Weltsicht und Selbstverständnis
Ein Versuch, Argentinien zu verstehen
Argentinien – ein Außenseiter in Südamerika. Es nimmt praktisch den gesamten Südteil des Kontinents ein und ist nach Brasilien das größte Land – immerhin mit einer räumlichen Ausdehnung, die in etwa derjenigen Indiens entspricht. Es reicht von den Anden im Norden über die fruchtbare Pampa bis hinunter zur Eiswelt Feuerlands im fernen Süden. Aber es sind weniger seine landschaftlichen Extreme als seine Bewohner, die Argentinien zu einem ganz besonderen Land machen.
Wer, aus welchen Gründen auch immer, nach Argentinien kommt, der wird sich nicht ausgeschlossen fühlen. Dieses Land ist eines der Zuwanderer und Immigranten, was zu einer ungewöhnlichen Verbindung aus vielfacher europäischer Herkunft und lateinamerikanischem Temperament geführt hat. Jeder dieser Zuwanderer hat ein kleines Stückchen seiner traditionellen Kultur mitgebracht, beispielsweise ein Stück italienischer Pizza oder das englische, aristokratische Polo. Und daraus ist eine einmalige Mischung entstanden – kein Eintopf, sondern ein Gericht, in dem noch alle Zutaten zu unterscheiden sind. Selbst im Lunfardo, der Gaunersprache der Vorstadt und der Unterwelt von Buenos Aires, selbst im erotischen Wiegen des Tangos und selbst im unnachahmlichen Genuss eines Steaks vom Grill – all dies ist deutlich mit einer Prise Europa vermengt.
Spätestens wenn man ins Taxi fällt, das zum Hotel fährt und bald darauf im Stau steckt, wenn der Fahrer wild gestikulierend und ungeduldig in einem seltsamen Kauderwelsch flucht, wenn man in einem der schwankenden Fahrstühle mit den rostigen Spiegeln und messingbeschlagenen Gittern hochfährt, wenn man die schwere, feuchte Luft des Río de la Plata atmet – spätestens dann wird man von Argentinien vereinnahmt. Und natürlich wird der Taxifahrer schon gefragt haben, wie einem dieses Land gefällt, das man gerade erst vor ein paar Minuten betreten hat.
Und er wird zu verstehen geben, dass in Argentinien die schönsten Frauen leben, die besten Steaks brutzeln, die besten Fußballer spielen und dass es überhaupt kein besseren Platz auf der Erde gäbe, wenn nicht die Politiker alle Diebe wären. Also stimmt es doch, dass die Argentinier in einem solchen Maße von sich überzeugt sind, dass sie als arrogant gelten. Zum Stolzsein haben die Argentinier aber auch Grund genug, nicht nur wegen der generösen Natur, die ihnen nach dem Himalaja die höchsten Berge geschenkt hat. Auch kulturell kann sich das Land mit Höchstleistungen schmücken, vom Tango ganz abgesehen, der bekanntlich „ein trauriger Gedanke ist, den man tanzt”. Argentinier sind weder bescheiden noch leise. Ein permanenter Lärmpegel liegt über den großen Städten. Die bemitleidenswerten Motoren werden auf höchste Drehzahlen getrieben. Man lässt die Bremsen kreischen, den Fernseher mit der Fußballspielübertragung für das ganze Viertel spielen, vor allem aber die Nachbarn im Restaurant an der lauten Unterhaltung teilhaben. Jeder spricht zugleich, und das immer lauter, ja man schreit sich geradezu an. Geschnatter, Geklapper, Gewisper – keine andere Nation scheint so mitteilungsbedürftig zu sein, geradezu leidenschaftlich dem Klatsch, dem Tratsch, der Lästerei zu frönen wie die Argentinier – was übrigens insbesondere auf die Herren der Schöpfung zutrifft.
Extrainfo 1 (s. S. 9): Video des Hessischen Rundfunks „Traumtouren in Argentinien” mit touristischen Höhepunkten und praktischen Tipps für eine Reise durch Argentinien – zur Einstimmung
In Argentinien will man nicht nur plappern und gehört werden, sondern vor allem auch sehen und gesehen werden. Ausgehen und flanieren, als ginge es über einen Laufsteg, eine gute Figur machen, was hergeben, sich darstellen – das ist das Lebenselixier eines jeden Argentiniers. The show must go on. Argentinier sind keine Mauerblümchen, ganz im Gegenteil. Und: Dem Glücklichen schlägt keine Stunde. Wenn in anderen Teilen der Welt die braven Bürger längst im Tiefschlaf schlummern, machen sich die Argentinier zum Ausgehen fein. Die wichtigsten gesellschaftlichen Verabredungen beginnen eigentlich alle erst nach Mitternacht. Und nachts um Drei sind die Avenidas der Innenstädte stärker bevölkert als nachmittags zur Siesta. Mit Sicherheit schlafen Argentinier weniger als alle anderen Weltbürger. Man sieht es ihnen an den aschfahlen Gesichtern und den Augenringen an. Nach einer Analyse der „Lateinamerikanischen Gesellschaft für Schlafforschung” aus dem Jahr 2003 leiden siebzig Prozent der porteños (die Bewohner von Buenos Aires) unter Schlafstörungen und an zu wenig nächtlicher Ruhe.
