Günter Figal
Zirkelformen des Wissens
Für A.M.E.S. – kreisförmig
Die früheste Beschreibung eines Wissenszirkels findet sich in Platons Menon. Es ist die von Sokrates vorgetragene Bestimmung des Suchens und Lernens als Erinnerung, ἀνάμνησις,1 in deren Konsequenz das Wissen als gelungene Erinnerung zu verstehen ist. Die sokratische Bestimmung widerspricht einer Behauptung, die Menon, der Gesprächspartner des Sokrates, vorher geltend gemacht hatte: dass man nicht suchen könne, was man nicht wisse und nicht suchen müsse, was man wisse.2 Wissen ist demnach entweder unmöglich oder immer schon vollendet, aber in keinem Fall zu erwerben. Wenn es anders sein soll, muss es ein Vorwissen geben; die Sache, die man zu erkennen versucht, muss soweit bekannt sein, dass man nach ihr fragen und sie erkunden oder erforschen kann. Geht man der Frage erfolgreich nach, so entwickelt sich das Vorwissen zum Wissen.
Die Begründung, die Sokrates im Menon für die Möglichkeit des Vorwissens und damit des Wissens gibt, ist mythisch; sie beruft sich auf die philosophisch durchaus fragwürdige Autorität von Priestern und Priesterinnen und von Dichtern wie Pindar,3 um dann, unter Voraussetzung der Unsterblichkeit der Seele, den Erwerb des Vorwissens in den Hades zu verlegen. Dort habe die Seele alle Dinge gesehen, so dass sie durch nichts, was sie nach ihrer Wiedergeburt erfahre, zu erstaunen sei.4 Das klingt nicht so, als hätte Menon, der ein wenig sophistisch gebildete Militär, es glauben können. Doch die Plausibilität der von Sokrates entwickelten Bestimmung des Lernens hängt nicht an ihrer mythischen Begründung. Diese zeigt vielmehr, dass hier nichts zu begründen ist; die Hadesgeschichte der Seele verweist eher auf ein Blanko, als dass sie es füllte: Es gibt Vorwissen, und woher es kommt, vermag niemand zu sagen, da es nicht wie das Wissen erworben werden kann. Das Vorwissen ist, wie sein Name sagt, immer schon da. Man muss sich auf es verlassen, wenn man etwas zu erkennen oder zu verstehen versucht und, mehr oder weniger leicht, die Möglichkeiten dazu findet. Solche Funde, die Entdeckungen also, dass man ein Vorwissen hatte, sind im Allgemeinen nicht zufällig; vielmehr setzt das, was man zu erkennen oder zu verstehen versucht, selbst die Erinnerung in Gang. Die Erinnerung wiederum führt, wenn sie gelingt, dazu, dass man erkennt oder versteht, was man erkennen oder verstehen wollte. So ist das Gegenteil des von Menon so geschätzten sophistischen Streitsatzes wahr: Man kann nur suchen, was man schon kennt; aber das, was man kennt, muss man suchen. Je komplexer etwas ist, desto klarer wird auch die Unabschließbarkeit dieses Vorgangs sein. Vorwissen und Wissen gehen im Kreis, derart, dass das Vorwissen zum Wissen führt und das Wissen ins Vorwissen zurückverweist. Und immer so weiter.
Die Vorstellung einer komplexen Sache führt zu einer weiteren Zirkelfigur, die als hermeneutischer Zirkel bekannt ist. Dieser besteht darin, dass etwas, zum Beispiel ein geschriebener Text, als das Ganze, das er ist, nur erkannt werden kann, indem man seine Teile erkennt, und dass umgekehrt ein angemessenes Verständnis der Teile ein Verständnis des Ganzen voraussetzt. So muss es sein, wenn sinnvoll von einem Ganzen und seinen Teilen die Rede sein soll. Teile sind immer die eines Ganzen, während ein Ganzes als das Eine, das es ist, immer aus Teilen besteht. Entsprechend kann die Lektüre, auch die Interpretation eines Textes, als ein Kreisgang zwischen dem Ganzen und seinen Teilen beschrieben werden.5 Folgt man Gadamers Beschreibung des hermeneutischen Zirkels, so wird das Ganze des Textes »entworfen« und dann, im Verstehen der Teile, eingelöst – niemals endgültig, sondern immer wieder neu, so dass jedes Verstehen der Teile einen neuen Entwurf des Ganzen freisetzt. Wer verstehen wolle, so liest man bei Gadamer, werfe »sich einen Sinn des Ganzen voraus, sobald ein erster Sinn« sich zeige, und dieser zeige sich wiederum nur, »weil man den Text schon mit gewissen Erwartungen auf einen bestimmten Sinn hin« lese.6
Was Gadamer, mit einem Begriff Heideggers, »Entwerfen« nennt, muss freilich mehr als eine bloße Erwartung sein; die Erwartung kann sich nur darauf beziehen, wie der im Lesen oder Interpretieren jeweils gegenwärtige Sinn sich zu einem Ganzen vervollständigen mag. Dass der Text ein Ganzes ist, muss demgegenüber außer Zweifel stehen. Wäre die Lektüre und Interpretation eines Textes nicht von der Gewissheit geleitet, dass dieser ein Ganzes ist, bestünde kein Anlass, seine einzelnen Momente im Zusammenhang zu verstehen oder ausdrücklich aufeinander zu beziehen. Umgekehrt ist das Ganze nicht anders erkundbar als im Zusammenhang seiner Teile. Da dieser Zusammenhang bei Texten, die interpretationsbedürftig sind, niemals endgültig feststeht – jeder Teil kann unbegrenzt auf jeden anderen oder eine Menge anderer bezogen werden –, ist die interpretierende Lektüre eines Textes unabschließbar. Sie kann, im Kreisgang zwischen dem Ganzen und seinen Teilen, immer weitergehen.
