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Requiem für die Krawatte

Die Entbürgerlichung des Bügerlichen

AutorThomas Chorherr
VerlagResidenz Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl176 Seiten
ISBN9783701745418
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Bricht ein Wertesystem auseinander? Eine brillante Analyse. Kleinbürger versus Großbürger, Spießbürger versus Bildungsbürger- es hat den Anschein, als sei der Begriff 'bürgerlich' von gestern. Doch was heißt bürgerlich wirklich? Was versteht, besser: was verstand man darunter? Bürgerlichkeit ist nicht mit dem Begriff 'konservativ' zu verwechseln. Das 'Requiem für die Krawatte' ist voller Dissonanzen. Die 'Entbürgerlichung' macht sich auch in der Kleidung bemerkbar: Der Stil für Damen und Herren ist uneindeutiger geworden, es gibt keinen einheitlichen Dresscode mehr. Thomas Chorherr schreibt ein leidenschaftliches Plädoyer gegen die Entbürgerlichung im politischen Sinn sowie im Sinn von gesellschaftlichen Wertvorstellungen und stellt die Frage: Muss das Requiem für die Krawatte angestimmt werden?

Thomas Chorherr geboren 1932 in Wien, war langjähriger Chefredakteur und Herausgeber der Wiener Tageszeitung 'Die Presse' und ist Vizepräsident des Presseclubs Concordia. Thomas Chorherr ist Autor zahlreicher Bücher und war für TV und Radio tätig.

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Leseprobe

Kapitel 2


Die Lager –
nicht militärisch gemeint


Am 12. März 1945, knapp vor zwölf Uhr Mittag, unterbrach der »Kuckuck« die Sendungen des »Großdeutschen Rundfunks« in Wien. Ich saß in einer der »Restschulen«, in die man die in Wien verbliebenen Gymnasiasten verlagert hatte; die überwiegende Mehrzahl war entweder mit der »Kinderlandverschickung« oder anderwärts weggebracht worden. Der »Kuckuck«, das war jenes Signal, das anzeigte, dass die normalen Sendungen beendet wurden, um allfälligen feindlichen Bombern keine Kontaktmöglichkeit zu geben.

Wenn der »Kuckuck« rief, begannen die Leute zu rennen. Sie suchten einen bombensicheren Unterstand. Ich lief von der Hainburger Straße im dritten Bezirk in die Postgasse, wo mein Vater – der, weil mit einer sogenannten Halbjüdin, meiner Mutter, verheiratet sowie aus Altersgründen nicht felddiensttauglich war – als Plakatzeichner in der Polizeidirektion beschäftigt war. Das Haus aus dem Mittelalter war tief unterkellert. Wir alle meinten, dort sicher zu sein.

Wir waren es. Das Licht flackerte und verlöschte gelegentlich, Bombeneinschläge spürte man sogar im zweiten Kellergeschoß, aber es ging vorüber, so wie die anderen schweren Bombenangriffe im Herbst 1944 und Frühwinter 1945. Und dann kam »Entwarnung« – und ich, der Zwölfjährige, erklomm das Tageslicht.

Um es kurz zu machen: Der 12. März 1945 war der schwerste amerikanische Bombenangriff, der die Wiener Innenstadt traf. Man hat uns später erzählt, dass das Datum bewusst für den Vortag des 13. März gewählt worden war, um uns Österreichern – und den Wienern zumal – noch einmal in Erinnerung zu rufen, dass am 13. März 1938 der »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich verkündet worden war, mit allem, was daraus folgte.

Der 12. März 1945 zeigte, was gemeint war. Die Ringstraße lag in Trümmern. Die Oper war eine rauchende Ruine, das Burgtheater schwer beschädigt, die Universität ein teilweiser Trümmerhaufen, die meisten anderen Bauten des einstigen Prachtboulevards schwer zerbombt. Am Vorabend waren sie noch heil gewesen.

Die Amerikaner hatten demonstriert, was ihre Bomber zu leisten in der Lage waren. Als im Jahre 2015 das 150-jährige Jubiläum der Wiener Ringstraße gefeiert wurde, habe ich mich mit vielen anderen Altersgenossen an diesen 12. März erinnert. War es ein Zufall, dass die US-Bomben ausgerechnet alle jene Gebäude zerstörten, die hundertfünfzig Jahre vorher als Beweis dessen dienen sollten, was das Bürgertum – eigentlich Großbürgertum – für diese Stadt leisten konnte?

»Es ist Mein Wille«, leitete Kaiser Franz Joseph 1857 seine »allerhöchste« Anordnung ein und verlangte die Umfriedung der Innenstadt durch einen Gürtel, der die City von den Vorstädten unterscheiden sollte. Unterscheiden musste. Die Innenstadt – das waren zumeist die Hofburg und die Adelspaläste. Die neue Ringstraße – das waren die Bauten der Aristokratie und des Großbürgertums. Sie war aber auch Demonstration des Bildungsbürgertums. Die Ringstraße ist seither ein Prachtboulevard – einer der schönsten der Welt. In Wahrheit aber auch ein jüdischer Prachtboulevard – und zudem einer, der bewies, was das Wiener Bildungsbürgertum zu leisten imstande war.

Dass die Amerikaner am 12. März 1945 gerade diese Straße zerstörten, sollte offenbar zeigen, dass Wien aus der Geschichte nichts gelernt habe. Die Amerikaner behaupteten dies. Dass der Bomberkapitän, der die Staatsoper zerstörte, angeblich Selbstmord beging, als er erfuhr, welches kulturhistorische Monument er vernichtet hatte, ist zwar eine Legende. Aber irgendwie hängt das Ereignis doch mit der Bedeutung der Frage zusammen, inwieweit Österreich vorher und seither das Bürgertum – was damit gemeint ist, will ich nachher überprüfen – hochgehalten hat. Was bürgerlich vorher hieß – und was von ihm übrig geblieben ist.

