte. An diesen Märkten traten vor allem Staaten und lokale Regierungen auf, um sich zu refinanzieren. Die geringe Anzahl an Marktteilnehmern und das hohe Vertrauen der Anleger in die Rückzahlungsfähigkeit der Emittenten sorgten dafür, dass konkrete Aussagen zur Bonität der Schuldner zunächst nicht erforderlich waren. Mitte des 19. Jahrhunderts kam es in Amerika zu einem rasanten Wachstum der Eisenbahngesellschaften, die aufgrund der Größe der von ihnen finanzierten Projekte einen hohen Fremdkapitalbedarf zu decken hatten. Dieser Kapitalbedarf wurde zunehmend auf die Kapitalmärkte übertragen, wodurch die Nachfrage der Anleger nach detailierten und wertenden Informationen zum operativen Geschäftserfolg und der Profitabilität der neuen Emittenten anstieg.[53]
Zunächst übernahmen die Finanzpresse und sogenannte credit reporting agencies diese Informationsfunktion und versorgten Investoren mit Angaben zu Besitz, Vermögenswerten, bestehenden Forderungen und Verbindlichkeiten der Eisenbahngesellschaften[54]. Überregionale Projekte und immer neue Emittenten führten gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einem gesteigerten Bedürfnis der Anleger nach wertenden Einschätzungen zum Risiko der verschiedenen Emittenten und deren Wertpapieren. Im Jahr 1909 entsprach John Moody dieser Nachfrage, indem er sämtliche verfügbaren Daten sammelte, zu einer Einschätzung zusammenfasste und den Investoren als „Analysis of Railroad Investments“ kostenpflichtig zur Verfügung stellte[55]. Ihm folgten im Jahr 1916 die Poor’s Publishing Company und 1922 die Standard Statistics Company (schlossen sich 1941 zu S&P zusammen), sowie 1924 die Fitch Publishing Company ins Ratinggeschäft[56].
Durch das wachsende Volumen des amerikanischen Anleihemarktes, aber vor allem durch die Einbindung in regulatorische Vorschriften konnten Ratingagenturen zunehmend an Bedeutung gewinnen[57]. Diese in Kapitel 3.3.1 näher beschriebenen Vorschriften zwangen Banken und institutionelle Investoren in den USA, sich bei der Eigenkapitalunterlegung beziehungsweise bei Investitionen an den Ratings bestimmter Ratingagenturen zu orientieren. Ab den 1970er Jahren konnten sich Ratings, die bis dahin fast ausschließlich auf Nordamerika beschränkt waren, auch international durchsetzen. Hauptgründe dafür waren die Internationalisierung der Finanzmärkte und die sich daraus ergebenden Verflechtungen, die steigende Verbriefungsaktivität und eine Zunahme der Insolvenzhäufigkeit[58]. Wie in Amerika wirkte auch bei der internationalen Verbreitung die Bezugnahme auf Ratings in regulatorischen Vorschriften (z.B. Basel II) beschleunigend. Zudem änderten die großen Ratingagenturen in den 1970er Jahren ihr Einkommensmodell vom Investor-Pays hin zu einem Issuer-Pays Modell. In der Folge mussten somit die Emittenten und nicht mehr die Investoren für die Erstellung von Ratings aufkommen, was den Ratingagenturen fortan eine bessere Partizipation am Wachstum der Anleihemärkte und ein starkes Umsatzwachstum ermöglichte.
Bis vor Ausbruch der Finanzkrise konnten die Ratingagenturen ihr Geschäft weitestgehend ohne staatliche Regulierung betreiben. Ein weiterer Ausbau der Bedeutung für die Finanzmärkte folgte, indem zunehmend auch innovative Finanzprodukte wie z.B. Asset Backed Securities (ABS), Mortgage Backed Securities (MBS) und Collateralized Debt Obligations (CDO) mit einem Rating versehen wurden. Ebenso sorgte die Ausweitung des Dienstleistungsportfolios (z.B. durch das Angebot von Beratungsdienstleistungen) für eine Bedeutungssteigerung der Agenturen. Heute wird davon ausgegangen, dass 80% der globalen Kapitalströme von Ratingagenturen kontrolliert werden[59].
