Die Geschichte der Europäischen Union in der Gestalt, wie sie sich uns heute präsentiert, kann nur aus ihrer historischen Entwicklung heraus angemessen verstanden werden. Wer sich diese Geschichte nicht vergegenwärtigt, der kann ihre Organisation und ihre Mechanismen nicht sinnvoll in den nötigen Kontext einordnen.
Europa ist – im Vergleich zu anderen »Kontinenten« – der kleinste Kontinent. Arno Schmidt hat bisweilen gespottet, bei Europa handele es sich nicht einmal um einen Kontinent, sondern im Grunde allenfalls um das nordwestlich Ende Asiens. Dass Europa jenes stolze Selbstwertgefühl entwickelt hat, ein eigener Kontinent zu sein, beruht zum einen auf dem ursprünglich nur beschränkten mediterranen Blick auf die Erdscheibe, zum anderen dann aber darauf, dass von hier aus mit weltweit beeindruckenden Erfindungen der Globus erobert und praktisch vollständig unterworfen wurde.
Gleichwohl haben sich die Völker Europas jenseits dieser Erfolge nach außen in ihrem Verhältnis nach innen nicht eben friedlich zueinander verhalten. Der gesamte Prozess der wechselseitigen Machtabgrenzung bei der Herrschaftsentstehung und, später dann, bei der Entstehung der Nationalstaaten war bekanntlich geprägt von immer wiederkehrenden kriegerischen Auseinandersetzungen. Namentlich im Kernland des europäischen Kontinentes, in und um das Gebiet, das über die Zeit als Deutschland bezeichnet wurde und wird, dominierten gewaltsame Auseinandersetzungen lange Zeit über friedliche Kooperation. Das gegenseitige Einfallen und Besetzen von Landstrichen förderte insbesondere in Anbetracht seiner Regelmäßigkeit nicht gerade die friedlichen Gefühle der europäischen Bürger füreinander. Zudem erwies es sich – namentlich aus den beschriebenen Gründen des politischen Akzeptanzmanagements – traditionell als intern verbindend, einen externen Gegner irgendwie auszumachen und zu verteufeln.
Ungeachtet der nach jüngerer Erkenntnis wohl verlässlich nie zu beantwortenden Frage, wer den wesentlichsten Beitrag zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges geliefert hat, ist dennoch eines zu konstatieren: Jedenfalls während der 1920er-Jahre gab es im Kernland Europas, namentlich zwischen Deutschland und Frankreich, erste ernst zu nehmende Bestrebungen, Europa friedlich zu einen. Dass diese Kräfte, die eine friedliche Kooperation insbesondere zwischen Deutschland und Frankreich anstrebten, durch den Zweiten Weltkrieg faktisch gestoppt wurden, steht der Erkenntnis nicht entgegen, dass es sie mit ihren Bemühungen gab.
Auch wenn Ausbruch und Verlauf des Zweiten Weltkrieges diese Versuche einer dauerhaften Befriedung zunächst konterkarierten, so bewirkten die Zerstörungsexzesse in Europa zwischen 1939 und 1945 jedoch definitiv ein weiteres Anwachsen des Bedürfnisses, lieber miteinander zu kooperieren, als einander turnusmäßig zu bekriegen. Ein Weiteres kommt hinzu: Die Neuordnung der Machtverhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere die Aufteilung der Welt in Westmächte und Ostmächte, gab dem gesamten westlichen Teil Europas zusätzlich eine deutliche Motivation, zusammenzustehen, um im empfundenen Systemwettstreit gegen den kommunistischen Ostblock besser bestehen zu können.
Die Kurzformel, nach der späterhin das Nordatlantische Verteidigungsbündnis gegründet wurde, lautete: Sowjets raus aus Europa, Amerikaner rein nach Europa und Deutschland militärisch kontrollieren! Korrespondierend mit dieser militärstrategischen Überlegung wurde zunächst der Westen Deutschlands in das werdende Konstrukt einbezogen, das wir heute EU nennen. Der Vorteil für alle beteiligten Länder dieses Konstruktes war naheliegend. Deutschland hatte nach seinen unrühmlichen Auftritten anlässlich des Ersten und Zweiten Weltkrieges allen Anlass, sich wieder gedeihlich und fruchtbar in die Familie der übrigen europäischen Staaten zu integrieren. Die anderen Länder Europas erhielten auf diese Weise eine Handhabe, ein erneutes übermäßiges Wachstum der deutschen Kräfte in wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht, wenn nicht zu verhindern, so doch zumindest zu kontrollieren. Dieser Prozess setzte bereits im Jahre 1945, noch vor Kriegsende ein. Hans Magnus Enzensberger schreibt:
