1.Perfektionismus verabschieden
Sonntagabend, 23.48 Uhr. Das Arbeitsblatt für die 9 A. Stunden hat es gebraucht, bis Sie es in Form gebracht haben. Schön soll es aussehen. Am besten auf gelbem Papier, damit auch alles gut lesbar ist. Wenn da nicht zwei Fragen übrig wären: Wo um alles in der Welt soll nur das Datum stehen? Oben links? Vielleicht doch besser unten rechts? Und welches Datum überhaupt? Das von heute? Oder das von morgen, wenn die Schüler es bearbeiten? Schrecklich, Ihre Kollegin Nixwieweg können Sie ja nun auch nicht mehr anrufen. Oder vielleicht doch? Die weiß doch so was immer. Schon haben Sie den Hörer in der Hand – und legen ihn wieder beiseite. Inzwischen schlägt’s Mitternacht. Entscheidungen, Entscheidungen – sie zu fällen, ist schwierig. Auch für Sie? Es wäre ja nicht so schlimm, liefe Ihnen nicht die Zeit davon, wären Sie nicht sowieso schon dauernd erschöpft und angespannt. »Das packe ich nicht.« Und überhaupt: »Ich will das eigentlich alles gar nicht.«
Das sollten Sie wissen
Der Hang zum Perfektionismus ist weitverbreitet. Nach Perfektion zu streben ist zunächst auch wünschenswert. Wenn Ihre Spülmaschine nach der Reparatur immer noch leckt, würden Sie sich ja auch bedanken. Zum Problem wird die Sache mit dem Perfektionismus, wenn die Perfektion zum Selbstzweck wird, wenn Selbstwirksamkeit und Selbstwert nur noch davon abhängen, dass man eine Arbeit bis aufs i-Tüpfelchen genau erledigt. Und vor allen Dingen: immer! Warum ist der Drang, alles perfekt zu erledigen, denn so nachteilig? Perfektion schafft in Wahrheit niemand, aber die Idee der Perfektion schafft am Ende jeden: Menschen sind nun mal nicht perfekt – und die Welt scheint es auch nicht zu sein. Will man immer perfekt sein oder handeln, dann läuft man einem Ideal hinterher, das man nicht erreichen kann. Für einen Perfektionisten ist Perfektion einfach alles! Schnell sieht man ein: Das kann nicht gutgehen. Immer wieder wird der Perfektionist an der Realität scheitern. Die Folge: Versagensangst macht sich breit, immer mehr und immer öfter. So gesehen ist der Hang zum Perfektionismus damit verbunden, stets unzufrieden zu sein. Man fühlt sich dauernd unter Druck gesetzt. Immer den Gedanken im Kopf: Gut ist nicht gut genug. Man sitzt im Hamsterrad, aus dem man nicht aussteigen kann.
Und noch eins sollte uns nachdenklich machen: »Perfektion ist der größte Makel – wer alles ist, kann nichts mehr werden.« Was meint Maik Alwin mit diesem Satz? Wir haben da unsere ganz eigene Sicht. Haben sich Perfektionisten schon einmal gefragt: Was wäre eigentlich, wenn sie ihr Ziel erreicht hätten, ja, wenn sogar alle dieses Ziel erreicht hätten? Eine grauenvolle Vorstellung, wie Alwin uns mitteilt: Perfektion bedeutet – zu Ende gedacht – Stillstand. Perfektion ist das Paradies, in dem sich nichts mehr bewegt, ein Paradies, in dem jede Entwicklung unmöglich, da unnötig geworden ist. Eine grauenvolle Vorstellung, oder? Perfektion ist ein tolles Ziel, eben ein Ideal. Das Ideal anzustreben macht Sinn – für jeden von uns. Dieser Sinn ist aber in dem Moment flüchtig, in dem wir das Ziel erreichen. Also: Nehmen wir den Weg als das Ziel. Auf dem Weg zur Perfektion können wir kreativ sein und uns entwickeln. Das Ziel ist Ansporn und Herausforderung. Doch bleiben wir gelassen, wenn wir das Ziel nicht erreichen.
Für viele scheint Perfektionismus wie eine genetische Disposition. Mr. Perfect ist eben so: Er ist ein Meter fünfundsiebzig groß, Lehrer und Perfektionist. Klar, wir haben verloren, wenn wir Perfektionismus zur genetischen Disposition machen. Das hat der Perfektionismus nicht verdient und die Perfektionisten auch nicht. Warum? Weil es ganz anders ist: Man ist nicht Perfektionist, man wird dazu gemacht. Frau übrigens auch. Eltern, Lehrer, Ausbilder und Vorgesetzte, sie tragen die meiste Verantwortung dafür, dass sinnvolle Herausforderungen zu perfektionistischen Ansprüchen mutieren. »Wenn du das L nicht wirklich genau auf die Linie schreibst, dann ist das ganz schlecht.« Hat jemand erst einmal das schlechte Gewissen eingetrichtert bekommen für alles, was andere für perfekt halten, dann wird er irgendwann glauben: So muss die Welt laufen – eben perfekt. Und wenn ich das nicht packe, dann packt mich die Welt eben ein und ich bin verloren im finsteren Wald der perfekten Ansprüche. Der Hamsterlauf beginnt. Und Sie haben’s gemerkt: Er beginnt im Kopf. Ein Teufelskreis, der zeitaufwendig und kräftezehrend ist. Aber immer bleibt es ein ganz persönlicher Kampf gegen die Windmühlen, die man selbst aufgestellt hat.