Noch in den 1980er Jahren kam dem Rating in Deutschland keine besondere Bedeutung zu. Ratings wurden eher als „Besonderheit der amerikanischen Kapitalmärkte[60]" gesehen. Nicht einmal zwei Dutzend Unternehmen waren zu dieser Zeit geratet und diese hauptsächlich deshalb, weil sie sich den Zugang zum amerikanischen Kapitalmarkt sichern wollten. Ein Grund warum Ratings erst mit einiger Verzögerung in Deutschland aufgekommen sind, ist darin zu sehen, dass die Außenfinanzierung von Unternehmen in Deutschland traditionell eher durch den Bankkredit als über den Kapitalmarkt stattfand. Ein sehr hohes Zinsniveau für Kredite Ende der 1980er Jahre, die Internationalisierung der Finanzmärkte und der Abbau von regulatorischen Vorschriften sorgten dafür, dass Unternehmen zur Außenfinanzierung verstärkt auf Aktienemissionen und die Ausgabe von Unternehmensanleihen zurückgriffen[61]. Um internationale Investoren besser von der Attraktivität des Unternehmens überzeugen zu können, wurden zunehmend Ratings in Auftrag gegeben. Eine echte Bedeutungssteigerung haben externe Ratings in Deutschland allerdings erst durch die Baseler Akkorde (und deren Umsetzung in nationales Recht) erfahren. Dadurch war für Banken entweder ein bankinternes Rating oder die Verwendung externer Ratings zur Beurteilung der Schuldnerqualität verbindlich vorgeschrieben.
1991 war Moody‘s die erste der amerikanischen Ratingagenturen, die ein Büro in Deutschland eröffnete[62]. Mittlerweile verfügen nicht nur alle großen Ratingagenturen über eine Dependenz in Deutschland, sondern es haben sich, wie anfangs bereits erwähnt, hier seitdem auch viele kleinere Ratingagenturen gegründet. Das Marktpotenzial wird in Deutschland immer noch als sehr groß eingeschätzt. Vor allem kleinere und mittlere Unternehmen scheuen häufig wegen der hohen Kosten eine externe Bonitätsbeurteilung.[63]
Der historische Abriss hat die Entwicklung der Ratingagenturen bis heute aufgezeigt. Durch die hohe Marktakzeptanz von Ratings, ihrer regulatorischen Kontrollfunktion und ihrer Auswirkung auf die Refinanzierungskonditionen haben die Agenturen mittlerweile eine sehr machtvolle und einflussreiche Rolle innerhalb des Finanzsystems inne. Im Folgenden sollen die Verfehlungen der Ratingagenturen bei der Pleite des amerikanischen Energieunternehmens Enron und während der Finanzkrise in 2008 / 2009 analysiert werden, um aufzuzeigen, dass mit einer einflussreichen Stellung eine große Verantwortung für die Stabilität des Finanzsystems einhergeht und Fehleinschätzungen folgenreiche Konsequenzen haben können.
Der Konkurs des amerikanischen Energieunternehmens Enron im Jahr 2001 stellte, gemessen an den zum Zeitpunkt der Insolvenz ausstehenden Verbindlichkeiten, die drittgrößte Unternehmenspleite der Wirtschaftsgeschichte dar[64]. Eine der Hauptursachen für die Insolvenz lag in der über Jahre hinweg betriebenen Bilanzfälschung des Managements, die erst nach und nach publik wurde. Durch diesen Insolvenzfall gerieten auch Ratingagenturen in die Kritik. Ihnen wurde vorgeworfen, die Schieflage des Unternehmens erst viel zu spät erkannt und angezeigt zu haben. Durch die gemeinsame Betrachtung von Ratingverlauf und Aktienkurs, soll herausgestellt werden, ob der Vorwurf verspäteter Herabstufungen stichhaltig ist.
Die ersten Herabstufungen der Bonitätseinschätzung von Enron wurden von den großen Ratingagenturen Anfang November 2001 vorgenommen. Zu dieser Zeit hatte der Aktienkurs (und damit auch der Marktwert des Unternehmens) seit seinem Hoch am 15.9.2000 bereits mehr als 87% an Wert verloren. Somit hatte der Markt die negative Unternehmensentwicklung bereits Ende 2000 antizipiert, während Ratingagenturen erst über ein Jahr später ein erhöhtes Ausfallrisiko in Form eines schlechteren Ratings feststellten. Eine Woche bevor Enron Gläubigerschutz nach amerikanischem Recht beantragen musste, wurde das Unternehmen immer noch von allen drei großen Ratingagenturen mit Investment Grade Ratings (Baa2 bzw. BBB-) bewertet. Somit galt die Sicherheit der Kapitaldienstfähigkeit zu diesem Zeitpunkt als "noch gegeben". Empirisch entsprachen die zu diesem Zeitpunkt erteilten Ratings einer Ausfallwahrscheinlichkeit von unter 10%...