Die bisherige noch nicht sehr weit fortgeschrittene Entwicklung eines verhaltensorientierten Ansatzes im Controlling im deutschsprachigen Raum und der gleichzeitige Erfolg des Behavioral Controllings bzw. des Behavioral Accountings in den Vereinigten Staaten von Amerika zeigt, dass eine Berücksichtigung der genannten Erkenntnisse aus der Verhaltensforschung notwendig ist, um Controlling sowohl effizienter als auch effektiver zu gestalten und dementsprechende Phänomene verstehen zu können. Prof. Dr. Bernhard Hirsch verdeutlicht dies in dem folgenden Statement:
„Wenn es gelingt durch die Heranziehung von Erkenntnissen aus der Psychologie im Sinne eines höheren Erkenntnisgewinns, bessere Erklärungssätze im Rahmen der Tätigkeit von Controllern zu entwickeln, besteht die Chance einer verbesserten theoretischen Fundierung der Tätigkeit von Controllern und auch der Controllingfunktion.[62]
Die Erkenntnisse der Psychologie spielen in dem folgenden Kapitel eine tragende Rolle. Zuerst werden ausgewählte Heuristiken und Biases erläutert, die Einfluss auf das Controlling haben. Darauf folgend ist die Erklärung und Erläuterung der Prospect Theory, welche das Verhalten von Individuen in unsicheren Situationen darstellt und somit ebenfalls Phänomene im Controlling erklärt werden können.
Eine Heuristik stellt ein Verfahren oder ein Modell dar, welches Menschen unterstützt Antworten auf komplexe und diffizile Fragen zu finden und somit entsprechende Wahrscheinlichkeiten besser voraussagen zu können.[63] Sie bilden damit die Grundlage für den homo heuristicus. Durch die Nutzung von Heuristiken können Komplexitätsreduzierungen vorgenommen und das intuitive Entscheidungsverhalten ausgebaut werden.[64] Darüber hinaus werden bei der Verwendung auch gewisse Teile von Informationen ausgeblendet. Deutlich wird dies unter anderem an dem folgenden Beispiel. Bei diesem wurden Menschen befragt, ob die amerikanische Stadt Detroit oder Milwaukee mehr Einwohner habe. Deutsche Staatsbürger beantworteten die Frage meist korrekter als Amerikaner. Dies ist damit verbunden, dass Deutsche die Stadt Detroit kennen, in vielen Fällen allerdings noch nie von Milwaukee gehört haben.[65] Die deutschen Befragten erkennen eins der beiden Objekte wieder und lassen diesem einen höheren Wert zukommen, als dem Unbekannten. Um die Aufgabe der Beantwortung einer Frage lösen zu können, vereinfachen Individuen die Frage- oder die Aufgabenstellung und ersetzen diese durch eine andere, welche für sie leichter zu lösen ist.[66] In diesem speziellen Fall war den deutschen Befragten Detroit bekannter als Milwaukee und nur daran haben sie sich bei der Beantwortung orientiert. Milwaukee wird dabei als Möglichkeit vollkommen ausgeblendet. Heuristiken stellen somit im Allgemeinen sehr nützliche Instrumente dar, die jedoch falsche Urteile nicht ausschließen: „In general, these heuristics are quite useful, but sometimes they lead to severe and systematic errors.“[67] Das Menschenbild des homo oeconomicus vertritt den Ansatz, dass möglichst viele Daten gesammelt werden sollten, die wiederum in Entscheidungen einfließen können. In einer Welt, welche durch Risiko definiert wird, wäre dieser Ansatz durchaus erfolgsversprechend. Das Handeln von Unternehmen findet hingegen in einer durch Unsicherheit geprägten Umgebung statt, in der Heuristiken durchaus durch das Selektieren und Ignorieren von Informationen Voraussagen ermöglichen, die als stabil eingestuft werden können.[68] Die Robustheit der Vorhersagen ist damit zu erklären, dass sich die einfachen Regeln nicht an Datenmustern orientieren. Um Fehlentscheidungen durch den Gebrauch von Heuristiken zu vermeiden, sollten diese in der Unternehmenspraxis nach klaren Regeln ausgeübt und die Mitarbeiter dafür sensibilisiert werden.
Neben den zuvor beschriebenen Heuristiken gibt es auch sogenannte Biases oder zu Deutsch Verzerrungen.[69] Biases können als kognitive Verzerrungen beschrieben werden, die aus den Vereinfachungsstrategien der Heuristiken resultieren. Diese entstehen aufgrund der Tatsache, dass Entscheidungen nicht alle möglichen Optionen sowie deren Nutzen berücksichtigen können.[70] Welche Verzerrungen die einzelnen Heuristiken nach sich ziehen können und welche Auswirkungen diese wiederum auf das Controlling haben, wird in diesem Kapitel behandelt.
