1.1 Postmoderne – Pluralisierung und Individualisierung, Globalisierung und Digitalisierung
Religiöses Lernen findet in konkreten gesellschaftlichen Kontexten statt. Die Bedingungen der jeweiligen Gesellschaft haben auch Auswirkungen auf die Ziele und Gestaltungsmöglichkeiten religiöser Lernprozesse. Die Gesellschaftssituation in Westeuropa wird mit den Stichworten »Spätmoderne« bzw. »Postmoderne« gekennzeichnet. Im Folgenden wird geklärt, welche Rolle Religion in einer Gesellschaft hat, die vor allem durch die Prozesse der Pluralisierung, Individualisierung und Globalisierung gekennzeichnet ist.
1.1.1 Die Gleichzeitigkeit von Moderne und Postmoderne, Globalisierung und Digitalisierung
Geht die Religion in unserer Gesellschaft ihrem Ende zu oder erfährt sie eine Renaissance? Diese Frage kann man nicht klären, ohne sich über den gesellschaftlichen Kontext, innerhalb dessen die Frage verhandelt wird, zu verständigen und sich über den verwendeten Religionsbegriff Gedanken zu machen.
Lange Zeit dominierte auf dem Gebiet der Religionssoziologie die sogenannte Säkularisierungsthese: die Auffassung, dass Religion gesellschaftlich im Schwinden begriffen ist und an Bedeutung verliert, letztlich überflüssig werden wird. Die Säkularisierungsthese speist ihre Begründungskraft aus dem Gesellschaftskonstrukt der Moderne, das von Wissenschaftsgläubigkeit, Fortschrittsdenken und dem Glauben an die Stärke des Subjekts geprägt ist. Auf den Nenner gebracht: Die Welt erscheint als beherrschbar, Religion als unnötig. Wir befinden uns heute in einer Übergangsphase von der Moderne in die Postmoderne oder Spätmoderne – letztlich Such- oder Passepartout-Begriffe, um die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse auf den Punkt zu bringen. Es zeigen sich vielfache Prozesse der Verunsicherung: eine Skepsis gegenüber dem Machbarkeitsmythos, das Zerbrechen globaler Ideologien, der Zweifel an der Leistungsfähigkeit des selbstverantwortlichen Subjekts, um nur die zentralen Phänomene zu benennen. Dennoch kann man nicht einfach sagen, das Paradigma der Postmoderne habe die Moderne abgelöst. Vielmehr überlappen sich beide und sind gleichzeitig wirksam (vgl. Mendl 2004a, 16–29). Das verwirrt und nötigt zu Differenzierungen:
Wissenschaft | neuzeitliche Entwicklung der Naturwissenschaften; Wissenschaftsgläubigkeit; Zweckrationalität; wertfreie Wissenschaft | Skepsis gegenüber dem Machbarkeits-Mythos; Entzauberung wissenschaftlich globaler Deutungsmuster; diffuse Wertbehaftetheit jedes wissenschaftlichen Forschens |
Politik | Sicherheitspolitik: feststehende Blöcke; globale Ideologien; politische Utopien | Krisensymptome: Energiekrise; Tschernobyl; Diffundierung aller Sicherheiten; konkrete Utopien |
Wirtschaft | Industriegesellschaft; regionale Märkte | Dienstleistungsgesellschaft; Digitalisierung; Globaisierung |
Menschenbild | Glaube an das autonome und selbstidentische Subjekt in der Gemeinschaft von Subjekten | Zweifel am selbstverantwortlichen Subjekt; Individualisierung; Patchwork-Identität |
Gesellschaft | Emanzipationsgedanke als Kitt gesellschaftlicher Unterschiede; Pluralität als Chance; Gruppenmilieus; Kleinfamilie | Individualisierung und Pluralisierung von Werten und Lebensformen; Enttraditionalisierung; Auflösung der Gruppenmilieus |
Kultur | kultureller Pluralismus; Massenmedien: Angebot für alle | Mediengesellschaft; Erlebnisgesellschaft; Ästhetisierung des Alltags; mediale Differenzierung und Pluralisierung |
Religion | Wissenschaft vs. Glaube; Zweckrationalität; Entmythologisierung | Irrationalität; mannigfaltige »Ganzheitskonzepte«; Wiedererwachen des Mythos |
Gesamtdynamik | Sicherheit Allmachtsgefühl Beständigkeit | Unsicherheit Grenzerfahrung Beschleunigung |
Gleichzeitig verbunden mit und in Spannung zur Moderne und Postmoderne stehen die Prozesse der Globalisierung – die Ausdehnung des Lebens-, Erfahrungs- und Arbeitsraums des Menschen auf den Horizont der globalen Welt hin (vgl. RD, 81–83). Die gesellschaftlich-kulturelle Dynamik der Globalisierung schlägt sich in folgenden fünf Ebenen nieder, die dann auch starken Einfluss auf Religion und Religiosität haben:
- Deinstitutionalisierung: Kontrollverlust von Institutionen auf das Verhalten und die Einstellungen von Menschen
- Detraditionalisierung: Relativierung herkömmlicher Traditionen durch die Entgrenzung von Räumen
- Pluralisierung: Kontakt mit fremden Kulturen und Traditionen
- Individualisierung: die Herausforderung, die eigene Biografie zu gestalten (siehe dazu unten)
- Homogenisierung: globale Gleichgestaltungsprozesse auf den Gebieten der Mode, Musik, Nahrung, Ökonomie – und auch der Religion
Die Prozesse und Folgen der Globalisierung werden unterschiedlich bewertet: Einerseits erweitert eine globale Weltsicht den eigenen Horizont und führt zu einem Austausch von Menschen, Waren und Kulturen. Andererseits bestimmt die Angst vor internationalem Terror, Kriegen und dem Aushöhlen demokratischer Systeme in vielen Ländern sowie die Flüchtlingsbewegungen der letzten Jahre die Wahrnehmung der Weltlage. Eine Folge zeigt sich in den aufkeimenden völkischen Nationalismen (siehe unten Kap. 3.9).
Die Digitalisierung des gesamten beruflichen und privaten Lebens korrespondiert mit den Prozessen der Globalisierung: Informationen sind weltweit verfügbar, die Welt ist digital vernetzt. Dies führt zu massiven Veränderungen in Wirtschaft, Politik, Bildung und Kultur. Die Folgen der digitalen Revolution werden als ambivalent beurteilt: Einerseits ermöglicht das Internet die aktive Teilhabe am sozialen und politischen Leben, andererseits ergeben sich neue Abhängigkeiten und Gefahren (Datenmissbrauch, Manipulation, Kontrolle …).
Die Säkularisierungsthese der Moderne ließ sich mit den entsprechenden Beobachtungen untermauern: deutlicher Rückgang von sonntäglichen Gottesdienstbesuchern, Austrittszahlen aus den Kirchen, sinkende Zustimmung zu Glaubenssätzen. Dieser diagnostizierte »Abschied von Gott« (Der Spiegel, Nr. 25/1992) erfuhr in unseren Breiten eine weitere Plausibilitätsstütze, als nach der deutschen Wiedervereinigung drastisch deutlich wurde, wie es in einem Landstrich über entsprechende staatliche Ideologien im Zeitraum von zwei Generationen gelungen war, ein Volk weitgehend zu entchristlichen. Hubert Knoblauch weist allerdings darauf hin, dass unser Bild von einer abnehmenden Religiosität in Deutschland zugleich von der stark anwachsenden Religion nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt ist, die Ende der 1950er-Jahre ihren Höhepunkt erreicht hatte (vgl. Knoblauch 2009, 17).
Die aktuellen Fakten: Bundesweit sind derzeit ca. 29% der Einwohner katholisch und 27% evangelisch; der Anteil der Religionsfreien beträgt ca. 34% (vgl. die aktuellen Zahlen jeweils: http://www.remid.de« www.remid.de). Allerdings sagen die absoluten Zahlen (knapp 50 Millionen Christen in Deutschland) zumindest im Westen (in den östlichen Bundesländern gehört weniger als ein Viertel der Bevölkerung überhaupt der der christlichen Religion an) einer formalen Mitgliedschaft wenig über die innere Bindung zur Kirche und die persönliche Einstellung zu Religion aus. Westeuropa und speziell Deutschland werden zunehmend säkularisierter – diese These bekommt auch durch internationale Vergleichsdaten Rückenwind: So antworten in Europa nur 61%, in Nordamerika hingegen 92% mit Ja auf die Frage »Glauben Sie an Gott?«. Nach aktuellen Hochrechnungen könnten in Deutschland im Jahre 2025 die Zahl der Nichtreligiösen höher sein als die der Christen; dies wird auch Folgen für die Gestalt und Gestaltung des Religionsunterrichts haben.
1.1.2 Religion oder Konfession? Vom Wandel der Religion
»Renaissance der Religion. Mode oder Megathema?«, so lautete der Titel eines Hefts der Zeitschrift Herder Korrespondenz Spezial von 2006. Die Frage kann man nur beantworten, wenn man den Religionsbegriff differenzierter betrachtet (siehe Schaubild oben). Die klassische etymologische Deutung bezieht sich auf die Mensch-Gott-Beziehung: Religion wird als eine Rückbindung an Gott bzw. als eine Verehrung Gottes oder der Götter betrachtet. Wenn Fritz Oser (siehe unten, Kap. 1.3.1) in seinem religionspsychologischen Modell vom »Letztgültigen« oder »Ultimaten«...