Resilienz durch Alltagsinszenierung
Am nächsten Treffen übernahm Dr. Meyer die Moderation. Er hatte Texte mitgebracht und ein Doppelbild, dass auf die Leinwand projeziert wurde. Es zeigte auf der einen Seite den ehemaligen Kaiser Wilhelm II in seinem holländischen Exil beim Holzhacken – auf der anderen Seite war der ehemalige Zar Nikolaus mit seinem Sohn beim Holzsägen zu sehen.
„Bevor wir auf diese beiden Szenen zu sprechen kommen“, begann Dr. Meyer, „noch ein kurzer Rückblick. Vielen Dank lieber Stefan, dass du mir letztes Mal schon einen großen Teil meiner heutigen Ausführungen vorweg genommen hast“ – beide schmunzeln – „denn in der Tat spielt für die Resilienz gerade in traumatischen Situationen der Glaube bzw. religiöse oder weltanschauliche Prägung eine nicht zu unterschätzende Rolle; da haben deine Kollegen und die deines Vaters in den verschiedenen Kriegen schon gute Dienste geleistet. Gott sei Dank ist dir und uns der Ernstfall erspart geblieben. Auch die vielen Hinweise auf die jeweilige Landschaft passt zu meinen Forschungen. Was uns in harmloser Form vom Urlaub vertraut ist, ist für Traumapatienten besonders wichtig: Ein Kraftort, eine vertraute, anregende Umgebung zum Abschalten, Umschalten und Auftanken; dabei hat dein Kollege, lieber Stefan, sehr recht, dass Reminiszenzen an die Heimat dabei zu berücksichtigen sind, weil sie entweder ermutigen oder betrüben können. Was für den einen sehr hilfreich ist, um sich zu verwurzeln und Kraft zu schöpfen im Vertrauten und in der Erinnerung, kann einen anderen stark belasten; er braucht ganz neue, anregende Abenteuerumgebung um Kraft und Zuversicht zu spüren.
Das lässt sich auch metaphorisch verstehen: Menschen brauchen einen vertrauten Rahmen; daher auch „Resilienz durch Alltagsinszenierung“ als heutiges Thema.
Im philosophischen Kontext stehen für mich Oswald Spengler und Ernst Bloch die beiden Antipoden dar: Der eine, Spengler, steht für die Strategie, in einem Gedankengebäude einen vertrauen Rahmen für das Erlebte zu finden – in seinem Fall die Abfolge von Kulturen und Zivilisationen analog zum Menschenleben in Gestalt von Geburt, Wachstum, Reife und Sterben. Auf diese Weise passen die Symptome des Untergangs, die er 1918 erlebte, genau in dieses Schema als „Untergang des Abendlandes“. Susanne hat mir verraten, dass wir am Ende unserer Gesprächsreihe noch einmal darauf zu sprechen kommen – daher jetzt erst einmal so viel.
Ernst Bloch dagegen steht – obwohl er Ähnliches im Schweizer Exil erlebte und realisierte, dass der Krieg nicht nur eine Generation, sondern jede Lebenskraft zerstört hatte – für den Aufbruch:
Wenn das Leben zu Ende scheint, schreibt er 1918 in der Einleitung zu „Geist der Utopie", müssen die Wenigen, die noch nicht zerstört sind, es wiederbeleben und ihre Zukunft ins Blaue bauen, damit die Gesellschaft wieder Zukunft hat.
Hier ist übrigens der entsprechende Text:“
In unsere Hände ist das Leben gegeben. Für sich selber ist es längst schon leer geworden. Es taumelt sinnlos hin und her, aber wir stehen fest, und so wollen wir ihm seine Faust und seine Ziele werden. Was jetzt war, wird wahrscheinlich bald vergessen sein. Nur eine leere, grausige Erinnerung bleibt in der Luft stehen. /.../ Was jung war, musste fallen, aber die Erbärmlichen sind gerettet und sitzen in der warmen Stube. Von ihnen ist keiner verloren gegangen, aber die andere Fahnen geschwungen haben, sind tot. Und dieses allein ist wichtig. Wes Brot ich ess, des Lied ich sing. Aber dieses Versagen vor dem Kalbsfell war doch überraschend. Das macht, wir haben keinen sozialistischen Gedanken. Sondern wir sind ärmer als die warmen Tiere geworden; wem nicht der Bauch, dem ist der Staat sein Gott, alles andere ist zum Spaß und zur Unterhaltung herabgesunken. Wir bringen der Gemeinde nicht mit, weswegen sie sein soll, und deshalb können wir sie nicht bilden. Wir haben Sehnsucht und kurzes Wissen, aber wenig Tat, und was derenFehlen mit erklärt, keine Weite, keine Aussicht, keine Enden, keine innere Schwelle, geahnt überschritten, keinen utopisch prinzipiellen Begriff. Diesen zu finden, das Rechte zu finden, um dessentwillen es sich ziemt, zu leben, organisiert zu sein, Zeit zu haben, dazu gehen wir, hauen wir die phantastisch konstitutiven Wege, rufen was nicht ist, bauen ins Blaue hinein, bauen uns ins Blaue hinein und suchen dort das Wahre, Wirkliche, wo das bloß Tatsächliche verschwindet – incipit vita nova.
„Das gibt es beides auch in einer theologischen Version“, ergänzte Stefan Schulz, nachdem sie ihre Gedanken zu Bloch ausgetauscht und Beispiele für Strategien der Resilienz im Alltag gesucht hatten.
