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E-Book

Raus!

Mein Weg von der Chefetage in die Psychiatrie und zurück

AutorRüdiger Striemer
VerlagBerlin Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783827077875
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Rüdiger Striemer, erfolgsverwöhnter Manager in der IT-Branche, wird auf dramatische Weise zu der Erkenntnis gezwungen, dass er 'raus' muss. Raus aus dem Job, raus aus seinem Umfeld, am Ende sogar raus aus seiner Wohnung, denn es geht nicht mehr - er kann nicht mehr. Erst diese Kopfschmerzen. Dann der Schwindel, plötzlich und immer wiederkehrend. Und dann kommt die Angst. Unbestimmte Angst, die immer stärker wird, seine komplette Wahrnehmung bestimmt, schließlich zur Hölle wird, bis nur noch Angst in ihm ist - und Panik. Bis er nicht mehr auf die Straße gehen kann. Rüdiger Striemer erzählt die Geschichte eines Menschen in der Mitte des Lebens, der sich selbst in eine psychiatrische Klinik einweist. Weil er keine andere Idee mehr hat. Es ist seine Geschichte. Es ist aber auch die Geschichte einer Mittvierziger-Generation, für die Erfolgsdruck zu den Basiserfahrungen des Lebens gehört - egal in welcher gesellschaftlichen Position. Und es ist ein Buch über jene Menschen, die als erste echte Nachkriegsgeneration in die Geschichte einzugehen auf dem Weg sind, frei von Hinterlassenschaften des Krieges - was sich als Lüge erweist.

Rüdiger Striemer wurde 1968 in Bochum geboren und hat Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Universität Dortmund studiert. Im Anschluss an die darauffolgende Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fraunhofer-Gesellschaft promovierte er an der Technischen Universität Berlin in Informatik. Seit dem Jahr 1999 ist Rüdiger Striemer bei der adesso AG beschäftigt, einem führenden IT-Dienstleister mit Notierung an der Frankfurter Börse. Er ist Co-Vorsitzender des Vorstands in dem Unternehmen, welches in Europa über 1300 Mitarbeiter beschäftigt und große DAX-Konzerne zu seinen Kunden zählt. Rüdiger Striemer lebt in Berlin.

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Leseprobe

GISELA


Grobe Leberwurst soll also zu meiner Genesung beitragen. Ich lange zu. Was soll’s, ich bin hier, um wieder klarzukommen. Fettes Essen ist nicht gesund, so ist das wohl. Aber das ist mir ganz egal, denn es geht mir nicht gut. Ich habe abgenommen in den letzten Monaten. Dabei habe ich erst vor einem halben Jahr das Rauchen aufgegeben. Auf die Waage bringe ich nur noch knapp 88 Kilo, dabei bin ich ziemlich groß, fast zwei Meter. Idealgewicht, könnte man sagen. Aber mit absteigender Tendenz. Mir ist das fast egal, Hauptsache ich werde bald wieder normal. Ganz sicher bleibe ich hier keine sechs Wochen, was für eine absurd lange Zeit.

Ich habe gerade mein Gegenüber im Speisesaal kennengelernt, nur habe ich leider seinen Namen nicht gehört, so geht es mir immer. Obwohl, das ist eigentlich falsch, ich habe den Namen wahrscheinlich gehört, aber nicht verstanden. Vielleicht habe ich ihn sogar verstanden, mir aber nicht gemerkt. Namen sind bei mir sofort weg, jedenfalls in letzter Zeit. Mann, ist das ärgerlich: Ich denke noch »pass auf, er wird dir jetzt seinen Namen sagen«, und bevor ich zu Ende gedacht habe, hat er mir seinen Namen gesagt, und ich habe nicht aufgepasst. »Ich bin Rüdiger«, höre ich mich sagen, und ich reiche ihm meine Hand, was ihm einige Umstände bereitet, denn er muss die Gabel aus der Hand legen, mit der er gerade eine Gurke aufgespießt hat, um sie auf sein Brot zu legen.

Abends gibt es Brot, Abendbrot. Und Salate. Und Käse, Wurst, manchmal gedünstetes Gemüse, wenn wieder mal jemand ebendas zum Thema gemacht hat in der Mittwochmittagsmeckerstunde. Ich bemühe mich um ein freundliches Lächeln, und das meine ich durchaus ernst. Ich bin etwas erleichtert, nicht so ganz allein zu sein hier am Ende der Welt, und der Mann an meinem Tisch, dessen Namen ich nicht verstehe oder höre oder hören will, will auch freundlich sein. Er lächelt. Jürgen oder Wolfgang oder Horst lächelt. Ich glaube Wolfgang. Egal, wir verständigen uns wortlos darauf, dass wir uns wortlos verständigen. Er lächelt, ich lächle. Mein erster sozialer Kontakt, wenn man von der Stationsschwester absieht, die mich hier eingeführt hat, vor ein paar Stunden.