Das beschriebene Verhältnis von Ganzem und Teilen ist nicht exklusiv hermeneutisch. Es gilt nicht nur für das lesende und interpretierende Verstehen von Sinn, sondern auch für die Wahrnehmung und für das, was in der Wahrnehmung erscheint. Entsprechend könnte man analog zum hermeneutischen Zirkel von einem phänomenalen Zirkel sprechen. Ohne diesen als solchen kenntlich zu machen, hat Husserl ihn in seinen Wahrnehmungsanalysen beschrieben. Sieht man diese genauer an, so versteht man, dass der phänomenale Zirkel ebenso eine Variante des hermeneutischen ist, wie dieser als Variante des phänomenalen Zirkels beschrieben werden kann. Auch im Verstehen erscheint etwas; es erscheint nicht allein sinnlich, sondern in seinem Sinn.
Wie Husserl gezeigt hat, ist jede Wahrnehmung eines Dinges unvollständig; jede Wahrnehmung erfasst immer nur eine Seite des ihr entgegenstehenden Dinges, einen begrenzten Aspekt, so dass, mit Husserl gesagt, eine »äußere Wahrnehmung« undenkbar ist, »die ihr Wahrgenommenes in ihrem sinnendinglichen Gehalt erschöpfte«.7 Dennoch ist das Wahrgenommene als Ding immer auch ein Ganzes; anders bildeten die verschiedenen Wahrnehmungen keine Sequenz verschiedener Hinsichten auf ein Ding. Dieses eine Ding aber ist, wenn man Husserl folgt, immer nur als »Idee« gegeben.8 Diese Idee konkretisiert sich im »gegenständlichen Sinn« eines Dinges,9 der wiederum von »praktischen Interessen« im Umgang mit den Dingen geleitet wird.10 Das Ganze eines Dinges ist demnach hermeneutisch zugänglich; man versteht, anders gesagt, etwas als ein so und so bestimmtes Ding in seinem Sinn und dies wiederum nach Vorgabe der Interessen, die den Umgang mit den Dingen bestimmen.
Aber man kann dieses Verständnis eines Dinges nicht ohne Wahrnehmung einlösen. Es sind die unvollständigen Wahrnehmungen, in denen das verständliche Ding da ist, und insofern muss das in seinem »gegenständlichen Sinn« verstandene Ding als Ding immer auch für die Wahrnehmung gegenwärtig sein. Wie anders sollte es in der Wahrnehmung zu erkunden sein? Das Ding als Ganzes mag sich der aktuellen Wahrnehmung entziehen und immer nur von einer Seite da sein. Doch allein indem man weiß, dass etwas sich auch anders, von anderen Seiten, ansehen lässt, ist dieses Etwas als Ding da, ohne dass es notwendigerweise als ein so und so sinnvolles Ding verstanden wird; es kann sinnlos sein und trotzdem ein Ding. Die sukzessive Dingwahrnehmung und die Gewissheit eines ganzen Dinges, die sich mit dem jeweiligen gegenständlichen Sinn konkretisieren lässt, bedingen sich wechselseitig. Allein im Kreisgang beider ergibt sich ein Ding.
Die phänomenale Erfahrung lässt sich beschreiben; indem man das tut, verfährt man phänomenologisch; man bringt zur Sprache, was auch ohne Beschreibung da ist, aber erst in der Beschreibung so, wie es ist, zur Geltung kommt. In der Beschreibung ist es nicht nur da, sondern zeigt sich. Dieses Sichzeigen ist der eigentümliche Sinn der Beschreibung. Aber das Sichzeigende ist für die Beschreibung nicht ohne die Beschreibung da. Das phänomenologische Sichzeigen bedarf der Beschreibung, und entsprechend muss diese Beschreibung ein Zeigen sein. Die Phänomenologie ist demnach das Zeigen eines Sichzeigenden. Mit Heidegger gesagt, geht es ihr darum, dasjenige, »was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen« zu lassen.11 Auch das ist offensichtlich ein Zirkel. Nur im Zeigen zeigt etwas sich »von ihm selbst her«; umgekehrt ist das Zeigen nur wahrhaftes Zeigen, indem etwas sich von ihm selbst her zeigt. So weist das Sichzeigen auf das Zeigen zurück, und das Zeigen ist nur vom Sichzeigen her ein Zeigen.
Der phänomenologische Zirkel, wie er sich mit...