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The Rest is Noise

Das 20. Jahrhundert hören

AutorAlex Ross
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl704 Seiten
ISBN9783492965323
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Eine glänzende Erzählung lässt uns die Geschichte des 20. Jahrhunderts über seine Musik neu erleben. Alex Ross, Kritiker des »New Yorker«, bringt uns aus dem Wien und Graz am Vorabend des Ersten Weltkriegs ins Paris und Berlin der Goldenen Zwanzigerjahre, aus Hitler-Deutschland über Russland ins Amerika der Sechziger- und Siebzigerjahre. Er führt uns durch ein labyrinthisches Reich, von Jean Sibelius bis Lou Reed, von Gustav Mahler bis Björk. Und wir folgen dem Aufstieg der Massenkultur wie der Politik der Massen, den dramatischen Veränderungen durch neue Techniken genauso wie den Kriegen, Experimenten, Revolutionen und Aufständen der zurückliegenden 100 Jahre. »Eine unwiderstehliche Einladung, sich mit den großen Themen des 20. Jahrhunderts zu beschäftigen.« Fritz Stern

Alex Ross, geboren 1968, ist seit 1996 Musikkritiker des New Yorker. 'The Rest is Noise', sein erstes Buch, wurde ein ungeheurer Erfolg: ein von der Kritik mit Lob und Preis gefeierter Bestseller, der in 15 Ländern erscheinen wird. Ross ist 'MacArthur Fellow' und lebt in New York.

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Leseprobe

2


DOKTOR FAUST


Schoenberg, Debussy und Atonalität


An einem Tag im Jahr 1948 oder 1949 kam es im Brentwood Country Mart, einem Einkaufszentrum in einer besseren Gegend von Los Angeles, zu einem kleinen Zwischenfall, in dem der spektakulärste Umbruch in der Musik des 20. Jahrhunderts nachklang. Marta Feuchtwanger, die Frau des Exilautors Lion Feuchtwanger, prüfte in der Lebensmittelabteilung Pampelmusen, als sie vom Ende der Regale her eine deutsche Stimme rufen hörte. Sie blickte auf und sah Arnold Schoenberg, den Pionier der atonalen Musik und Schöpfer der Zwölftonkomposition, der mit leuchtender Glatze und funkelnden Augen auf sie zugestürmt kam. Noch Jahrzehnte später konnte Frau Feuchtwanger sich im Gespräch mit dem Schriftsteller Lawrence Weschler an jede Einzelheit der Begegnung erinnern, sogar an das Gewicht der Pampelmuse in ihrer Hand. »Lügen, Frau Marta, alles Lügen!«, schrie Schoenberg. »Sie müssen wissen, ich hatte nie Syphilis!«119

Der Grund für diese erstaunliche Begegnung war das Erscheinen des Romans Doktor Faustus: Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde. Thomas Mann, der sich immer schon besonders zur Musik hingezogen fühlte, war im kalifornischen Exil auf zahlreiche andere emigrierte Künstler aus Mitteleuropa getroffen. Die Nähe zu Berühmtheiten wie Schoenberg und Strawinsky hatte Mann angeregt, einen »Roman der Musik« zu schreiben, in welchem ein moderner Komponist entlegene Meisterwerke komponiert und dann in syphilitischem Wahnsinn versinkt. Rat hatte Mann sich dabei von Theodor W. Adorno geholt, der bei Schoenbergs Schüler Alban Berg studiert hatte und ebenfalls zur Exilgemeinde von Los Angeles gehörte.

Mann räumte ein, sich der zeitgenössischen Musik aus der Perspektive eines gebildeten Amateurs genähert zu haben, der sich fragt, wohin das »verlorene Paradies«120 der deutschen Romantik entschwunden ist. Mann hatte 1910 der Uraufführung von Mahlers Achter beigewohnt. Er war Mahler kurz vorgestellt worden und dabei in Ehrfurcht erstarrt. Gut drei Jahrzehnte später erlebte Mann nun, wie Mahlers Protegé Schoenberg in Los Angeles seine »äußerst schweren«, aber »dankbaren« Kompositionen kleinen Gruppen ergebener Anhänger vorstellte.121 Der Roman stellt im Grunde auf fast 700 Seiten die Frage: »Was ist falsch gelaufen?«

