Lampenfieber ist reduzierbar
Es ist wahr: Sie können Lampenfieber sogar in positive Energie umwandeln. Wäre das nicht der Fall, würden alle Menschen, die erfolgreich vor kleinem oder großem Publikum auftreten, vermutlich ihren Beruf wechseln.
Das Thema Redeangst oder Lampenfieber ist für jeden Menschen, der in der Öffentlichkeit auftritt, mehr oder weniger relevant. Deshalb behandle ich das Thema ausführlich und hoffe, dass es Ihnen wie mir und vielen anderen gelingt, Ihr Lampenfieber anzunehmen und es in positive Energie umzuwandeln. Es geht nicht darum, völlig ruhig, entspannt und gelassen vor das Publikum zu treten – das wäre nämlich für die Hörer ziemlich langweilig. Es geht viemehr darum, dass Sie den Hörern mit natürlichem Engagement Ihren Standpunkt oder Ihr Know-how vermitteln. Deshalb denke ich hier nicht an Auftritte, die zur Routine geworden sind, wie etwa Unterrichtssituationen. Doch fragt man erfahrene Lehrkräfte, können diese sich meist noch sehr gut an ihre ersten angstbehafteten Erfahrungen mit den zu Unterrichtenden erinnern. Auch Politiker, Schauspieler oder Menschen, die regelmäßig im Rundfunk oder Fernsehen auftreten, verspüren nach anfänglicher Anspannung und Nervosität diese weniger oder dann nur noch als positive Auftrittsspannung.
Befragt man jedoch Menschen, die nur selten vor kleinen oder größeren Gruppen auftreten, haben laut einer US-amerikanischen Studie 40 Prozent der Menschen Angst vor dem Reden in der Öffentlichkeit, jedoch nur 19 Prozent vor dem Sterben. Somit ist die Redeangst eine der meist verbreitesten Ängste. Doch da man sie vielen Menschen nicht anmerkt, Männern oft weniger als Frauen, denkt man immer, dass man nur selbst davon betroffen ist. So sind Frauen immer erstaunt, wenn sie in Rhetorikseminaren feststellen, dass viele Männer, genau wie sie selbst, ebenfalls Angst haben, vor einer größeren Gruppe zu reden. Männer können ihre Redeangst oft nur besser verstecken, indem sie mimisch und gestisch „erstarren“ und dadurch ruhig und sicher wirken. Jedoch mangelt es dafür dann häufig am Kontakt zum Publikum.
Die Redeangst bei Männern hat oft andere Ursachen als bei Frauen. So empfinden sich Männer häufig als Konkurrenten und wollen besser reden als andere Männer. Selbst Männer bemerken bei ihren Geschlechtsgenossen oft nicht die Redeangst und denken dann, dass nur sie selbst davon betroffen sind. Da viele Männer bekanntermaßen Probleme haben, Gefühle zu äußern, sind es in einer gemischten Gruppe in der Regel die Frauen, die das Thema „Lampenfieber“ zur Sprache bringen. Außerdem geben Männer nicht gern zu, Angst zu haben. Denn Lampenfieber ist nichts anderes als Angst bzw. eine negative Erwartungshaltung. Man fürchtet sich beispielsweise vor Folgendem:
sich zu blamieren
sich lächerlich zu machen
sich zu versprechen
vor einem Blackout
die Hälfte zu vergessen
den eigenen Erwartungen nicht zu genügen
die Karriere zu ruinieren
vor Fachleuten, die mehr wissen als man selbst
vor Ablehnung/Widerstand
zu wenig Stoff zu haben/zu früh fertig zu sein
Diese Ängste sind berechtigt. Denn all das kann wirklich passieren. Doch Leugnen oder Herunterspielen dieser Ängste beseitigt sie nicht. Besser ist es, sich ihnen zu stellen und sich zu überlegen, womit diese Angst überwunden werden kann.
Auch ich hatte bei meinen ersten Seminaren und Vorträgen ziemliches Lampenfieber. Meine größte Angst war, von den Zuhörern nicht ernst genommen zu werden, da ich damals selbst oft jünger war als meine Zuhörer. Deshalb hat es mich immer gefreut, wenn die Leute mich meist fünf Jahre älter schätzten. Das bedeutete für mich, dass sie mich als Autorität akzeptierten. Als ich meinen ersten Vortrag vor über 200 Leuten im Congress Centrum in Berlin hielt, fuhr ich sogar am Vortag dorthin, um mich mit dem Vortragsraum vertraut zu machen. Das war auch gut so, denn am nächsten Tag kam das frühzeitig bestellte Taxi nicht. Als ich dann erneut bei der Taxizentrale anrief, wurde mir zwar gesagt, dass es auf dem Weg zu mir sei, sich jedoch wegen einer Demonstration verspäten würde. Als ich ihnen dann meine Situation erklärte, schickten sie mir ein sofort verfügbares anderes Taxi. Schließlich war ich fünf Minuten vor Vortragsbeginn an Ort und Stelle und musste von hinten durch den ganzen Saal zu meinem Vortragsplatz laufen. Ich schwitzte „Blut und Wasser“. Ich wundere mich noch heute, dass ich trotzdem den mir zurecht gelegten Einstieg fand. Allerdings nahm ich keine Gesichter wahr, sondern nur helle Flecken und meine Notizen auf meinem Spickzettel hätte ich im Notfall nicht lesen können. Da ich jedoch den Eindruck hatte, dass mir die Hörer gebannt zuhörten, legte sich die Anspannung nach und nach. Schließlich nahm ich auch die Gesichter wahr und konnte mich auf das Publikum einstellen. Danach habe ich mich intensiv mit dem Thema Redeangst auseinandergesetzt und bin zu einigen Erkenntnissen ge- kommen, die ich Ihnen gern mitteilen möchte.
