1 Heilpädagogik zwischen Assistenz und Anwaltschaft – Hinführung an ein komplexes Themengebiet
1.1 Heilpädagogik als ganzheitliche (Handlungs-)Wissenschaft
Schon 1925 schrieb Theodor Heller: »Der Begriff ›Heilpädagogik‹ ist keineswegs eindeutig bestimmt« und verwies damit zurecht auf die Unklarheiten und Missverstände, die der Begriff »Heilpädagogik« mit sich bringen kann. Insofern sind eine geschichtliche Betrachtung, eine Definition und eine Darstellung der Heilpädagogik notwendig.
Der Begriff »Heilpädagogik«, begründet von Heinrich Marianus Deinhardt, Jan-Daniel Georgens und Jeanne Marie von Gayette, geht zurück auf das Jahr 1861/1863. Die Pädagogen Deinhardt und Georgens veröffentlichten ihre Erkenntnisse und Beobachtungen zum Thema »Heilpädagogik« in zwei Bänden unter dem Titel Die Heilpädagogik mit besonderer Berücksichtigung der Idiotie und der Idiotenanstalten (Georgens/Deinhardt, 1979). Sie betrieben in der Nähe von Wien eine Einrichtung mit dem Namen »Levana« (Bundschuh, 2010, 47 ff.), welche heute einem Wohnheim für Menschen mit mentalen Beeinträchtigungen gleichkommen dürfte.
Ein von Theodor Heller problematisiertes Missverständnis der Heilpädagogik verbirgt sich schon im Namen, genauer gesagt im Wortteil »Heil-«. Allzu oft wird »heil« gedanklich im Sinne eines medizinischen Heilens verwendet. Es ist jedoch dem historisch-deutschen Sprachgebrauch nach von »ganz« abgeleitet.
Beispiel
»Da sind die Verfasser aber heilfroh, dass Sie sich für dieses Fachbuch entschieden haben.«
An dem genannten Beispiel wird deutlich, dass der Begriff »heil« in dem Wort »Heilpädagogik« einen ganzheitlichen Ansatz in der Arbeit mit Menschen verfolgt (Speck, 2003).
Heilpädagogik ist demnach eine ganzheitliche Pädagogik am/für/mit Menschen!
Der heilpädagogische (ganzheitliche) Ansatz und Anspruch verortet sich auf zwei Ebenen:
• der individuellen Ebene in der heilpädagogischen Arbeit und
• der systemischen Ebene in der heilpädagogischen Arbeit.
1.1.1 Zur individuellen Ebene/Betrachtungsweise des Menschen in der Heilpädagogik
Die individuelle Ebene in der heilpädagogischen Arbeit impliziert auch die Annahme der Untrennbarkeit des Körpers, der Seele und des Geistes eines Individuums. Dass der Mensch mehr als die Summe seiner Teile ist, zeigt sich in der heilpädagogischen Arbeit täglich.
Beispiel
Ein neunjähriger Junge erlebt mit seiner Mutter einen Autounfall, die Mutter verstirbt. Der Junge verarbeitet diese traumatischen Erlebnisse nicht bzw. sehr schwer. Er »entwickelt« einen selektiven Mutismus. In diesem Fall spricht der Junge nicht mehr verbal, sondern schreibt alles, was er möchte, auf ein Blatt Papier und zeigt dieses Blatt nur bestimmten, von ihm ausgewählten (subjektiv vertrauenswürdigen) Personen. Es wäre nicht zielführend, mit dem Jungen eine sprachheilpädagogische Behandlung durchzuführen, da man bestenfalls nur die körperlichen (physischen) Symptome behandeln könnte. Die Ursache ist – wie dargestellt – jedoch seelischer (psychischer) Natur, die seine soziale (somit auch geistige) Umwelt, im Sinne von »Kommunikation ist Interaktion« beeinträchtigt.
Beim Selektiven Mutismus (ICD-10: F94.0) zeigen die Kinder nur bestimmten Personen gegenüber eine Sprechverweigerung und wirken ängstlich und gehemmt, unterschwellig oft trotzig und verbohrt (Möller/Laux/Deister, 2005, 454).