Im „Paris Südamerikas”, in Buenos Aires also, leben der Geldadel und die Bohème trotz aller Pleiten weiter, als wenn die argentinische Belle Époque nicht längst geendet hätte. Trotz der Dauerkrise – die porteños, die etwas auf sich halten, eilen von einem Treffen zum anderen, so als ob es darum ginge, jeden Tag in die Sozialspalte der Regenbogenpresse zu kommen. Außerhalb des Molochs am Río de la Plata, auf dem Lande, geht es weit ruhiger zu, zuweilen gar totenstill. Aber vielleicht ist das platte Land da draußen ja gar nicht wirklich Argentinien …?
Wie auch immer, der Reisende findet in Argentinien ein relativ sicheres und wohl organisiertes Land vor. Vor Speiseeis und Feldsalat braucht sich kein Mensch zu fürchten, das Leitungswasser ist trinkbar, wenn auch stark gechlort. Und jedermann flaniert durch die Straßen, selbst tief in der Nacht, weil er sich nicht vor Übergriffen fürchten muss. Die Gewaltkriminalitätsrate in Buenos Aires und den anderen großen Städten liegt nicht weit höher als in Europa. Doch die tiefer liegenden Schichten Argentiniens, die Tragik und Tristesse ebenso wie auch die Stärken dieses Landes erschließen sich dem Besucher erst mit der Zeit.
Ein Land auf der Couch
Es gibt arme und reiche Länder und es gibt Argentinien. Vor einem Jahrhundert lebte das „Silberland” in Saus und Braus – dieser Tage ist es arm wie eine Kirchenmaus. Keine andere Nation hat in einem Jahrhundert so gründlich ihren Reichtum ruiniert. Und das aus freien Stücken und (fast) ohne Krieg. Jedes Kind kennt das Märchen vom Hans im Glück. Wie der Märchen-Hans mit seinem Goldklumpen heimzieht und am Ende mit leeren Taschen ankommt: Das ist auch die Story Argentiniens.
„Reich wie ein Argentinier”, das war um 1900 eine gängige Redewendung. Durch Buenos Aires ratterte die Metro, knapp nachdem man sie in London und Paris gebaut hatte. Der Peso wurde mit Gold aufgewogen. „In Argentinien spuckt man auf den Boden, und schon wächst eine Blume”. Jeder konnte reich werden, wenn er nur wollte, hieß es.
Das Geld hatte Millionen Hungerleider aus Südeuropa an den Río de la Plata getrieben, nicht etwa die Verheißung von Freiheit. Ihre Muskelkraft war gefragt, doch ihre Seele war zu Hause in Sizilien, Andalusien und im Baskenland geblieben. Auf drei Männer in Buenos Aires kamen damals nach der Statistik zwei Gastarbeiter mit Fremdenpass. Sie verschwendeten keine Gedanken über die Nation, die Verfassung, die Flagge. Gesetze, Vorschriften, Papiere – lästiges Zeug, die Obrigkeit hielt man sich besser vom Leibe. „Die Mexikaner kommen von den Azteken, die Peruaner von den Inkas – die Argentinier von den Schiffen”, scherzt bissig der mexikanische Autor Octavio Paz.
Ein Staatsvolk waren die Argentinier also (noch) nicht. „Regieren bedeutet besiedeln” urteilte der Staatsrechtler Juan Bautista Alberdí. Das Land war ja leer, wenngleich voller goldener Kälber. Mit Fleisch, Leder und Korn wurden über Nacht Vermögen gemacht – und ausgegeben. Die Fortabads und Thornquists, die Bullrichs und die Bunges legten ihr Kapital in prächtige Villen, ein paar Fabriken, in Abgeordnete und Richter und auch in edle Pferde an. Hans im Glück hatte seinen Goldklumpen als Belohnung für seine treue Dienerschaft erhalten. Statt seinen Schatz gegen gute Zinsen zu verleihen, sein Pferd vor den Pflug zu spannen, seine Kuh zu melken oder sein Schwein zu verwursten und damit Geld zu machen, tauscht er alles ein. Den Mühlstein zuletzt nimmt er nicht zum Mahlen. Er ist ihm zu schwer, er schmeißt ihn weg. Hans im Glück hat sein Kapital in Windeseile vernichtet.
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Galeria Pacifico: Der Prunk des einstigen Reichtums ist überall zu sehen
Genauso machten es viele reiche Argentinier: Sie legten das Geld im Ausland auf die Bank oder unter ihre Matratze, wenn sie es nicht für Statussymbole und Luxus ausgaben. Geld im Schweiße des Angesichts zu verdienen, das...