„Ich denke dabei an Emanuel Hirsch und Karl Barth. Der eine, Hirsch, reagierte auf die Erfahrungen von 1918 mit einem festen theologischen System von Gesetz und Evangelium, Zorn und Gnade Gottes, und vom Gewissen als Anknüpfungspunkt und Kompass im Menschen. Der andere, Barth, stürzte sich – wie Bloch – ins Ungewisse. Hier ist es aber Gott, den er wirken lässt, da für ihn der Mensch keine andere Möglichkeit hat. Auch das werden wir vermutlich am Ende der Reihe noch etwas vertiefen können.
Jetzt sind wir alle gespannt auf die Situation von Ex-Kaiser und Ex-Zar.“
„Dann will ich euch auch nicht länger warten lassen“, übernahm Dr. Meyer wieder das Wort. „Die beiden Bilder, die ihr dort seht, den Kaiser im Exil, der gemeinsam mit anderen einen Baum fällt und das Bild von Zar Nikolaus und seinem Sohn beim Zersägen von Baumstämmen im Schnee1, bringen uns zu einer anderen wichtigen Therapieform von Traumata und zu einem wichtigen Aspekt von Resilienz, nämlich den des Körpers: Körperliche Arbeit und psychosomatische Gesundheit, was für niemanden wirklich neu ist – mens sana in corpore sana wussten schon die alten Römer – und jeder gute Mediziner und Psychologe beachtet Körper, Geist und Seele. Anstatt euch mit allgemeinen medizinischen Ausführungen zu beschäftigen, habe ich euch Texte mitgebracht, die direkt oder indirekt auf die beiden Bilder Bezug nehmen. Der erste stammt aus dem Tagebuch des kaiserlichen Adjutanten Sigurd von Ilsemann über das Exil in Holland, wo Wilhelm nach dem Besuch amerikanischer Agenten, die ihn entführen wollten, war und besonders scharf bewacht wurde, sodass er sogar Suizidgedanken hegte. Nur seine Frau und seine religiöse Haltung, so von Ilsemann, hielten ihn zurück. Aber es soll ja um etwas anderes gehen. Hier ist der Abschnitt:
Des Kaisers Getreue im Exil litten überdies unter der hektischen Betriebsamkeit Wilhelms. Am eifrigsten war er beim Holzsägen. Unter allerhöchster Aufsicht entwickelte sich der ehemalige Generalstäbler Ilsemann zum perfekten Forstarbeiter. Auch die Damen mußten mit anpacken. Ilsemann: Der Kaiser hält den Baum, die Gräfin Elisabeth (Hofdame der Kaiserin) und ich sägen. Die Kaiserin legt die abgeschnittenen Stücke auf einen Haufen zusammen. /.../ Nur sonntags und bei besonders schönem Wetter wird nicht gesägt. /.../ Wenn er ins Haus kommt, erzählt er jedem: »Ich habe heute früh 50 oder 80 Bäume gesägt!«, auch wenn die Hälfte ohne sein Zutun bewältigt wurde. Das wiederholt sich fast täglich. /.../
26. Juni 1919: Bis heute wurden bereits 4 824 Bäume gesägt. /.../ 30. Oktober 1919: Der Kaiser sägte heute den 11 000. Baum. 5. Dezember 1919: Der Kaiser sägt heute seinen 13 000. Baum. /.../ Der Park wird immer kahler, ein Baum nach dem anderen fällt.
„Ein Wunder, dass der Kaiser da noch zu den Spaziergängen, zum Lesen und Schreiben oder zu den archäologischen Diskussionen über die Gorgo und andere antike Wesen Zeit hatte“, wunderte sich Silke Schmidt. „Offenbar war er ein Workaholic“, erwiderte Dr. Meyer. Dann holte er andere Kopien.
„Dass es zum Holzhacken und Sägen des Zaren keine Aufzeichnungen gibt, hängt vermutlich damit zusammen, dass es keine Liebhaberei, kein Hobby war, sondern zwingende Notwendigkeit, um in Sibirien nicht zu erfrieren. Damit ihr euch aber ein Bild machen könnt von den Zuständen im Umfeld der Ermordung der Zarenfamilie, habe ich euch einen Auszug aus dem Tagebuch mitgebracht, in dem der Tutor der Romanow-Kinder,
Gilliard, von seiner Untersuchung der Morde erzählte, nachdem er zu spät in Jekaterinenburg eingetroffen war.2
Gilliard beschrieb nicht nur den beschwerlichen Weg in einem streng bewachten Zuge nach Jekaterinburg, wo die Zarenfamilie interniert war, sondern auch die Repressalien der Bolschewiki gegen Aristokraten im Zug, die verschleppt und umgebracht wurden. Er selbst überlebte die Aktionen wie durch ein Wunder:
Dann war alles vorbei! Die Aufregung, die uns bisher getragen hatte, gab Anlass zu tiefen Depressionen. Was war geschehen? Was sollte der nächste Schritt sein? Wir waren überwältigt. Auch heute kann ich nicht verstehen, was die Bolschewiki zu dieser Entscheidung aufgefordert, unser Leben zu retten. Warum, zum Beispiel, sollte Gräfin Hendrikof ins Gefängnis gebracht, während Baroness De Buxhoeveden, auch eine Hofdame der Zarin, erlaubt wurde, frei zu gehen? Warum sie und nicht wir? War es Durcheinander von Namen oder Funktionen? Ein Geheimnis!
„Durch Kämpfe zwischen Bolschewistischen und antibolschewistischen Truppen,“ erläuterte Dr. Meyer, „kam es zu weiteren Verzögerungen, immer wieder von der Angst verfolgt, ebenfalls dem bolschewistischen Terror zum Opfer zu fallen. Schließlich war Gilliard doch noch in Jekaterinenburg angekommen und fand dort im Gebäude, in dem die Zarenfamilie untergebracht und offenbar auch umgebracht worden war, einen...