KOSMOPOLIS
SPRACHE
Eine Art menschlicher Sprache entstand vermutlich vor mindestens 100.000 Jahren durch eine evolutionäre Weiterentwicklung des Gehirns, des Brustkorbs und des Vokaltrakts.1 Sprechen auf diese höchst elementare Art bedeutet, dass man den Luftstrom aus der Lunge durch Bewegungen des Brustkorbs, des Kiefers, der Zunge und der Lippen moduliert und dadurch unterscheidbare Laute mit erkennbaren Bedeutungen produziert. Wenn wir von einem Kleinkind sagen: »Es redet schon«, hat es diese Art zu sprechen gelernt.
Eine hoch entwickelte Kommunikationsfähigkeit unter Verwendung von Sprache und abstraktem Denken unterscheidet uns Menschen von unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen und Bonobos. Je mehr wir über die Welt der Tiere lernen, umso höher schätzen wir das Kommunikationsniveau bei Delphinen oder Schimpansen ein. Videos im Netz zeigen, wie gut Kanzi, der bis jetzt sprachbegabteste Bonobo, die menschliche Sprache versteht. Sie zeigen auch, wie er »antwortet«, indem er Lexigramme auf einem Computerbildschirm antippt. Kanzi hat angeblich gelernt, etwa 500 Wörter zu »sagen« und etwa 3000 zu verstehen. Dennoch besteht immer noch ein großer qualitativer Unterschied zwischen seiner Ausdrucksfähigkeit und der der meisten Menschen, selbst wenn man nicht berücksichtigt, dass er mit Brust- und Vokaltrakt nicht wie der Mensch längere Folgen erkennbarer Laute produzieren kann.2
Gegen Ende einer Lebenszeit, die er der Erforschung des Tierreichs gewidmet hat, antwortete der britische Tierfilmer und Naturforscher David Attenborough auf die Frage, was seiner Ansicht nach das erstaunlichste Geschöpf auf Erden sei: »Das einzige Geschöpf, bei dem mir vor Staunen so der Mund offen stehen bleibt, dass ich mich fast nicht losreißen kann, ist ein neun Monate altes menschliches Baby: Wie schnell es wächst. Wie schnell es lernt. Wie schnell es Nerven entwickelt. Es ist von allen Geschöpfen das komplexeste und das außergewöhnlichste. Nichts lässt sich mit ihm vergleichen.«3 Eines der Dinge, die es wie kein anderes Tier lernt, ist die Sprache. Nach dem Evolutionspsychologen Robin Dunbar kann ein durchschnittliches Kind mit drei Jahren etwa 1000 Wörter gebrauchen (doppelt so viele wie der von Kanzi aufgestellte Bonobo-Weltrekord), mit sechs sind es etwa 13.000 und mit achtzehn etwa 60.000. »Das heißt, es hat seit seinem ersten Geburtstag im Durchschnitt 10 neue Wörter pro Tag gelernt; also alle 90 Minuten der im wachen Zustand verbrachten Zeit ein neues Wort.«4
Die Sprache ist nicht nur eines von vielen menschlichen Merkmalen, sie ist ein prägendes Merkmal des Menschlichen. Als der Historiker Tony Judt durch Amyotrophe Lateralsklerose langsam die Fähigkeit zur verständlichen Kommunikation verlor, sagte er, zwischen zwei Atemzügen, die bereits von einer an seine Nasenlöcher angeschlossenen Beatmungsmaschine gesteuert wurden, zu mir die unvergesslichen Sätze: »Solange ich kommunizieren kann, lebe ich noch« (Pause für einen maschinell gesteuerten Atemzug). »Wenn ich nicht mehr kommunizieren kann« (Pause für einen maschinell gesteuerten Atemzug), »bin ich nicht mehr am Leben.«5 Ich kommuniziere, also bin ich.
Menschliche Kommunikation ist nie allein auf die Sprache beschränkt. Körperkontakt, Handbewegungen und Gesichtsausdruck spielten bestimmt schon eine wichtige Rolle, bevor der Brustkorb, die Zunge und das Gehirn zum ersten Sprechakt in der Lage waren. Donald Brown fasst in einer Skizze der von ihm so genannten Universal People zusammen, was er für anthropologisch gesicherte universale Eigenschaften des Menschen hält. Dabei behandelt er sehr ausführlich Sprechen und Sprache, schließt aber auch körperliche Gesten und eine ganze Bandbreite per Gesichtsausdruck vermittelter Botschaften mit ein.6
Außerdem nutzen wir schon seit Urzeiten nicht nur unseren Körper, um zu kommunizieren. Die ältesten bekannten Höhlenmalereien sind vor etwa 40.000 Jahren entstanden. Es gibt Hinweise auf Musikinstrumente, die vermutlich genauso alt sind, und auf Schmuck, der noch älter ist.7 All das sind entfernte Vorläufer der Kunstwerke, Cartoons, YouTube-Clips, Demonstrationsplakate, Fahnenverbrennungen, Theatervorstellungen, Lieder, Tätowierungen, Kleidungsstücke, Speisen, Instagram- und GIF-Bilder, Second-Life-Avatare, Emojis und Myriaden anderer zeitgenössischer Ausdrucksformen, die alle unter den Begriff »Redefreiheit« fallen. Oder wie es der Dichter John Milton in der Schrift Areopagitica formulierte, durch die er sich Mitte des 17. Jahrhunderts in England gegen die Zensur wandte: dass »alles, was wir hören oder sehen, sei es im Sitzen, Gehen, Reisen, oder im Gespräch, füglich unser Buch genannt werden kann«.8
Der neue Kontext, in dem sich die Frage der freien Meinungsäußerung heute stellt, ist freilich das Ergebnis neuerer Entwicklungen im Bereich der Kommunikation. Ihre Beschleunigung lässt sich auf zwei Hauptvektoren verfolgen: dem physischen und dem virtuellen9. Auf einer Zeitachse könnte man extrem selektiv folgende Mittel auflisten, die die Menschen nacheinander gefunden haben, um sich einander physisch zu nähern: Gehen, Rennen, Schwimmen, Einbaum, Reittier, Rad, Flussboot, hochseetüchtiges Schiff, Zug, Kraftfahrzeug, Propellerflugzeug, Düsenflugzeug. Die technische Entwicklung des Massentransports ist mit dem Düsenflugzeug vorläufig zum Stillstand gekommen, doch es wird von immer mehr Menschen benutzt. Im Jahr 1970 wurden gut 300 Millionen Passagierflüge registriert. Heute sind es mehr als drei Milliarden im Jahr, also kommt knapp ein Flug auf je zwei Erdenbürger.10
Abb. 2: Zunahme von Passagierflügen
Quelle: World Development Indicators, 2014.