Für Lehrer ist das Problem besonders virulent: Sie sind täglich mit so vielen Herausforderungen konfrontiert, dass sie einem Ideal von Perfektionismus besonders wenig entsprechen können. Ein bisschen so wie bei der Queen oder dem amerikanischen Präsidenten: 40 Menschen in einer Stunde die Hand geben, freundlich sein, freundlich lächeln, freundlich talken… Wem kann man da gerecht werden? Und wir als arme Lehrer? Schon bei der Unterrichtsplanung geht’s los: Wer weiß schon vorher ganz genau, was später in der Unterrichtsstunde tatsächlich passieren wird? Schüler reagieren nun mal spontan. Und das ist auch gut so. Doch diese Spontanität macht einen perfekten Plan unmöglich. Gott sei Dank, könnte man sagen. Aber für den Perfektionisten ist das der größte Schrecken. Was wird er tun? Noch länger planen, noch genauer planen? Wo sitzen Sie eigentlich Sonntagabend um Viertel vor zwölf?
Das können Sie tun
Raus aus dem Hamsterrad heißt auch raus aus dem Perfektionismus:
Kennen Sie Aufgaben in Ihrem Leben, die Sie ziemlich belanglos finden? Abwaschen vielleicht oder die Toilette putzen? Großartig! Nutzen Sie die Chance: Handeln Sie mal so richtig liederlich, was diese Aufgaben angeht. Seien Sie mal alles andere als perfekt. Und wenn’s geklappt hat: Dann gehen Sie ruhig mal unvorbereitet in Ihre 9 A. Schlechtes Gewissen? Gut so! Das ungute Gefühl steht in direkter Beziehung zu der Kraft, die Sie gerade aufbringen, Ihrem Perfektionismus die Stirn zu bieten. Wir gratulieren!
Sind Sie ein Entscheidungsmuffel? Klasse! Dann lernen Sie, schnell zu entscheiden. So tricksen Sie Ihren Hang zum Perfektionismus ganz leicht aus! Wie Sie’s machen? Ein Beispiel: Sie haben vier Optionen A, B, C und D, zwischen denen Sie wählen können. Schreiben Sie auf vier gleich große Karteikarten (DIN A6) jeweils einen der Buchstaben; werfen Sie die Karten über einem Tisch in die Luft. Welche Karteikarte liegt auf dem Tisch und am nächsten an einer Tischkante? Die Karte mit dem B? Alles klar: Lösung B setzen Sie um! Aber bitte sofort und ohne Wenn und Aber. Alternativ können Sie das Spiel auch mit einem Würfel durchführen. Wenden Sie die Strategie gleich morgen an. Sie haben vier Texte zur Auswahl für Ihre 9 A. Los geht’s!
Essen Sie gern Kuchen? Großartig! Laden Sie ein paar Leute zum Kaffee ein und sprechen Sie mit ihnen über die Aufgaben, die Sie gerade erledigen wollen. Bestimmt sind ein paar Ihrer Freunde Realisten und helfen Ihnen, Ihren Hang zum Perfekten in die rechte Bahn zu lenken. Und bestimmt sagen Ihnen Ihre Freunde so nebenbei, wo sie auf einem Arbeitsblatt ein Datum platzieren würden. Machen Sie’s einfach nach, statt weiter zu grübeln.
»Gut ist gut genug.« Das ist ein toller Satz, der Ihren Perfektionismus bremsen wird. Schreiben Sie sich den Satz auf ein DIN-A4-Blatt, kopieren Sie dieses Blatt mindestens zehnmal. Übrigens: Dicke Schrift und farbige Buchstaben sind etwas Wunderbares. Und dann? Hängen Sie die Blätter in Ihrer Wohnung auf, und zwar an Stellen, die Sie täglich ein paar Mal passieren. Lassen Sie die Zettel mindestens vier Wochen hängen. Für besonders Ambitionierte: Sprechen Sie den Satz laut aus – so oft Sie daran denken.
Das lassen Sie lieber
Unterscheiden Sie unbedingt wichtige von weniger wichtigen Aufgaben. Wichtig kann Ihr Bewerbungsschreiben sein; deshalb sollte es fehlerfrei sein. Wichtig kann Ihr Heiratsantrag sein; Sie sollten Ihre Partnerin nicht verwechseln. Weniger wichtige Situationen dürfen Sie ruhig mal oberflächlich angehen. Und denken Sie daran: Es gibt Situationen, die völlig unwichtig sind. Hier hat Ihr Perfektionismus nichts zu suchen.
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