Es ist der 14. September 1930. Die Welt hat eine Wirtschaftskrise, die Weimarer Republik eine Reichstagswahl und Hasso Grabner noch immer keine Revolution erlebt. Stattdessen gibt es Arbeitslosigkeit, Stimmengewinne für die Nationalsozialisten und keine Aussicht auf Besserung. Es sind, wenn man so will, beschissene Zeiten, und selbst das Wundermedium Mirabelli weiß nicht mehr weiter: »Ein Stuhl bewegte sich so, daß die Vorderbeine gehoben wurden, schlug gegen den Fußboden und drehte sich alsdann um sich selbst.«
Hasso Grabner indes will sich nicht um sich selbst drehen, Hasso Grabner will etwas tun. Er, der in den vergangenen Jahren in so ziemlich jede linke Organisation eingetreten ist, der er (bzw. die seiner) habhaft werden konnte, hat, nachdem er bereits 1929 bei den Jungkommunisten Mitglied geworden ist, im August 1930 das Parteibuch der großen KPD angenommen. Weil es ihm aber nicht reicht, nur auf dem Papier Kommunist zu sein, lässt er sich nach Berlin auf die KPD-eigene Reichsparteischule schicken, wo man ihm die theoretische Basis der neuen politischen Heimat vermittelt. Insgesamt fünf Monate lang hört er sich in der hochherrschaftlichen Villa in der Kurzen Straße Nummer 11 lange Vorträge über dialektischen Materialismus, politische Ökonomie und kommunistische Taktik an. Als er im November 1930 schließlich wieder in Leipzig ist, regnet es – und im Norden der Stadt kehren die Dominikaner zurück.
Vielleicht ist es ein Traum, vielleicht aber auch nur eine Erinnerung, die an irgendeiner Stelle auf ihrem Weg durch den Kopf einen Kurzschluss erlitten, das heißt ihren Widerstand gegenüber den Fiktionen aufgegeben und ihren Realitätswert nahe null gesenkt hat – Hasso Grabner jedenfalls kommt es eines Nachts so vor, als lägen in Leipzig, in der Wiege der Sozialdemokratie, eintausend Jungkommunisten. Und er muss es wissen, schließlich ist er seit 1930 Unterbezirksleiter des Kommunistischen Jugendverbandes Deutschlands und als solcher in Leipzig mit der Organisationsarbeit des Parteinachwuchses betraut. Und doch reicht auch das ihm nicht aus, denn Hasso Grabner, der gelernte Buchhändler, der ebenso rast- wie offiziell arbeitslos ist, will die kommunistischen Ideen nicht nur verwalten, sondern aus der Parteizentrale hinaus in die Stadt tragen, in die Betriebe, die Wohnungen, die spirituell verdorbenen Köpfe.
Noch im selben Jahr gründet er deshalb auf dem Gelände einer der größten Baumwollspinnereien Europas eine Betriebszelle für Jungkommunisten, die bald schon zur wichtigsten Zelle der ganzen Stadt wird und – zumindest in den Augen ihrer gut drei Dutzend Mitglieder – Garn genug hat, um von der Weltrevolution zu träumen und sich eine eigene Version bisheriger und künftiger Geschichte zusammenzuspinnen.
Die Realität sieht freilich anders aus, und statt Massenerhebungen und Barrikaden gibt es Malnachmittage und Bastelarbeiten. Die Revolution will schließlich vorbereitet sein. Und so verbringen die Leipziger Jungkommunisten ihre Wochenenden mit dem Bemalen von Transparenten und dem Bekleben von Wänden mit bedrucktem Papier, organisieren Versammlungen, geben Zeitungen heraus und werben vor den Vergnügungsstätten der Stadt um Unterstützung für die kommunistische Sache.
Sonderlich attraktiv ist das nicht und gewinnbringend auch nicht gerade, und als dann doch einmal Zehntausende kommen, zu Ostern 1930 etwa, als der Kommunistische Jugendverband Deutschlands sein Reichsjugendtreffen in Leipzig abhält, der KJVD-Leiter Grabner im Hintergrund die Fäden zieht und der KPD-Vorsitzende Thälmann im Vordergrund spricht, da verdirbt die Polizei den Kommunisten die revolutionäre Sache.
Als es auf der Abschlusskundgebung zu einer Rangelei unter den 80.000 Demonstranten kommt, schießen zwei Polizisten in die Menge, töten einen Kundgebungsteilnehmer – und werden anschließend selbst gelyncht.
Was wie ein Extremfall aussieht, ist zu diesem Zeitpunkt in Leipzig wie in ganz Sachsen allerdings längst politische Normalität, und während die einen mit Druckerschwärze, Farbe und Papier an ihrer Version der Weltrevolution basteln, besorgen sich andere Schusswaffen und Messer und organisieren sich zu Kampfstaffeln, Wehrverbänden und Schutzbünden, deren Mitglieder allesamt Stöcke tragen, die nicht zum Wandern gedacht sind.
Neben den Stöcken gibt es noch Hemden, Sturmriemen, Ledergamaschen, Schirmmützen und Stiefel, denn das ist der Deal: Jede Garde hat ihre eigene Garderobe, und die Dialektik der passenden Ehrerbietung gibt’s wie immer gratis dazu: Erst ziehen die Uniformen die jungen Männer an und dann die jungen Männer die Uniformen.
