Die Kraft der Synthese: das Phänomen Weizsäcker
Zehn Jahre war er Bundespräsident, und man kann sagen, dass er Epoche gemacht hat. Rechnet man die Zeit als Abgeordneter und Regierender Bürgermeister von Berlin dazu und den höchst lebendigen Elder Statesman, zu dem er danach geworden ist, so gehört Richard von Weizsäcker seit mehr als einem halben Menschenalter zum öffentlichen Leben der Bundesrepublik – seine Reden und Interviews, seine Urteile und Einsprüche, seine Präsenz als Autorität und nationales Gewissen. Ziehen diese Jahrzehnte zwischen dem Ende der Ära Adenauer und Angela Merkels Kanzlerschaft am inneren Auge vorbei, so taucht unweigerlich sein Umriss auf: die markante Physiognomie, der einnehmende Blick, ein Hauch Selbstironie, die Silberlocke, dazu die Wirkung seiner Rede – kein hoher Ton, stattdessen konzentrierte Eindringlichkeit –, die Souveränität seines Auftretens, formbewusst, doch nie steif. Wenn es in einem so irdischen Gebilde wie Staat und Gesellschaft so etwas wie eine höhere Sphäre gibt, ein Reservoir an Orientierung und Konsensus, ist er einer ihrer Fixsterne, jedenfalls ein helles, ziemlich unverrückbares Gestirn – er gehört zu der Handvoll von Politikern und repräsentativen Figuren, ohne die man sich dieses Land nicht vorstellen kann, ohne die es anders aussähe. Das Deutschland, das wir geworden sind: es trägt auch die Züge des Richard von Weizsäcker.
Das ist ein ziemlich bemerkenswerter Vorgang, zumal für einen Bundespräsidenten, der zwar seinem Verfassungsrang gemäß ganz oben steht, aber in der praktischen Politik nicht viel zu bestellen hat. Das Amt sei eine Gewalt, die «mehr durch ihr Dasein als durch ihr Tun wirkt», schrieb Carlo Schmid, einer der Väter des Grundgesetzes, als es geschaffen wurde. Die Chancen des Präsidenten, sich mit wegweisenden Leistungen in das Geschichtsbuch einzutragen, sind begrenzt. Die Wiedervereinigung zum Beispiel, das gewichtigste Ereignis in Weizsäckers langer Amtszeit, bleibt mit Helmut Kohl verbunden, der Bundespräsident konnte sie zwar fördern und beeinflussen, dann aber nur ihren Vollzug verkünden. Doch dieser Bundespräsident hat seine vermeintliche Machtlosigkeit wenn schon nicht in Macht, so doch in einen Einfluss auf das politische und intellektuelle Klima verwandelt, der realer Macht schon fast gleichkommt. Er ist zu einer moralisch-politischen Größe im Gewaltengefüge dieser Republik geworden – und ist es bis heute geblieben.
Es gehört zu dieser Erfolgsgeschichte, dass der Versuch, das Phänomen Weizsäcker zu ergründen, leicht zum Aufmarsch von Lobesformeln gerät. In Weizsäckers Präsidentschaft – so heißt es da – seien Amt und Person in idealer Weise verschmolzen. In ihr sei der immer wieder beklagte Gegensatz von Macht und Moral, Intellektualität und Politik endlich aufgehoben. Betont wird seine Fähigkeit zum Ausgleich und zur Vermittlung, aber auch seine Kraft, Klärung und Orientierung zu schaffen, Maß und Mitte zu verkörpern und für so rare Tugenden wie Glaubwürdigkeit und Autorität einzustehen. Auch als Charakter eindrucksvoll: ausgewogen und verbindlich, gleichermaßen mit Ernst und Witz ausgestattet, und gebildet, keine Frage, sei er ohnedies. Entspricht Weizsäcker nicht dem, was die Franzosen den «guten König» nennen? Verkörpert er nicht den guten Deutschen schlechthin, das Gegenbild zu allem teutonischen Auftrumpfen? Schließlich konnten sich auf Weizsäcker immer so ziemlich alle einigen. Das hat ihm in Umfragen gewaltige Zustimmung beschert – und der Kritik an seiner Person, die es natürlich auch gab, ein schlechtes Echo.
Erschwerend kommt hinzu, dass diese Urteile im Großen und Ganzen ja zutreffen. