Ein Abbild der inneren Welt
Die folgende Illustration zeigt eine buddhistische Sichtweise der Natur des Bewusstseins, wie sie von Thich Nhat Hanh vertreten wird. Dieses Modell lässt sich sehr gut mit der Sichtweise des inneren Systems verbinden, die der Arbeit mit Persönlichkeitsteilen zugrundeliegt.
Der bekannte vietnamesische Zen-Meister verwendet einen Kreis, um zwei wichtige Ebenen des Bewusstseins darzustellen. Die untere Hälfte des Kreises repräsentiert das sogenannte Speicherbewusstsein. Es enthält alle potenziellen Gemütszustände, zu denen wir als Menschen fähig sind, in Form von Anlagen oder »Samen«. Einige dieser Bewusstseinszustände scheinen sich in unserem Leben ständig zu wiederholen. Diese regelmäßig auftretenden Gemütszustände sind das, was wir Teile nennen.
Solange die unterschiedlichen Persönlichkeitsteile nicht unser »geistiges Wohnzimmer«einnehmen, ruhen sie im Speicherbewusstsein
Die obere Hälfte des Kreises repräsentiert unser Alltagsbewusstsein, was Thich Nhat Hanh auch als »Wohnzimmer unseres Bewusstseins« bezeichnet. Tritt nun einer unserer Gemütszustände oder Teile in den Vordergrund und übernimmt dabei die Führung über unsere Gedanken, Gefühle und unser Verhalten, könnte man sagen, »er ist im Wohnzimmer«.
Die buddhistische Psychologie weist darauf hin, dass ein bestimmter Gemütszustand dann auftaucht, wenn dies durch innere oder äußere Bedingungen unterstützt wird. Wenn diese unterstützenden Bedingungen wegfallen, kehrt der betreffende Gemütszustand wieder in das Speicherbewusstsein zurück.
Im Speicherbewusstsein befinden sich alle unsere Persönlichkeitsteile in Form von Anlagen, auch jene potenziellen Teile, die noch nicht zum Vorschein gekommen sind. Einige Teile befinden sich zeitweise sozusagen im Vorratsspeicher und warten dort auf die passende Zeit und Situation, um in unser geistiges Wohnzimmer zu treten.
Diese Anlagen tragen Gewohnheitsmuster aus unserer genetischen, kulturellen und persönlichen Geschichte in sich. Aus der Sicht von C.G. Jung haben sie ihre archetypische Grundlage in vergangenen kollektiven Erlebnissen. Es gibt Hunderte von Anlagen, die sich – die richtigen Bedingungen vorausgesetzt – entwickeln könnten. Die meisten von uns haben jedoch eine bevorzugte Rollenbesetzung von bis zu einem Dutzend oder mehr Charakteren, wobei eine Handvoll davon die Hauptrollen in unserem System spielen.
Ist Ihr interessierter Teil aktiv, während Sie dieses Buch lesen?
Vielleicht haben Sie Lust, diese Sichtweise einmal auf Ihr eigenes System anzuwenden – das ist oft ein guter Weg, um zu verstehen, wie innere Teile operieren. In diesem Augenblick wird es vermutlich eine Reihe von Teilen in Ihrem Inneren geben, die auf dieses Buch reagieren. Es kann sein, dass ein interessierter Teil von Ihnen aktiviert ist, ein Teil, der gerne verstehen und Neues lernen will.
Wenn Sie andererseits an dem zweifeln, was Sie hier lesen, dann hat dieses Buch womöglich Ihren inneren Skeptiker oder Kritiker aktiviert.
Ruft der Text eher Ihren inneren Kritiker auf den Plan?
Es ist auch durchaus möglich, dass diese beiden Teile gleichzeitig in Ihrem Bewusstsein existieren und Sie im Moment interessiert, aber auch skeptisch sind.
Je nachdem, welcher Ihrer Teile im Vordergrund steht, in Ihrem geistigen Wohnzimmer sozusagen, werden Sie die Welt sehr unterschiedlich erleben. Jeder unserer Teile filtert unsere Wahrnehmungen auf seine eigene Weise. Jeder hat eine besondere Art, die Welt zu sehen. Wie Sie also das betrachten, was Ihnen begegnet, ist sehr unterschiedlich, je nachdem, welcher Ihrer Teile sich im Wohnzimmer befindet.
Zwei Persönlichkeitsteile, die unterschiedliche Sichtweisen vertreten, können auch gemeinsam aktiviert werden
Ein einfacher, aber wichtiger Aspekt des buddhistischen Modells lautet wie schon erwähnt, dass unter bestimmten inneren oder äußeren Bedingungen ein ganz bestimmter Gemütszustand oder innerer Anteil in unserem geistigen Wohnzimmer – unserem Alltagsbewusstsein – auftaucht, und wenn diese Bedingungen sich ändern, wird dieser Teil in das Speicherbewusstsein zurückkehren. Daher kommt es, dass wir zu unterschiedlichen Zeiten eine so ganz andere Person zu sein scheinen. In unserem geistigen Wohnzimmer herrscht eine recht rege Aktivität: Verschiedene Teile von uns kommen und gehen, sie interagieren miteinander und mit der äußeren Welt, um uns bei der Bewältigung unserer alltäglichen Aufgaben zu unterstützen. Einige dieser Teile bleiben länger als andere, und einige verlassen das Wohnzimmer nicht, auch wenn es Zeit für sie wäre, wieder zu gehen: Das sind jene Gedanken, die Ihnen ständig im Kopf herumgehen, oder jene Gefühle, die Sie nicht abschütteln können, selbst wenn Sie sie verzweifelt loswerden wollen. Eines der Ziele dieses Buches ist es, mehr Aufmerksamkeit und Bewusstheit für unsere verschiedenen Teile zu schaffen, sodass wir in unserem inneren System mehr Harmonie und Ausgewogenheit herstellen können.