Und dann? Dann fehlen nur noch die passenden Namen. Und so kämpfen am Ende der Weimarer Republik auf kommunistischer Seite neben KJVD-Leuten irgendwann auch Sturmfalken und Antifaschistische Junge Garde, gibt es paramilitärische Rote Wehrstaffeln, Rote Jungstürmer und Rote Frontkämpferbündler, nicht zu vergessen die Rote Jungfront, die wie eine Mischung aus Roten Jungstürmern und Roten Frontkämpferbündlern klingt, tatsächlich aber einen ganz eigenen Rot-Ton besitzt, ebenso wie die proletarischen Hundertschaften und die zahlreichen lokalen Truppen, die sich nach ihrem jeweiligen Anführer benennen.
Bei der SPD dagegen ist man namenstechnisch traditioneller gesinnt, gibt es neben der Sozialistischen Arbeiter-Jugend das straff organisierte Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, das seinerseits wiederum von Kampfstaffeln flankiert wird, die nicht nur über Telefone, sondern über komplette Fernmeldeeinheiten verfügen, die ein eigenes Blinksystem etablieren, das seine Zeichen quer durch ganz Leipzig und bei Bedarf bis zu vierzig Kilometer über die Stadt hinaus sendet und es seinen motorisierten Mitgliedern erlaubt, sofort einzugreifen, wenn nationalsozialistische Truppen wie Stahlhelm, Frontbann oder Jungdeutscher Orden zusammen mit SA und SS anzugreifen versuchen.
Im Grunde genommen kämpft am Ende der Weimarer Republik jeder gegen jeden, und einzig die Gewalt scheint in der Lage, Fakten zu schaffen.
Kommunisten bekämpfen Sozialdemokraten, Sozialdemokraten bekämpfen Nationalsozialisten, Nationalsozialisten bekämpfen Kommunisten und dann wieder zurück und noch mal von vorn. Aber damit noch längst nicht genug. Es kommt auch vor, dass Kommunisten zusammen mit Nationalsozialisten SPD-Veranstaltungen sprengen, sich Sozialdemokraten mit kommunistischen Kampfverbänden gegen die Nazis zusammenschließen und Sozialdemokraten bei besonderen Gelegenheiten mit den Nazis gegen KPD’ler vorgehen, die ihrerseits wiederum nicht müde werden, Abtrünnige aus den eigenen Reihen zu attackieren. Überhaupt folgen, vor allem bei den Kommunisten, die Wehrorganisationen nur sehr bedingt den Anordnungen der Partei, weshalb es nicht verwundert, dass die KP-Führung in Ostsachsen irgendwann erklärt, die aggressiven Jungspunde vom Rotfrontkämpferbund seien nichts als »syndikalistische Halbnarren mit kommunistischen Mitgliedsbüchern in der Tasche«.
Und in Leipzig? Da gibt es schon bald den nächsten Toten, wird am 15. August 1931 der Ortsvorsitzende der Sozialistischen Arbeiter-Jugend während des Flugblattverteilens von einem Jungkommunisten erstochen. Die Chance auf eine Einheitsfront zwischen SPD und KPD ist damit endgültig dahin. In der Wiege der Sozialdemokratie liegt ein totes, neunzehnjähriges Kind.
Hasso Grabner hält sich derweil aus den schlimmsten Schlachten heraus. Der bevorzugte Ort seiner Auseinandersetzungen ist die Stadtbibliothek, nicht die Straße. Grabner liest Nietzsche, Maeterlinck, Luxemburg. Thälmann liest er nicht.
Als die sächsische KPD schließlich 1932 ihren Sitz von Dresden nach Leipzig verlegt, wird Hasso Grabner in den engsten Führungszirkel berufen und im Bereich der Jugendarbeit mit dem Ressort »Gegner« betraut. Er, der einstige Sozialdemokrat, ist fortan dafür verantwortlich, die innerhalb der SPD »links« stehenden Gruppen zum Abfall zu bewegen, um sie »rechts« an die KPD anzuschließen. Argumente für den Übertritt liefert eine Zeitschrift, die sich Sozialismus ist das Ziel nennt und sektiererisch genug ist, um zwischen den beiden Ufern eine Brücke zu schlagen. Die Texte dazu schreibt Grabner selbst, derweil seine Freundin die Vervielfältigung übernimmt.
Und siehe da: Die Sache funktioniert, und schon bald kehren die ersten aus der Sozialistischen Arbeiter-Jugend der alten SPD den Rücken und wenden sich den Jungkommunisten und ihrer großen Partei zu. Damit ist der Anfang gemacht, und in den folgenden Monaten steigt die Zahl derer, die in Leipzig die Fronten wechseln, permanent an. In manchen Stadtteilen ist der abgespaltene Teil schließlich so groß, dass dem Rest mangels Masse nur noch die Selbstauflösung bleibt. Gegen die Überzeugungskraft von Konvertiten, das weiß man aus der Kulturgeschichte der politischen Botanik, ist einfach kein Kraut gewachsen.
In der KPD selbst glaubt man derweil, dass die bürgerliche Welt schon lange nicht mehr wächst, sondern verfällt und anfängt zu stinken. Die Weimarer Republik jedenfalls steckt nach Ansicht der Kommunisten anno 1932 in einer tiefen innenpolitischen Krise, der Zusammenbruch des kapitalistisch-imperialistischen Systems steht unmittelbar bevor und die geschichtliche Entwicklung kann nun gar nicht mehr anders, als geradewegs auf die Diktatur des Proletariats zuzulaufen.
Allein, die Geschichte ignoriert das ihr von den Kommunisten verordnete Gesetz, biegt, getrieben von Millionen, am 30. Januar 1933 rechts ab und errichtet ihre eigene Diktatur.
In Leipzig wissen Hasso Grabner und die Seinen sofort, was ihnen die Stunde geschlagen hat, und nachdem am Abend des 30. Januar noch Tausende in der...