Großbürger, jüdische vor allem, waren in den letzten Jahrzehnten des vorletzten Jahrhunderts nicht zuletzt prägend bei der Gestaltung der Donaumetropole. Der Bombenangriff vom 12. März 1945 war aber interessanterweise auch ausschlaggebend für die Tatsache, dass Wien seither immerhin ein Kernpunkt dessen geblieben ist, was man »bürgerlich« mit allen Variationen bezeichnen könnte.

Was wieder zur Frage führt: Was ist bürgerlich? Was versteht man darunter? Gibt es das Bürgerliche heute noch, oder ist es endgültig zum Anachronismus geworden, zu einer Erscheinungsform der Gesellschaft, die in der Gegenwart keinen Platz mehr hat? Die Antworten klingen ähnlich, ob sie nun von Linken oder von Rechten, von sogenannten Konservativen oder von sogenannten Liberalen gefordert werden. Die Frage, was denn der Unterschied ist zwischen »bürgerlich« und »konservativ«, will ich später diskutieren. Hier will ich erst einmal untersuchen, was bürgerlich ist. Dazu gehört vor allem auch die Frage, ob das Bürgerliche ein gesellschaftlicher oder ein politischer Begriff ist. Ob es soziologisch oder parteipolitisch verstanden werden soll. Beide Aspekte sind bis zu einem gewissen Grad ineinander verschmolzen. »Was, bitte sehr, ist bürgerlich?«, fragte seinerzeit – es ist nicht allzu lange her – der Kurier, als Ursula Stenzel, bis dahin eine Ikone der Bürgerlichkeit aufseiten der ÖVP, abrupt die Partei wechselte und von der Volkspartei zu den Freiheitlichen wanderte. Es war, wie nachher immer wieder festgestellt wurde, so etwas wie ein Racheakt. Der FPÖ war es gelungen, eine der wichtigsten Figuren des Wiener Bürgertums abzuwerben – deswegen, weil sie offenbar von der ÖVP nicht mehr gebraucht wurde.

Hat die Volkspartei darauf verzichtet, einen Großteil des bürgerlichen Wählerelements an sich zu fesseln? Bei den letzten Wiener Gemeinderatswahlen 2015 hat sie die ärgste Niederlage seit dem Zweiten Weltkrieg eingefahren. Sie errang 9,24 % der Stimmen. 2010 waren es noch 13,99 % gewesen. Freilich haben auch die Wiener Sozialdemokraten »abgebissen«, und zwar noch kräftiger, mit 39,59 % gegenüber 44,34 %. Zweitgrößte Partei waren bei den Gemeinderatswahlen 2015 die Freiheitlichen mit 30,79 %.

Immer wieder ergibt sich daher die Kernfrage: Was ist bürgerlich? Und neuerlich: Gibt es ein bürgerliches Lager, und wer stellt es dar? Ist es neuerdings die von vielen als zu weit rechts stehend bezeichnete FPÖ, oder ist es immer noch die ÖVP? Was ist bürgerlich, gesellschaftlich gesehen, und was versteht man politisch darunter?

Bleiben wir bei der Politik. Bleiben wir bei jenen politischen Gruppierungen, die sich als bürgerlich verstehen – was immer sie auch damit meinen. Aber weit gefehlt: Bürgerliche Parteien können nicht mit dem »bürgerlichen Lager« verwechselt werden. Bürgerliches Lager sind alle, die sich nicht zur politischen Linken zugehörig fühlen. Als bürgerlich verstehen sich zumeist konservative Parteien, christdemokratische Parteien, die meisten liberalen Parteien, teilweise christlichsoziale Parteien und teils sogenannte Bürgerblöcke, gelegentlich als Gegenspieler zur Sozialdemokratie. Mehrere Parteien führen die Bezeichnung »bürgerlich« sogar im Namen, so die Bürgerlich-Demokratische Partei in der Schweiz, die Rechtsstaatliche Bürgerpartei in Sachsen-Anhalt, zwei deutsche Kleinparteien und eine politische Gruppierung, die sich »Die Mündigen Bürger« nannte und sich vor allem an enttäuschte CSU-Wähler richtete.

Im Großen und Ganzen war, so hatte es den Anschein, das Urteil über die politische Kraft des Bürgerlichen längst gefällt: Es gibt sie nicht mehr, und zwar weder von rechts noch von links aus betrachtet. Man muss nicht dem erwähnten Falter beipflichten, den der Krone-Kolumnist Michael Jeannée permanent als »Bolschewistenblattl« bezeichnet, um der allgemeinen Verdammung der Konservativen (noch einmal: über den Unterschied wird noch zu sprechen sein) zuzustimmen. »Bürgerlich zu sein, ist kein Geburtsrecht der Konservativen mehr«, schrieb Julia Ortner seinerzeit in dieser sogenannten Stadtzeitung. »Definiert man Bürgertum über Bildung, sind heute schon die Grünen die bürgerlichste Partei, gefolgt von der ÖVP«, behauptet der Politologe Anton Pelinka, ein deutlich erkennbarer Linkssympathisant. Nur wenn es um das Bürgertum als Hort des Besitzes geht, hätten die Schwarzen noch die Führungsrolle.

Auf der rechten Seite ist der ebenfalls schon erwähnte Andreas Unterberger der Meinung, dass sich der bürgerliche Lebensstil nicht mehr aufrechterhalten lasse. Der Begriff »bürgerlich« hat eine Wandlung erlebt. Auch in der Politik habe die Bezeichnung einer Partei als »bürgerlich« keinen Inhalt mehr. Ein Gegensatz zu Bauernstand und Adel ist...

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