Um einen tieferen Einblick in die Heuristiken gewähren zu können, werden im Folgenden die Affektheuristik, sowie die Verfügbarkeits- und Repräsentativitätsheuristik nach Tversky und Kahnemann näher beleuchtet. ‚Anchoring’ oder zu deutsch Ankerung wird ebenfalls thematisiert. Die Menge der hier grundsätzlich zur Disposition stehenden Heuristiken macht eine Auswahlentscheidung erforderlich, die auf Grundlage der subjektiven Überlegung des Verfassers getroffen wurde. Ähnlich wie bei den Heuristiken gibt es auch eine Vielzahl von Biases, die aus dem menschlichen Handeln resultieren. Um diese Zahl einzuschränken, liegt die Konzentration im Folgenden auf der Überheblichkeit (Overconfidence), der Kontrollillusion (Ilusion of Control), der Informationsflut (Information Overload), der Tendenz zu Bestätigung der eigenen Angaben („Confirming Bias“), sowie dem organisatorischen Optimismus (Organizational Optimism). Die genannten Heuristiken und Biases nehmen im Rahmen der Controllingfunktion eine besondere Bedeutung ein. Aufgrund dessen wurde sich auf die genannte Anzahl beschränkt.
Die Affektheuristik bezieht sich auf die Emotionen der Akteure, die ein Teil der Entscheidung sind. Menschen treffen oft bestimmte Schlussfolgerungen in Bezug auf Argumente, die besonders dominant erscheinen, weil Emotionen ein Teil davon sind.[71] Die emotionale Einstellung von Individuen zu bestimmten Dingen, impliziert auch deren Haltung gegenüber den damit verbundenen Nutzen und Risiken. Hat man also eine gewisse Abneigung gegenüber einem bestimmten Sachverhalt, so schätzt man dessen Nutzen im Gegensatz zum Risiko sehr gering ein. Die Haltungen und Präferenzen sind jedoch nicht als unveränderbar anzusehen. Dadurch kann auch die emotionale Einstellung zu bestimmten Themen durchaus modifiziert werden. Diese Heuristik ist besonders dann bedeutend wenn der Sachverhalt komplex ist und nicht ausreichend Informationen darüber vorhanden sind.[72] Es kann festgehalten werden, dass der Entscheider bei der Nutzung dieser Heuristik auf seine Emotionen als Entscheidungsgrundlage zurückgreift. Verbindet zum Beispiel ein Manager mit einer zu treffenden Entscheidung ein Risiko, welches in der Gefahr des Verlustes begründet ist, so kann dieser Aspekt das Entscheidungsverhalten z.B. für oder gegen eine Investition durchaus beeinflussen.
Wie verhalten sich Menschen, wenn sie die Häufigkeit einer bestimmten Kategorie oder eines bestimmten Ereignisses abschätzen sollen? Diese Frage stellten Kahnemann und Tversky vor der Erforschung der Verfügbarkeitsheuristik oder auch Availability Heuristic. Sie definierten den Terminus als: „Prozess der Einschätzung von Häufigkeit anhand der Leichtigkeit mit der Beispielfälle erinnert werden.“[73] Auch diese Heuristik versucht den Prozess der Entscheidungsfindung zu simplifizieren, in dem eine diffizile Frage durch eine einfachere ersetzt wird. Hierbei geht es jedoch um die Frage, wie schnell bestimmte Ereignisse aus dem kognitiven Gedächtnis abgerufen werden können, um die Wahrscheinlichkeit eines neuen zu berechnen. Ein dramatisches Vorkommen sorgt z.B. zumindest vorübergehend für eine erhöhte Verfügbarkeit der Kategorie im System 1 des Individuums.[74] Um den Ansatz präziser zu verdeutlichen, soll das folgende Beispiel angeführt werden: Es ist nicht unüblich, dass nach einer Finanzkrise das Investitionsverhalten der Akteure auf dem Finanzmarkt zurückgeht. Die Ursache dafür ist, dass das Ereignis der Finanzkrise leicht abrufbar für die Einzelnen ist, sodass das Verhalten der Individuen danach ausgerichtet wird. Sobald ein paar Jahre ohne Krise in einem bestimmten Segment vergangen sind, steht das Ereignis im Gedächtnis nicht mehr schnell zur Verfügung und die Investitionen würden in diesem Fall wieder zunehmen. Der Vorfall ist in diesem Fall so herausstechend, dass die Wahrscheinlichkeit, dass dieser nochmals eintritt als viel höher eingeschätzt wird als zuvor.[75] Dies impliziert, je einfacher etwas für Menschen abzurufen ist, desto höher ist also auch das Vorkommen dessen. Im Regelfall scheint dies eine durchaus sinnvolle Strategie darzustellen, doch systematische Fehler sind auch bei diesem Ansatz möglich. Neben der Tendenz bestimmte Gegebenheiten nach der Abrufbarkeit in unserem Gedächtnis zu beurteilen, kann ein anderer Fehler in der Bestrebung begründet sein, Dinge nach ihrer Simplifikation zu beurteilen. Tversky und Kahnemann führten zu diesem Problem ein Experiment durch. Dieses beinhaltete die Fragestellung, ob mehr Wörter mit dem Buchstaben r beginnen, als Wörter diesen als dritten Buchstaben haben.[76] Die Antwort der Probanden fiel auf die erste Möglichkeit. Sie waren der Meinung, dass...