KAPITEL 2
ENTSCHEIDUNGSPROZESSE IN DER GELDANLAGE
Darum geht es in diesem Kapitel:
• Die Fehleranfälligkeit von Prognosen in sozialen Systemen
• Der Mensch als unberechenbarer Faktor an den Finanzmärkten
• Die enttäuschenden Leistungsausweise von Experten
• Trends, Momentum und relative Stärke
• Eine erste einfache Regel: Kaufe, was gut läuft
WESHALB SIND PROGNOSEN ZUR KURSENTWICKLUNG SO HÄUFIG FALSCH?
Wer Wertschriften kauft oder verkauft, stützt sich bei seinen Entscheidungen in der Regel auf Kursprognosen. Der Anleger vertraut dabei entweder auf seine eigenen Fähigkeiten, Kursentwicklungen vorherzusagen, oder er setzt auf die Analysen von Experten. Die Finanzanalyse ist in den letzten Jahrzehnten mit riesigem Aufwand laufend verfeinert worden mit dem Ziel, die Qualität der Prognosen zu verbessern. Banken, Fondshäuser und andere professionelle Finanzdienstleister investieren Hunderte von Millionen in die Entwicklung von immer besseren Tools und Methoden, beschäftigen Zehntausende von Analysten und sind in der Lage, Aufträge innert Millisekunden an den Börsen abzusetzen. Doch ihre Prognosequalität bleibt bescheiden. Die Kristallkugel zeigt auch heute höchstens ein verschwommenes Bild der Zukunft an den Finanzmärkten.
Ein Analyst befasst sich mit der Analyse der Finanz-märkte. Er beurteilt beispielsweise den Wert einer Aktie und gibt eine Handlungsempfehlung ab («kaufen», «verkaufen» oder «halten»).
Weshalb ist das so? Weshalb werden die Anleger immer wieder überrascht von Börsencrashs oder von Kursfeuerwerken? Weshalb gelingt es der Finanzbranche nicht, ihre Prognosequalität zu verbessern, obwohl ihr riesige finanzielle Mittel zur Verfügung stehen? In anderen Disziplinen machen Vorhersagen erkennbare Fortschritte. Die Meteorologie beispielsweise ist heute in der Lage, auf eine Woche hinaus recht präzise Prognosen zu machen. Vor zwanzig, dreissig Jahren waren Wettervorhersagen von solch hoher Qualität undenkbar.
Die Antwort auf diese Fragen ist einfach: Es ist der Mensch, der den komplexen Modellen der Wirtschaftswissenschafter immer wieder einen Streich spielt. Die Mehrheit der Ökonomen geht bis heute fälschlicherweise davon aus, dass der Mensch immer rationale Investitionsentscheide fällt und sich nicht von seinen Emotionen leiten lässt. Aufgrund dieser Fehlannahme versuchen Wirtschaftswissenschafter, die Kursentwicklung mit naturwissenschaftlichen Methoden vorherzusagen. In den Naturwissenschaften wie der Chemie und der klassischen Physik spielt der Mensch keine Rolle. Chemische und physikalische Prozesse laufen immer gleich ab, frei von menschlicher Einflussnahme. Das macht sie berechenbar und vorhersehbar. Die Wirtschaft und die Finanzmärkte lassen sich aber nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden erforschen. Im Unterschied zur Meteorologie und zu anderen Naturwissenschaften beeinflusst der Mensch mit seinem oft irrationalen Verhalten die Entwicklungen an den Finanzmärkten direkt. Seine unberechenbaren Entscheidungen wirken sich unmittelbar auf die Aktienkurse aus.
Die klassische Finanzmarkttheorie berücksichtigt diese Erkenntnis bis heute allerdings kaum. Sie betrachtet den Menschen nach wie vor als rein vernunftgetriebenes Wesen, als sogenannten Homo oeconomicus. Der Homo oeconomicus ist emotionslos. Er strebt in all seinen Entscheidungen stets eine Maximierung seines persönlichen Nutzens an und ist immer umfassend informiert. Sein Verhalten ist dank seiner rein rationalen Vorgehensweise absolut vorherseh- und erklärbar.
Die klassische Finanzmarkttheorie umfasst verschiedene theoretische Modelle wie die Effizienzmarkthypothese, die alle auf dem Menschenbild des Homo oeconomicus basieren.
Auf das Konzept des Homo oeconomicus stützt sich beispielsweise die Effizienzmarkthypothese des US-amerikanischen Wirtschaftswissenschafters und späteren Nobelpreisträgers Eugene Fama. Er formulierte seine Hypothese in den späten 1960er Jahren. Sie besagt, dass alle Marktteilnehmer – also Käufer und Verkäufer – vollständig rational und auf der Basis gleicher Informationen handeln und die Summe dieser Informationen jederzeit in den Kursen verarbeitet ist. Als Folge davon weicht der Preis einer Anlage, beispielsweise einer Aktie, nicht von ihrem inneren Wert ab. Im Verlaufe der Jahre meldeten zwar immer mehr namhafte Ökonomen Zweifel an der Theorie an, weil sie weder Spekulationsblasen noch Börsencrashs erklären kann. Doch Finanzinstitute greifen bis heute auf die Effizienzmarkthypothese zurück beim Versuch, die Preisbildung an den Finanzmärkten zu erklären und vorherzusagen. Auch andere Ansätze wie die moderne Portfoliotheorie und jüngere Modelle zur Bewertung von Anlagen gehen übereinstimmend davon aus, dass Investoren rational handeln. Die Experten sind sich mehrheitlich bewusst, dass diese Annahme nicht der Realität entspricht.