»Bereits 1945 – der Krieg war noch nicht zu Ende – stellte [Jean] Monnet sich ›ein System vor, in dem die Kohle- und Stahlvorräte der Ruhr unter eine europäische Behörde gestellt und zum Nutzen der partizipierenden Nationen, das entmilitarisierte Deutschland inbegriffen, verwaltet werden sollen‹. Die Voraussetzung dafür sei, ›dass Europa geeint ist, und zwar nicht nur in einer Kooperation, sondern durch eine von den europäischen Nationen gebilligte Übertragung von Souveränität auf eine Art zentraler Union‹. … Ein Jahr später gründete de Gaulle das Comissariat générale du Plan und betraute mit seiner Leitung Monnet. Am 9. Mai 1950 trat der französische Außenminister Robert Schuman am Quai d’Orsay mit einem sensationellen Plan für die Presse, der seinen Namen zu Unrecht trägt, denn er stammt von Jean Monnet. … [Er] schlug vor, eine europäische Hohe Behörde zu gründen, die dazu bestimmt war, die Kohle- und Eisenmärkte zu verwalten. Zum ersten Präsidenten dieser Montanunion wurde Monnet gewählt. Wie Churchill und de Gaulle zog er es vor, das deutsche Industriepotenzial einzubinden nach dem Motto: Wenn Du sie nicht schlagen kannst, verbünde Dich mit ihnen. Die Position an der Spitze der Montanunion akzeptierte er, weil ihm nichts anderes übrig blieb; denn diese erste Keimzelle der Europäischen Union war seine eigene Kreatur. … Die europäische Integration, die ihm vorschwebte, trug technokratische, interventionistische Züge. Auf die höfliche Fiktion der Volkssouveränität legte er keinen Wert. … Er war freilich viel zu klug, um dieses Ziel in den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts offen auf die Tagesordnung zu setzen. Erst viel später wurde nach und nach klar, worauf sein Plan hinauslief. …. Die Umtopfung der Montanunion in immer größere Gefäße vollzog sich in mehreren Schritten. Der Weg war, wie üblich, mit Abkürzungen gepflastert, die nur wenige Europäer entziffern konnten; er führte von der EWG, der EAEC und der EWPA über den EWR und die EWU zur heutigen EU.«37
In den frühen Jahren der Bundesrepublik Deutschland hatte dort ein Mann Ämter und Einfluss, der mit der Österreichischen Schule der Nationalökonomie eng vertraut war: Ludwig Erhard. Nach wohl im Ergebnis wirtschaftlich-geschichtlich zutreffender Auffassung trug seine nicht interventionistische Wirtschaftspolitik wesentlich dazu bei, dass Deutschland sein sogenanntes »Wirtschaftswunder« erlebte. Aus der Sicht der Österreichischen Nationalökonomie handelt es sich bei den damaligen Entwicklungen allerdings um alles andere als ein Wunder. Denn Menschen, denen die Freiheit gelassen wird, sich in allseits fruchtbringenden freien Verträgen miteinander zu verbinden und zu kooperieren, müssen hierbei ganz zwangsläufig erfolgreicher sein als Menschen, denen genaueste Vorgaben gemacht werden, mit wem sie interagieren dürfen und mit wem nicht, welche Inhalte diese gemeinsame Tätigkeit hat und in welchem Maße sie die Früchte ihrer Arbeit selbst wieder investieren können oder dies fremden Dritten ohne eigene Sachkenntnis überlassen müssen. Da Deutschland am 8. Mai 1945 praktisch überall zerbombt in Trümmern lag, bestand in Ermangelung entsprechender Anschauung auch keine Vorstellung, man könne durch Umverteilung verbliebenen Reichtums mehr allgemeinen Wohlstand schaffen. Vielmehr stand vor den Augen aller Deutschen klar die Erkenntnis, dass eine Rückkehr in angemessene zivilisatorische Verhältnisse nur durch allseits je eigene Arbeit zu erreichen war. Legendär ist die grandiose Fehleinschätzung der späteren Herausgeberin der Wochenzeitung Die Zeit, Marion Gräfin Dönhoff, die erklärte, Ludwig Erhard werde mit seiner nicht interventionistischen Wirtschaftspolitik Deutschland in einem Maße zerstören, wie es zuvor nicht einmal Adolf Hitler gelungen sei.
Das Wirtschaftswunder nahm seinen Lauf und die kriegsunterlegenen Deutschen sahen sich schon zehn Jahre nach Kriegsende in der Situation, Franzosen und Engländer wirtschaftlich wieder zu überholen. Der durchschnittliche Industriearbeiter in Westdeutschland verdiente 1955 schon das Doppelte eines britischen Industriearbeiters. Die in Frankreich und England herrschenden Sozialisten waren trotz intensivster planerischer Anstrengungen nicht in der Lage, mit der liberal regierten Wirtschaft Westdeutschlands Schritt zu halten. Das Bedürfnis, als Siegermächte Einfluss auf die Entwicklung in Westdeutschland zu nehmen, bekräftigte insofern wiederum die Impulse, eine europäische Integration voranzutreiben.
Im Zusammenspiel mit der genannten Systemkonkurrenz zu den östlichen Nachbarn, der seit 1945 flankierend vorhandenen Befriedungspotenziale der Atombombe und gleichzeitig den Krisen von Ungarn 1956, Ostberlin 1957, Kuba 1961 und dem »Prager Frühling« von 1968 hatten alle Westeuropäer deutlichen Anlass, zusammenzustehen und gemeinsam stark zu sein, um ihre eigenen Lebensverhältnisse zu sichern und zu verbessern.
Mit dem Zusammenbruch der DDR, der auch allen politisch Desinteressierten spätestens ab November 1989 nicht mehr unentdeckt bleiben konnte, stellte sich 40 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik mehr oder minder plötzlich die Frage, auf welche Weise ein nun wiedervereinigtes Deutschland im internationalen Konzert organisiert sein sollte. Die Teilung Deutschlands nach 1949 und die schicksalhafte...