Leverkühn ist ein intellektuelles Ungeheuer – kalt, lieblos, arrogant, spöttisch. Seine Musik absorbiert alle Stile der Vergangenheit und schlägt sie in Scherben. »Ich habe gefunden, es soll nicht sein«, sagt er von Beethovens Neunter, deren Schlusschoral »An die Freude« einmal vom menschlichen Streben nach Brüderlichkeit kündete. »Es wird zurückgenommen. Ich will es zurücknehmen.«122 Die Krankheit, die Leverkühn schließlich zerstört, zieht er sich auf eigenartigem Wege zu. Er sagt seinen Freunden, er reise zur österreichischen Premiere der Salome nach Graz. Er nimmt jedoch heimlich einen Umweg und schläft mit einer Prostituierten namens Esmeralda, deren Syphiliserkrankung schon aus ihrer gelblichen Gesichtsfarbe ersichtlich ist. Leverkühn steckt sich also absichtlich an, weil er glaubt, die Krankheit werde ihm übernatürliche schöpferische Fähigkeiten verleihen. Als der Teufel erscheint, verrät er dem Komponisten, dass er zu Lebzeiten keine Popularität erringen werde, dass seine Zeit aber – wie die Mahlers – kommen werde: »Du wirst führen, du wirst der Zukunft den Marsch schlagen, auf deinen Namen werden die Buben schwören, die dank deiner Tollheit es nicht mehr nötig haben, toll zu sein.«123 Da der Faustus auch ein Buch über die Wurzeln des Nationalsozialismus ist, wird Leverkühns »blutlose Intellektualität« auf geheimnisvolle Weise zum Spiegelbild von Hitlers »blutigem Barbarismus«.124 Der kultartige Fanatismus der modernen Kunst- und Musikwelt ist dabei der Politik des Faschismus nicht unverwandt: Beide versuchen, die Welt nach utopischem Modell umzugestalten.

Schoenberg war über diese Darstellung verständlicherweise erzürnt, da sie seinen größten Errungenschaften eine krankhafte Färbung verlieh. Zwar konnte der echte Komponist zuzeiten etwas eigenartig, sogar unheimlich sein – »Ich kann durch Wände sehen«, sagte er einmal in Gesellschaft125 –, doch war er sicher kein kalter oder blutleerer Mensch. Sein Vorhaben, die Sprache der Musik zu revolutionieren, nahm er mit höchster Leidenschaft und beinahe kindlicher Begeisterung in Angriff. Als gebürtiger Wiener, der die österreichisch-deutsche Tradition in Ehren hielt, hätte er niemals Beethovens Neunte verspottet. Als Jude erkannte er die wahre Natur des Nationalsozialismus früher als Mann. Arrogante Distanz war nicht sein Stil: Er war unter anderem ein fesselnder Lehrer, der ein Leben verändern konnte und von dessen Schülern, vom Opernkomponisten Alban Berg bis zum Aphoristiker Anton Webern, vom Kommunisten Hanns Eisler bis zum »hippiesken« Lou Harrison, viele eine wichtige Rolle in der Musik des 20. Jahrhunderts gespielt haben.

Dennoch wusste Mann, was er tat, als er seinen Komponisten mit dem Teufel paktieren ließ. Fausts Übereinkunft ist ja nur eine besonders grelle Version der Geschichten, die Künstler gern erzählen, wenn sie ihre Abgeschiedenheit rechtfertigen. Als Eisler Manns Roman las, verband er ihn sogleich mit der so wahrgenommenen Krise der klassischen Musik in der modernen Gesellschaft. »Große Kunst, so behauptet der Teufel, kann in dieser verfallenden Gesellschaft nur noch produziert werden durch völlige Isolierung, Einsamkeit, durch völlige Herzlosigkeit … [Mann] lässt Leverkühn träumen von einer neuen Zeit, wo die Musik wieder gewissermaßen ›auf Du und Du‹ mit dem Volke stehen wird.«126 Andere Komponisten der Jahrhundertwende sahen sich als Individuen im Kampf gegen eine rohe und verdummte Welt. In Paris nahm Claude Debussy in den Jahren vor 1900 ganz bewusst eine antipopuläre Haltung ein und brach nicht von ungefähr zur selben Zeit mit den Regeln konventioneller Tonalität. Schoenberg jedoch machte die kühnsten Schritte in dieser Richtung, und was vielleicht noch wichtiger war: Er entwarf eine detaillierte Teleologie der Musikgeschichte, eine Theorie des unumkehrbaren Fortschritts, um seinen Weg zu rechtfertigen. In der Faust-Metapher klingt auch die Furcht an, die Schoenbergs Gewaltakt bei den ersten Zuhörern weckte.

