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E-Book

Resonanzpädagogik auf dem Prüfstand

Über Hoffnungen und Zweifel an einem neuen Ansatz

AutorJens Beljan, Michael Winkler
VerlagBeltz
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl120 Seiten
ISBN9783407631442
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis18,99 EUR
Die von Hartmut Rosa begründete Resonanzpädagogik stößt auf großes Interesse in Theorie und Praxis der Pädagogik. In diesem Buch diskutieren zwei ausgewiesene Kenner des Ansatzes die Vor- und Nachteile und bieten so zahlreiche Denkanstöße für die Umsetzung und Weiterentwicklung der Resonanzpädagogik.

Jens Beljan, Jg. 1982, Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Bildung und Kultur der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Resonanzpädagogik, Bildungsphilosophie und Identitätsbildung. Außerdem arbeitet er an der Edition und Kommentierung des Pädagogik- und Psychologie-Bandes der Kritischen Gesamtausgabe Friedrich Schleiermachers. Michael Winkler, Dr. phil. habil., war bis 2018 Professor für Allgemeine Pädagogik und Theorie der Sozialpädagogik sowie langjährig Direktor des Instituts für Bildung und Kultur an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er lehrt heute an der Evangelischen Hochschule Dresden und im Masterstudiengang der ARGE Bildungsmanagement in Wien. Und arbeitet als sozialpädagogischer Schriftsteller. Hartmut Rosa, Jg. 1965, Prof. Dr., ist Professor am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Theorien der Moderne, Zeitsoziologie, Kommunitarismus. Er war zudem schon mehrfache Akademieleiter der Deutschen SchülerAkademie.

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Leseprobe

2.Von Dinosauriern und Riesen


Historische und disziplinäre Verortung

MW: Du nimmst also Rosas Resonanztheorie auf, die er selbst zwar schon in einen pädagogischen Kontext gestellt hat, bettest sie aber nun in die Tradition pädagogischer Reflexion ein. Das ist ein wenig ungewöhnlich, hat aber einigen Charme. Denn so trägt ein Vorbehalt nicht mehr so ganz, der zumindest von jenen gern erhoben wird, die sich sozusagen als aufrechte Vertreter eines pädagogischen Denkens verstehen; die mithin davon ausgehen, dass die pädagogischen Phänomene und Sachverhalte ganz eigener Art seien, dass sie nicht zuletzt auch – um den Begriff Herbarts aufzugreifen – in »einheimischen Begriffen« gedacht und gefasst werden sollen. Der Vorbehalt lautet, dass in schöner Regelmäßigkeit Konzepte importiert werden, meist aus anderen disziplinären Zusammenhängen, jedenfalls sozusagen von außen; sie werden nicht nur importiert, vielmehr entsteht dann ein regelrechter Hype um sie, wobei die Angelegenheit zuweilen für jeden trivial wirkt, der sich etwas intensiver mit Pädagogik beschäftigt hat, oder aber dann zu Erwartungen führt, die schlicht nicht einzulösen sind; die – wenn man so reden darf – Sache der Pädagogik sperrt sich dagegen. Ich nenne reichlich willkürlich zwei solcher Konzepte, komme auf sie gleich noch einmal zurück: Inklusion etwa oder Kompetenz, beide bemerkenswert, weil sie zumindest auch eine Hintergrundsemantik haben, die naturwissenschaftlich oder verwaltungstechnisch geprägt ist; Inklusion hat ja zunächst mit Einschlüssen im Gestein zu tun, stammt aus der Mineralogie – wobei ich dann immer an das Politikerwort denken muss, nach welchem Bildung notwendig sei, um das Gold aus den Köpfen der Kinder zu heben. Und danach? Weg mit den Resten auf den Abraum? Kompetenz war ursprünglich ein biologischer Begriff, wanderte dann in die Verwaltungslehre ein, wo er Zuständigkeit und Verantwortlichkeit meint, übrigens gibt es auch noch eine religiöse Konnotation. Bis auf die berüchtigte Definition Weinerts fehlen allerdings heute theoretisch klare Konzepte, nüchtern, in Nachfolge von Noam Chomskys linguistischer Theorie könnte man sogar davon sprechen, dass es heute um Performanz geht, wenn Kompetenz drauf steht – um die Performanz, die man benötigt, um in einer Projektexistenz den – wie Boltanski und Chiapello es beschrieben haben – neuen Geist des Kapitalismus zu bedienen.15 Jedenfalls führen solche ungeklärten Anleihen bei einem etwa naturwissenschaftlichen und technischen Begriffsgebrauch dazu, dass Bedeutungselemente sich eher still und leise einschleichen und dann das Geschehen in den pädagogischen Feldern doch überformen. Im Überschwang der Begeisterung wird das dann kaum bemerkt, zumal neuartig oder gar modern wirkende Worte den Blick auf die Sachverhalte und Realitäten doch verstellen – man könnte natürlich von Ideologie reden oder gar eine bösartige Verschwörung vermuten, wenn man zu solchen Gedanken neigt.

JB: Du meinst, dass fremde Disziplinen, absichtsvoll oder nicht, ihre Konzepte und Begriffe in die Pädagogik einschleusen, um sie für ihre Zwecke nutzbar zu machen. Dabei wird die genuin pädagogische Logik durch entsprechende soziologische, psychologische oder verwaltungstechnische Logiken verdeckt. Bevor wir darauf zu sprechen kommen, warum die Resonanzpädagogik diesem Vorwurf entgehen könnte, würde ich gerne wissen, wie du allgemein zu dem von dir beschriebenen Vorbehalt stehst.