Was ist das Gegenteil von Angst? Das Gegenteil von Angst ist nicht Mut, sondern Zuversicht oder Selbstvertrauen, was mir bei meinem ersten großen Auftritt fehlte. Da Angst aber nur in der Vorstellung existiert, hat man Macht über sie. So lässt sich Zuversicht systematisch aufbauen. Diese Erfahrung haben Sie sicher auch schon gemacht, beispielsweise beim Rad fahren oder Schwimmen lernen. Vielleicht schlug Ihnen auch Ihr Herz bis zum Hals, als Sie das erste Mal am Steuer eines Autos saßen.
Genauso, wie Sie diese Ängste überwunden haben, können Sie auch die Redeangst überwinden und werden dann feststellen, dass das Reden genauso Spaß machen kann wie Schwimmen, Rad- oder Autofahren. Erwarten Sie deshalb nicht, dass Sie nach dem Lesen eines Buches oder selbst nach dem Besuch eines Rhetorikseminars Ihre Redeangst ganz losgeworden sind. Es ist ein Prozess, der Zeit, Übung und Redeerfolge braucht. Doch wenn Sie am Ball bleiben, werden Sie feststellen, dass die Redeangst auf ein erträgliches Maß absinkt, sich sogar in positive Auftrittsvorfreude umwandeln lässt.
BEISPIEL:Miriam, eine beliebte Lehrerin, traute sich in Lehrerkonferenzen nicht mehr, den Mund aufzumachen, nachdem bei ihrem ersten Beitrag vor einer solchen Versammlung über ihren Vorschlag gelacht wurde. Das fand sie so schrecklich, dass sie vor lauter Angst, dass ihr so etwas wieder passieren könnte, nie wieder etwas sagte – bis zu dem Besuch meines Rheto- rikseminars. Eigentlich wunderte sie sich selbst, dass sie im Unterricht die Probleme nicht hatte.
Was zeigt uns dieses Beispiel? In den meisten Fällen haben wir keine Angst vor dem Reden, sondern Angst vor den Menschen, vor denen man redet. Doch diese Angst lässt sich überwinden. Entscheidend ist, dass Sie Ihr Lam- penfieber, Ihre Aufregung beim Reden als natürliche Begleiterscheinung akzeptieren. Denn die Angst vor der Angst kann Sie in Panik versetzen. Setzen Sie aber das Lampenfieber richtig ein, verleiht es Ihnen zusätzliche Energie, die Sie beflügeln wird, Ihr ganzes Potenzial einzusetzen.
Die wichtigste Voraussetzung dafür ist, dass Sie von dem, was Sie anderen vermitteln wollen, überzeugt sind. Je stärker dieser Wunsch ist, desto besser gelingt es Ihnen, eine Brücke zu Ihren Hörern zu schlagen und diese zu begeistern. Wenn Sie das einmal erlebt haben, ist das Lampenfieber kein negativer Stress oder Distress, sondern „guter“ Stress oder Eustress, der Sie anspornt und in euphorische Stimmung versetzt. fn2
Wein, Bier oder Sekt in kleinen Mengen helfen leider tatsächlich ein wenig gegen Lampenfieber. Zum einen werden körperliche Verkrampfungen abgebaut, man fühlt sich lockerer und entspannter. Zum anderen enthemmt Alkohol und „löst die Zunge“. Man hat dann oft weniger Formulierungsschwierigkeiten. Dennoch rate ich davon ab, vor einer Rede Alkohol zu trin ken. Die Gefahr, sich an diese „Krücke“ zu gewöhnen, ist zu groß. Das belegt der große Anteil der redenden Berufe wie Lehrer oder Schauspieler unter den Alkoholabhängigen.
Der Genuss von Alkohol ist somit keine echte Hilfe, um die Aufregung und Nervosität zu reduzieren. Er löst das Problem Lampenfieber oder Redeangst nur scheinbar und nicht auf Dauer.
Ebenso warne ich Sie vor Beruhigungsmitteln aus der Apotheke. Diese Mittel wirken zwar entkrampfend, machen Sie aber je nach Sensibilität schrecklich müde. Sie mögen sich eventuell sicher fühlen, haben aber Mühe, engagiert zu wirken. Unter dem Einfluss solcher Medikamente – sie werden in Schauspielerkreisen auch „Wurstigkeitspillen“ genannt – ist es Ihnen letztlich egal, ob Sie die Anwesenden mit Ihrer Rede mitreißen, überzeugen oder auch nicht.
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