Die meisten Flugzeugpassagiere besuchen andere Länder, aber manche wandern auch aus. Die UNO schätzt, dass etwa jeder 30. Mensch auf der Erde einmal in seinem Leben in ein neues Land zieht.11 In einem Dokument des Vatikans heißt es: »Die heutigen Migrationsbewegungen sind die größten aller Zeiten«.12 Die Erde ist heute ein großstädtischer Planet. Im Jahr 2014 lebte bereits mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Großstädten, und laut Schätzungen der UNO werden die Großstädte auf der Welt bis 2020 um weitere 2,5 Milliarden Menschen wachsen.13 Dabei wird es sich, insbesondere in den sogenannten Megastädten mit mehr als zehn Millionen Einwohnern, um Männer, Frauen und Kinder aus aller Welt handeln. Heute ist in mindestens 25 Weltstädten mehr als jeder vierte Einwohner im Ausland geboren, und 2011 kam eine kanadische Volkszählung zu dem überraschenden Ergebnis, dass 51 Prozent der Bevölkerung Torontos im Ausland geboren sind.14 Dabei sind die sogenannten Postmigranten, die Kinder und Enkel von Migranten, im Deutschen auch »Menschen mit Migrationshintergrund« genannt, noch gar nicht mitgerechnet. In solchen Großstädten lebt man routinemäßig mit Männern und Frauen aus allen möglichen Ländern, Kulturen, Religionen und Volksgruppen auf engstem Raum.
Abb. 3: Hyperdiversität: Torontos sichtbare Minderheiten
Zeigt einen Abriss der definierten »sichtbaren Minderheiten«, die im Jahr 2011 49 Prozent der Bevölkerung von Toronto ausmachten.
Quelle: Canadian National Household Survey, 2011.
Man braucht nur die U-Bahn, die Metro, die Tube oder den Subway zu nehmen, und die ganze Menschheit fährt mit. Diese beispiellose Vielfalt wurde nicht allein durch die technologischen Fortschritte bei den physischen Transportmitteln verursacht. Zu den tieferen Ursachen gehören postkoloniale Altlasten, der Einfluss von Kriegen, Revolutionen und Hungersnöten, der gähnende ökonomische Abgrund zwischen den reichen Ländern des Nordens und den armen Ländern des Südens, die Anziehungskraft offener und die abstoßende Kraft geschlossener Gesellschaften. Wie schon vor 5000 Jahren gehen Menschen auch heute noch Hunderte von Kilometern zu Fuß und überqueren gefährliche Gewässer, weil sie für sich und ihre Angehörigen ein besseres Leben erhoffen. Aber dank den neuen Technologien des physischen Transports können sie sich heute leichter bewegen.
Dieselben neuen Transportmittel versetzen die Migranten und ihre postmigrantischen Kinder und Kindeskinder heute auch in die Lage, oft in ihr eigenes Heimatland oder das ihrer Eltern oder Großeltern zu reisen: von Spanien nach Marokko, von Großbritannien nach Pakistan, von Australien nach Vietnam.15 Genauso wichtig für unser Thema ist der intensive virtuelle Kontakt, den Migranten und Postmigranten mittels Satellitenfernsehen, Internet, E-Mail und Mobiltelefon mit den Menschen, der Kultur und der Politik ihrer zweiten Heimat haben. Es ist nur wenig übertrieben zu sagen, dass sie dank der physischen und virtuellen Reduktion der Entfernung in zwei Ländern zugleich leben.
Das digitale Zeitalter ist sowohl durch die Beschleunigung als auch durch die Konvergenz zweier früher getrennter Arten von Kommunikation gekennzeichnet: der Kommunikation zwischen zwei Personen und der zwischen einer Person und vielen Personen. Wichtige Fortschritte in der Kommunikation zwischen Individuen waren die Entwicklung der Post, der Telegraf, das Telefon, das Mobiltelefon, die E-Mail und das Smartphone. Durch das Smartphone bekommt man Zugang zum »mobilen Internet«, in dem die Kommunikation zwischen zwei Personen mit der zwischen einer Person und vielen Personen und der zwischen vielen Personen und vielen Personen konvergiert.
Die Kommunikation zwischen einer Person und vielen Personen hat eine...