Dieser Gedanke, dass der Mensch sich nicht in seine »Einzelteile« aufteilen lässt, unterscheidet die Heilpädagogik bisweilen von medizinisch-therapeutischen Berufen. Diesem »Bio-Psycho-Soziomodell« und der damit einhergehenden Untrennbarkeit findet sich auch in der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur »Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit« (WHO-ICF) wieder. Der ganzheitliche Ansatz der WHO-ICF einer untrennbaren »Bio-Psycho-Sozio-Einheit« eines Menschen war auch federführend (Deinert/Welti, 2014, 147) für den im Jahr 2001 eingeführten § 2, Abs. 1 im SGB IX. Dort heißt es:
»Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.«
1.1.2 Zur systemischen Ebene der Heilpädagogik
Ein wesentlicher Wegbereiter des systemischen Denkens ist der Schweizer Uri Bronfenbrenner. In seinem Buch Die Ökologie der menschlichen Entwicklung (1981) unterscheidet er vier bzw. fünf Systeme, in denen der Mensch – mehr oder weniger – aktiv teilhat. Das systemische Denken in der Tradition Bronfenbrenners hat sich in den vergangenen dreißig Jahren stetig weiterentwickelt und ist heute für die Heilpädagogik nicht mehr wegzudenken.
Bronfenbrenner benennt vier Systeme, welche synonym auch »Kosmen« genannt werden können: das Mikrosystem, das Mesosystem, Exosystem und das Makrosystem. Ergänzend hinzu kommt das Chronosystem.
Das Mikrosystem ist ein Lebensbereich (z. B. Familie, Wohngruppe, Schulklasse, Arbeitsstelle etc.), in dem der Mensch durch direkte Interaktion teilnimmt und im Rahmen seiner Möglichkeiten interagiert.
Die nächsthöhere Ordnung nimmt das Mesosystem ein. Es ist gekennzeichnet durch die Wechselwirkungen der einzelnen Mikrosysteme, z. B. Kindertagesstätte → elterliches Zuhause, Werkstatt für Menschen mit Behinderung (WfbM) → Wohngruppe für Menschen mit Behinderung etc.
Als Exosystem kennzeichnet Bronfenbrenner ein System, das keinen direkten Einfluss mehr auf die unmittelbare Lebenswelt des individuellen Mikrosystems hat. Als Beispiele seien hier genannt: Freundschaften oder Großeltern, die den Eltern in der Erziehung ihrer Kinder zureden, Beschlüsse von Teamsitzungen, die in Wohngruppen eines Kinderheimes umgesetzt werden, etc.
Gesellschaftliche Weltanschauungen und Ideologien, die durch Politik und ggf. Kirche repräsentiert werden, finden sich im sogenannten Makrosystem. Beispielhaft sei hier die Integration von Menschen mit Behinderung genannt.
Das Chronosystem schließlich repräsentiert die geschichtlichen und paradigmatischen Wandlungen der einzelnen zuvor genannten Systeme, z. B., dass Frauen heutzutage als Arbeitnehmerinnen zum familiären Einkommen beitragen. Im Jahr 1920 war das nahezu undenkbar.
Paul Moor schrieb bereits 1965 in seinem Buch »Heilpädagogik – ein pädagogisches Lehrbuch« wesentliche Grundannahmen des ganzheitlichen (heilpädagogischen) und systemischen Denkens und Handelns der Heilpädagogik in drei Grundsätzen wider:
1. Erst verstehen, dann erziehen.
2. Nicht gegen die Fehler, sondern für das Fehlende.
3. Nicht das Kind ist zu erziehen, sondern sein Umfeld.
Die gedankliche Übereinstimmung der Aussage Moors »Nicht das Kind ist zu erziehen, sondern sein Umfeld« zum systemischen Denken Bronfenbrenners ist naheliegend. Besonders, wenn man die zuvor genannten horizontalen und linearen Einflussfaktoren des jeweiligen Mikrosystems auf die Entwicklungsfähigkeit des Menschen berücksichtigt.
Abb. 2: Systemische Sichtweise der Heilpädagogik (Köhn, 2003, 82 ff.)
Besonders deutlich ergibt sich aus der Aussage Paul Moors » Nicht das Kind ist zu erziehen, sondern sein Umfeld« der Auftrag, nicht nur mit dem Kind (respektive Klienten), sondern auch mit seinen Eltern (respektive Angehörigen) zu arbeiten. Diese Forderung ergibt sich unter anderem auch aus § 22a, Abs. 2, Punkt 1 des SGB VIII, in dem eine Zusammenarbeit der Fachkräfte in Kindertagesstätten mit den Erziehungsberechtigten gefordert wird.
§ 22a SGB VIII »Förderung in Tageseinrichtungen«
(2) Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe sollen sicherstellen, dass die Fachkräfte in ihren Einrichtungen zusammenarbeiten
1. mit den Erziehungsberechtigten und Tagespflegepersonen zum Wohl der Kinder und zur...