Am Beginn des 21. Jahrhunderts klingt Schoenbergs Musik nicht mehr so fremdartig. Sie hat sich in unvorhergesehene Richtungen ausgebreitet, sich im Bebop ebenso eingenistet (die durchsichtigen Akkorde eines Thelonious Monk haben eine Schoenbergsche Färbung) wie in der Filmmusik (Horrorfilme brauchen Atonalität gerade so wie Schatten in düsteren Gassen). Nachdem sich die Revolution der Moderne in zahlreiche Fraktionen aufgespalten hat, einige Komponisten zur Tonalität zurückgekehrt, andere in ganz neue Richtungen aufgebrochen sind, geht von Schoenbergs Musik nicht mehr die Drohung aus, dass alle Musik einmal so klingen wird. Dennoch hat sie ihre faustische Aura behalten. Diese Intervalle werden die Luft immer erbeben lassen; niemals werden sie uns zur zweiten Natur werden. Darin liegt ihre Macht wie ihr Schicksal.

Wien 1900


In seinen frühen Erzählungen zeichnete Thomas Mann lebendige Porträts eines um die Jahrhundertwende verbreiteten Typus – des apokalyptischen Ästheten. Die Kurzgeschichte Beim Propheten, die er 1904 schrieb, beginnt mit einer ironischen Ode an den künstlerischen Größenwahn:

Seltsame Orte gibt es, seltsame Gehirne, seltsame Regionen des Geistes, hoch und ärmlich. An den Peripherien der Großstädte, dort, wo die Laternen spärlicher werden und die Gendarmen zu zweien gehen, muss man in den Häusern emporsteigen, bis es nicht weiter geht, bis in schräge Dachkammern, wo junge, bleiche Genies, Verbrecher des Traumes, mit verschränkten Armen vor sich hinbrüten, bis in billig und bedeutungsvoll geschmückte Ateliers, wo einsame, empörte und von innen verzehrte Künstler, hungrig und stolz, im Zigarettenqualm mit letzten und wüsten Idealen ringen. Hier ist das Ende, das Eis, die Reinheit und das Nichts. Hier gilt kein Vertrag, kein Zugeständnis, keine Nachsicht, kein Maß und kein Wert. Hier ist die Luft so dünn und keusch, daß die Miasmen des Lebens nicht mehr gedeihen. Hier herrscht der Trotz, die äußerste Konsequenz, das verzweifelt thronende Ich, die Freiheit, der Wahnsinn und der Tod …127

In Manns Erzählung Gladius Dei aus dem Jahr 1902 schreitet ein junger Mann namens Hieronymus durch Strauss’ Heimatstadt München und grollt ob der luxuriösen Extravaganz um ihn herum. Er betritt eine Kunsthandlung und beschimpft den Besitzer, er stelle Kitsch zur Schau – Kunst, die bloß schön und daher wertlos sei. »Denkt man, mit prunkenden Farben das Elend der Welt zu übertünchen?«, ruft Hieronymus. »Glaubt man, mit dem Festlärm des üppigen Wohlgeschmacks das Ächzen der gequälten Erde übertönen zu können? … Die Kunst ist die heilige Fackel, die barmherzig hineinleuchte in alle fürchterlichen Tiefen, in alle scham- und gramvollen Abgründe des Daseins; die Kunst ist das göttliche Feuer, das an die Welt gelegt werde, damit sie aufflamme und zergehe samt all ihrer Schande und Marter in erlösendem Mitleid!«128

Überall im Europa des Fin de Siècle stapften seltsame junge Männer die engen...

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