Beispiel für einen Tanz der Teile
Wenn ich an der Universität eine Vorlesung halte, hoffe ich immer, dass die Studenten mit jenen Teilen da sind, die Interesse am Lernen haben. In Abendvorlesungen bemerke ich jedoch bei denjenigen Studenten, die Eltern sind und vielleicht auch ganztags arbeiten, dass sie nicht selten große Mühe haben, mit ihren interessierten und lernwilligen Teilen anwesend zu sein. So sitzt z.B. eine Studentin zwar in der Vorlesung, aber sichtbar ist vor allem ein völlig »ausgelaugter« Teil, der offensichtlich ihr geistiges Wohnzimmer in Beschlag genommen hat. Jeder Teil hat eine Aufgabe in unserem System. Der »ausgelaugte« Teil, wie ich ihn nenne, signalisiert Überlastung und Erschöpfung und lässt die Person wissen, dass es Zeit ist, sich auszuruhen.
Erschöpfte Persönlichkeitsteile signalisieren, dass wir Ruhe und Erholung brauchen
Es ist jedoch häufig der Fall, dass wir die Botschaften eines unserer Teile nicht beachten, weil andere Teile uns vorwärtsdrängen. Vielleicht waren bei der Studentin die ganze Nacht lang fürsorgliche Teile aktiv, weil jemand in der Familie krank war. Der Teil, der für Erholung sorgen möchte, wurde dabei von Teilen, die sich Sorgen machen und die gewöhnt sind, sich um andere zu kümmern, zur Seite gedrängt. Am nächsten Morgen war dann ihre Multitaskerin in Aktion, um den Haushalt zu erledigen, bevor sie zur Arbeit aufbrach.
Abends ist die Studentin erschöpft, ihr erschlagener Teil hat sich im Wohnzimmer breitgemacht und empfiehlt ihr, endlich anzuhalten und zur Ruhe zu kommen. Ihr innerer To-do-Manager schleppt ihren Körper jedoch trotzdem zur Vorlesung. Die Folge davon ist, dass ihr körperlicher Zustand keinen Raum mehr für den interessierten und lernwilligen Teil lässt.
Unser Bedürfnis nach Ruhe wird oft von anderen inneren Anteilen verdrängt, die auf Aktivität pochen, zum Beispiel von der »Multitaskerin«, der »inneren Sorgenmacherin«, der »guten Mutter« oder der »Bestimmerin«
Erinnern wir uns noch einmal an das Prinzip, dass ein Persönlichkeitsteil dann in unser Alltagsbewusstsein aufsteigt, wenn die Bedingungen dies unterstützen; wenn die unterstützenden Bedingungen wegfallen, wird der Teil wieder in den »Vorratsspeicher« zurückkehren. Im Falle der Studentin in meiner Vorlesung versucht ihr Manager-Teil ihren physischen Zustand zu ändern, indem er ihr einen doppelten Espresso verabreicht. Mit genügend Koffein und wenn mein Vortrag interessant genug ist, um die richtigen Bedingungen zu schaffen, kann der interessierte und lernwillige Teil in das Wohnzimmer zurückkommen, begleitet von einer Strafpredigt des Teils, der als ihr innerer Antreiber auftritt.
Innere Antreiber wollen uns dazu bringen, äußeren oder auch inneren Erwartungen zu entsprechen
Kaffee zu trinken ist eine der Methoden, mit denen wir absichtlich die »Bedingungen« in unserem Körper zu ändern versuchen, damit es bestimmten Teilen eher möglich wird, in unserem Wohnzimmer zu erscheinen. Der Körper ist ein Grundelement dieser »Bedingungen«. Wenn wir müde oder krank sind, können verdrießliche oder traurige Gemütszustände viel leichter die Führung in unserem Bewusstsein übernehmen, und es fällt dann viel schwerer, unseren lernwilligen Teil in unser Wohnzimmer zu bringen. Psychologische, soziale oder andere äußere Faktoren sind weitere Umstände, die bestimmte Teile in uns triggern oder aktivieren.
Innere Anteile als psychologische Software
Unsere verschiedenen Teile gleichen einer äußerst ausgefeilten psychologischen Software. Sie wurde dazu entwickelt, uns in den Gemütszustand zu bringen, der uns am besten bei der Bewältigung anstehender Lebensaufgaben hilft. So wie der Computer vielleicht ein Buchhaltungsprogramm hat, mit dem wir unsere Finanzen im Blick behalten, haben wir selbst einen analytischen Teil in uns, der uns logische Informationen über die aktuelle Situation liefert. Wir klicken also in unserem Computer auf das Zeichen für »Finanzmanager«, wenn wir unser Budget ausgleichen wollen, und auf die gleiche Weise können wir unseren inneren Finanzmanager-Teil aktivieren, wenn wir Rechnungen bezahlen müssen. Für manche Menschen ist es leichter, in sich den Zugang zu diesem »Finanzmanager-Programm« zu finden als für andere: Einige wissen vielleicht nicht einmal, dass dieses Programm auf ihrem Computer installiert ist! Bei manchen Menschen...