Wolfgang. Der ist also auch bekloppt, denke ich, und meine Gefühle dabei sind gemischt. Einerseits bin ich schließlich auch hier. Einerseits. Andererseits habe ich keine Idee, was die Leute hier so haben. Das heißt, theoretisch weiß ich das sogar. Die Beschreibung im Internet hat das ja sehr genau aufgelistet: Depression, Angststörungen und Suchterkrankungen. Und Burnout. Letzteres ist auch mein Grund, hier zu sein. Also habe ich – anders als die anderen – keine psychische Störung, ich habe eben Burnout. Sonst ist alles gut, ich muss mich hier jetzt mal erholen, und dann werde ich wieder ganz der Alte, bestimmt. Und bestimmt werden hier noch ein paar mehr sein, denen es ähnlich geht.

Und dann sind da die mit den psychischen Störungen – Depression, Angst, Sucht. Na ja gut, also eine Angststörung habe ich wohl auch, das kann ich wirklich nicht leugnen, dazu hat es mich viel zu sehr aus der Bahn gehauen. Aber Depression? Vielleicht, irgendwie. Sucht? Das wohl nicht. Ich frage mich, wieso Wolfgang hier ist, aber ich frage eben mich, nicht ihn. Wenn es zum guten Ton gehören würde zu fragen, würde er mich fragen. Tut er aber nicht, also halte ich auch die Klappe, jedenfalls zum Thema Krankheit und Diagnose. Wolfgang ist nett, lächelt mich an. Ich glaube, er will mir ein gutes Gefühl geben. Ich werde etwas ruhiger, schaue ihn an, beobachte, wie er sein Abendbrot sortiert, wie er im Raum umherschaut, dabei immer wieder bei mir landet, lächelt, Ruhe ausstrahlt, Zuversicht.

Wolfgang macht keinen unglücklichen Eindruck, auch keinen beunruhigten oder verrückten. Wolfgang sitzt einfach da und isst sein Abendbrot. Fast habe ich den Eindruck, als sei er zufrieden. Aber was sagt mir das schon, ich bin gerade vor ein paar Stunden angekommen, ich habe überhaupt keine Idee, was Wolfgangs vermeintliche Zufriedenheit wohl bedeuten kann. Ich bin unsicher, lächle zurück, schaue umher. Die Tische sind nur teilweise besetzt. Entweder die Klinik ist nur halb belegt, oder jeder macht hier, was er will, und kommt zum Essen oder nicht. Später werde ich lernen, dass das Abendbrot das Highlight des Tages ist, die letzte große Aktion, bevor alle sich zurückziehen und wer weiß was machen.

Aber heute ist es hier ruhig, fast unangenehm ruhig. An meinem Tisch sind vier Plätze eingedeckt, Wolfgangs und meiner und zwei weitere. An meinem Platz liegt eine ordentlich gefaltete Stoffserviette in einem Ring aus Edelstahl. Auf dem Ring hat jemand einen mit meinem Namen bedruckten transparenten Aufkleber angebracht. Dies ist mein Platz, und er wird es bis zum Ende bleiben. Wie alle habe ich einen festen Platz. Erst nach ein paar Tagen wird mir klar, wieso. Denn hier hat jeder irgendwelche Unverträglichkeiten oder ist Vegetarier oder darf auf keinen Fall mit gekochten Kartoffeln in Berührung kommen. Ich selbst entwickle im Laufe der Zeit eine gewisse Aggression gegen die ewigen Dekorationssprossen auf jedem Gericht, aber sonst bin ich eigentlich recht problemlos, wenn man das in einer psychiatrischen Klinik überhaupt so sagen kann. Aber da es nun mal viele Leute mit besonderen Essgewohnheiten gibt und man vom Personal des Speisesaals kaum verlangen kann, neben all den Abnormitäten auch noch die dazugehörigen Gesichter auswendig zu lernen und dann auch noch mit vier Tellern auf den Händen das Richtige ausfindig zu machen und zielstrebig darauf zuzubalancieren, hat jeder seinen Platz. Striemer mit allem und scharf an Tisch fünf mit dem Rücken zum See.