MW: Ich gestehe, dass ich auch zu diesen Dinosauriern der Pädagogik gehöre, die von Seiten der sogenannten Bildungswissenschaften verlacht werden. Wer also an die Tradition der Pädagogik und ihre eigenen Problemstellungen und Konzepte erinnert, wird meist von drei Seiten angegriffen, von denjenigen, die eher einem sozialwissenschaftlichen Zugang folgen wollen und daher moderne, eher soziologische und psychologische Konzepte aufnehmen und den erfahrungswissenschaftlich und meist eher technisch Denkenden. Die dritte Seite findet sich in Gestalt derjenigen, die pädagogisches Denken und Handeln unter einen generellen Verdacht stellen, es geht also um diejenigen, die entweder ein wenig antipädagogisch angehaucht sind oder sich selbst in der Tradition eines kritischen Denkens sehen, das dann schon mal mit Foucault begründet wird.

Warum erzähle ich das alles? Immerhin machen die Dinosaurier der Pädagogik aufmerksam darauf, dass in der realen Welt die Probleme der Pädagogik und ihre Phänomene nicht verschwunden sind – irgendwie werden die Kinder dann doch erzogen, weil sich das offensichtlich nicht so ganz vermeiden lässt, selbst wenn darüber nicht mehr gesprochen wird. Man könnte sagen: Erziehung ist nicht nur ein ganz eigener Sachverhalt, der sich nicht hintergehen lässt, nein, Erziehung ist vielmehr ziemlich stur und resistent sogar gegenüber allen Versuchen, die Begriffe zu tilgen, mit denen sie und ihre Aufgaben wie Leistungen diskutiert werden.

JB: Die Resonanzpädagogik müsste den neu importierten Begriff mit den alten und bewährten Konzepten der pädagogischen Sachverhalte verbinden bzw. sich an diesen abarbeiten? Von welchen Sachverhalten sprichst du im Einzelnen?

MW: Um nur ein paar Probleme zu verdeutlichen, die im pädagogischen Denken immer präsent waren – allerdings keineswegs in der Praxis der Erziehung, die in der Tat häufig grausam, wenn nicht sogar brutal und menschenverachtend war und zuweilen auch noch ist:

Zu den realen Problemen gehört nun, dass Menschen – erstens – in einer historisch schon geschaffenen Welt ankommen und sich in dieser entwickeln. Ein wenig platt formuliert, in einer Weise, mit der man sich dem Verdacht der Konservativität aussetzt: Erziehung zeichnet aus, dass es um ein Verhältnis von Subjekten zu Objekten geht, von sich entwickelnden Subjekten zu einer für sie gegenständlichen und insofern objektiven Wirklichkeit, die außerhalb ihrer biologischen Verfasstheit gegeben ist; Wolfgang Sünkel hat diese objektive Wirklichkeit mit dem Ausdruck nicht-genetisches Erbe bezeichnet. Entscheidend ist nun auch im Blick auf unsere Gegenwart: Subjekte benötigen Objekte, gleich ob es sich um dingliche Artefakte, um Symbole oder auch Verhaltensweisen oder sogar Empfindungsformen handelt. Erziehung stellt die Verbindung zwischen den Subjekten und den Objekten her, sie präsentiert ihnen eine Lebensform oder repräsentiert sie gegenüber den Subjekten, wie das Klaus Mollenhauer in seinen »Vergessenen Zusammenhängen«16 gezeigt hat – wobei man das alles ganz nüchtern sehen muss: Die Menschen machen das schon selbst, sie gehen – um mit Janusz Korczak zu sprechen – in die Schule des Lebens, doch wird dort nicht immer alles gelehrt, worauf es ankommt – notabene: um selbständig zu werden. Das ist übrigens das fatale Missverständnis sowohl des radikalen Konstruktivismus, nach dem wir alles sozusagen aus uns selbst schöpfen, wie auch der Antipädagogik, die nicht begreift, dass vieles in der Welt uns schlicht in Anspruch nehmen will.

Menschen müssen die Welt kennen lernen, um mit dieser umgehen zu können. Ein Paradox besteht also darin, dass Menschen sich diese Welt einerseits aneignen müssen, das Leben in ihr lernen und einüben müssen, weil sie andernfalls gar nicht überleben können. Andererseits müssen sie sich von dieser so distanzieren, dass sie durchaus Neues entwickeln, dass sie vor allem die eigene Souveränität gegenüber all dem gewinnen, was ihnen zugemutet wird. Eine einfache Sozialisationstheorie, die auf Determination durch Gesellschaft und Kultur setzt − wie dies Durkheim vorschwebte −, trifft die Sache nicht; wäre dies der Fall, würden Gesellschaften wohl erstarren, kalt werden; so hat das zumindest der Anthropologe Claude Lévi-Strauss erkannt.17 Aneignung und Distanzierung gehören zusammen, übrigens sogar noch im Blick auf den Körper, genauer im Blick auf den Leib der Menschen. Das Paradox allzumal pädagogisch unterstützter Bildungsprozesse besteht nämlich darin, dass sich Menschen soziale und kulturelle Wirklichkeit, übrigens auch moralische und emotionale Deutungsmuster, Regeln des Lebens und Konzepte der Leiblichkeit nicht bloß aneignen, sie mithin nicht bloß erlernen und in ihr Verhaltensrepertoire aufnehmen, verinnerlichen, wie das oft genannt wird. Sie nehmen sie vielmehr auf, um sich ihnen gleichsam gegenüber zu stellen, also ein Bewusstsein von sich selbst und den eigenen, neu erworbenen und zugleich selbst entwickelten Fähigkeiten zu gewinnen, die sie mithilfe ihrer Weltkenntnis gewonnen haben. Wolfgang Sünkel hat dies im Begriff der Aneignungsdisposition gefasst. Sie wird durch Erziehung und der für diese...

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