Der innere Wert einer Aktie entspricht ihrem «fairen» Preis. Notiert der effektive Aktienkurs über dem inneren Wert, spricht man von einem überbewerteten, andernfalls von einem unterbewerteten Titel.
Die moderne Portfoliotheorie von Harry Markowitz beschreibt, wie ein effizientes Portfolio diversifiziert werden muss. Als effizient wird ein Portfolio dann bezeichnet, wenn seine Rendite bei einem bestimmten Risiko maximal bzw. sein Risiko bei einer bestimmten Rendite minimal ist.
Doch der Mensch ist leider oder je nach Gesichtspunkt glücklicherweise kein Homo oeconomicus. Er ist ein emotionales Wesen, sprunghaft, oft schlecht informiert, launisch, je nach Situation und Temperament gierig oder panisch.
DAS IRRATIONALE VERHALTEN DER ANLEGER
Während die traditionelle Finanzmarkttheorie den Menschen als rationales Wesen beschreibt, erforscht die Behavioral Finance, wie er sich tatsächlich verhält. Dieser in den 1970er Jahren in den USA entstandene Fachbereich beschäftigt sich mit der Psychologie der Anleger. Im Zentrum der Forschung stehen ihre typischen Verhaltensweisen. Wie kommen Anlageentscheide tatsächlich zustande? Welche Verhaltensmuster lassen sich erkennen? Welche Fehler machen Anleger immer wieder?
Die Behavioral Finance zeichnet ein völlig anderes Bild des Anlegers als die Effizienzmarkthypothese. Sie postuliert einen Investor, der längst nicht alles weiss und der auch nicht immer rational handelt. Seine Entscheide führen nicht zu einer Maximierung seines Nutzens, sondern sind die Folge menschlicher Verhaltensweisen wie sie auch im Alltag zu erkennen sind.
Gemäss Behavioral Finance schwimmt der Anleger im Wechselbad der Gefühle. Der israelisch-US-amerikanische Psychologe und Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman hat festgestellt: «Menschen lassen sich von der unmittelbaren emotionalen Folge von Gewinnen und Verlusten leiten, nicht von den langfristigen Aussichten auf Reichtum.» Vor allem in Marktphasen, die durch Euphorie oder Panik geprägt sind, machen Anleger deshalb immer wieder die gleichen Fehler. In der Hoffnung auf Kursgewinne kaufen sie nach einem kräftigen Kursanstieg ohne Risikoabwägung und übergeordnete Strategie Wertschriften, um nach einem starken Abwärtstrend verzweifelt alles zu verkaufen. Im Extremfall kaufen sie so zu Höchstkursen und verkaufen zu Tiefstkursen (siehe Abbildung 2.1).
Abbildung 2.1: Der Anleger ist hin- und hergerissen zwischen Gier, Panik und Hoffnung. Er verkauft Wertschriften häufig bei tiefen und kauft bei hohen Kursen.
Ein anderes von der Behavioral Finance erforschtes und oft beobachtetes Phänomen ist der sogenannte Dispositionseffekt. Er beschreibt die Tendenz der Anleger, verlustreiche Investitionen zu lange zu halten und Anlagen nach Kursgewinnen zu früh zu verkaufen. Eigentlich wäre genau das Gegenteil richtig: Gewinne sollten laufen gelassen, Verluste begrenzt werden (siehe Abbildung 2.2).
Ein Beispiel: Ein Anleger hält zwei Aktien. Aktie A hat seit dem Kauf 10 Prozent an Wert gewonnen, Aktie B 10 Prozent verloren. Der Anleger benötigt Liquidität für eine Anschaffung. Er wird nun mit hoher Wahrscheinlichkeit die erfolgreiche Aktie A verkaufen. Ein Verkauf der verlustreichen Aktie B käme einem Eingeständnis des Scheiterns gleich. Der Verkauf der Aktie A hingegen gibt ihm ein gutes Gefühl. Er freut sich, einen Gewinn erzielt zu haben, und schützt sich mit dem Verkauf des Titels davor, den erzielten Gewinn wieder zu verlieren. Das zeigt, wie emotional der Umgang mit Gewinn und Verlust ist.
Abbildung 2.2: Das Profil links illustriert den Dispositionseffekt. Dabei werden die Gewinne begrenzt und die Verluste laufengelassen. Das Profil rechts illustriert das umgekehrte, sinnvollere Verhalten.
Nachgewiesen wurde der Dispositionseffekt unter anderem vom US-amerikanischen Wirtschaftswissenschafter Terrance Odean. Er beobachtete zwischen 1987 und 1993 die Transaktionen in 10’000 zufällig ausgewählten Depots eines grossen amerikanischen Brokers. Der Dispositionseffekt zeigt, dass der Mensch nicht rational mit entstandenen Kosten umgehen kann. Dabei ist die Begrenzung von Verlusten eine der wichtigsten Regeln bei der Geldanlage. Der erfolgreiche US-Grossinvestor Warren Buffet hat einmal gesagt: «Die erste Regel lautet, keine Verluste zu machen. Und die zweite Regel lautet, die erste nicht zu vergessen.»
Häufige Anlegerfehler: Erkennen Sie sich?
Die Behavioral Finance erforscht die typischen Verhaltensmuster der Anleger:...