Abends gibt es Buffet, außer mittwochs. Man muss sich am Abend schon selbst um seine Allergien und Unverträglichkeiten kümmern, außer eben mittwochs. Und mittags, da sowieso nicht, denn da gibt es ein Drei-Gänge-Menü vom Allerfeinsten. Seit Jahren esse ich mittags nur das Allernötigste, am liebsten ein bisschen Salat und etwas Brot. Aber nicht etwa, weil ich glaube, dadurch Kalorien zu sparen oder besonders schön zu werden, sondern weil ich sonst unweigerlich einschlafe. Hier ist das egal, denn ich könnte sowieso immer schlafen. Also kann ich auch eine Essenz vom Fasan mit pochiertem Wachtelei und Rosmarincroûtons essen, gefolgt von einem Lammkarree mit Estragon und Petersilienwurzelpüree und dann noch ein Halbgefrorenes von Zitrusfrüchten. Aber abends: Buffet, und nicht zu knapp. Ich habe schon die dritte Scheibe Brot und viel, sehr viel »diverse Saisonsalate«, vorzugsweise mit Mayonnaise und Eiern oder beidem oder Fleischwurst, in mir.

Er lächelt, Wolfgang lächelt und gibt mir das Gefühl, dass er mir ein besonders gutes Gefühl geben will. Ohne zu nerven mit irgendwelchen Fragen. Das finde ich sehr rücksichtsvoll, ich würde ihn auch nicht einfach irgendwas fragen, zumindest nichts allzu Privates. Schließlich geht mich das gar nichts an. Dabei habe ich selbst gar keine Angst vor Fragen. Sprechen kann ich, und ich weiß, warum ich hier bin. Ich habe nichts zu verbergen. Wieso fragt denn der nichts? Er lächelt. Wolfgang ist ungefähr zehn Jahre älter als ich, also Anfang fünfzig, einen Kopf kleiner, hat volles Haar und sieht aus wie jemand, der seine gesunde Hautfarbe und seine normalen Proportionen erst gerade wieder zurückgewonnen hat. Aus seinen Augen blinkt ein Rest Unbeschwertheit, den er sich über die Jahre, Jahrzehnte und über die Erkrankung bewahrt hat. So langsam bekomme ich das Gefühl, dass Wolfgangs Unbeschwertheit mein Ziel sein muss, aber vermutlich irre ich mich da tüchtig, was weiß ich schon von den Umständen, die ihn hierhergebracht haben, und was weiß ich vor allem von den Umständen, die mich hier wieder wegbringen?

Gisela hat mich vor ein paar Stunden hergefahren, und ohne sie wäre es schlichtweg nicht gegangen, denn ich hätte mein Auto nicht mal allein fahren können. Vor Angst. Die Stationsschwestern haben mich dann in Empfang genommen und Gisela das gute Gefühl vermittelt, dass ich aufgehoben bin. Noch eine Stunde zuvor habe ich in meiner Wohnung gestanden und geweint. Geweint, weil ich meine Wohnung verlassen musste, auf unbestimmte Zeit, mit ungewissem Ziel, und das, obwohl ich doch gedacht hatte, ich krieg’s auch so hin. Denn ich war ja schlau. Und es durfte doch nicht sein, dass ich wirklich »raus« musste. Raus aus dem Job, aus meiner gewohnten Welt, rausaus dem Leben, aus allem, was bisher war, raus aus der Kontinuität der letzten Jahre, Jahrzehnte.

Aber nun stand ich in meiner Wohnung und weinte. Ich schaute mir alles noch mal an, fühlte mich leer, kalt. Ich drehte die Heizung ab, hier würde so schnell niemand Wärme brauchen. Es war der 10. November, der Winter würde bald kommen oder jedenfalls tat er so – es wurde langsam kalt. Aber es war sonnig, und so würde es bleiben. Kalt und sonnig, so konnte man es doch eigentlich ertragen. Kälte war in meiner Wohnung und in mir. Hatte ich alles bedacht? Alles war ausgeschaltet, die Fenster waren geschlossen, ich ging durch meine Wohnung und schaute mir alles an. Das war’s dann wohl erst mal. Hierher würde ich so schnell nicht zurückkommen. Konnte ich nicht vielleicht doch hierbleiben? Hier war doch mein Zuhause, mein warmes Heim, hier war ich, und nun musste ich weg. Abschied. Abschied von zu Hause. Abschied.

Ich musste weinen. Seit langer, sehr langer Zeit musste ich mal wieder weinen. War es wirklich nötig? Für viele Wochen, vielleicht Monate, mein Heim verlassen? Es klingelte, Gisela stand vor der Tür. Meine herzensgute Nachbarin brachte mich. Man brachte mich. Ich wurde gebracht. Ich wurde in den Wald gebracht, ans Ende der Welt. Aber ich hatte keine andere Idee, habe sie bis jetzt nicht, ich...

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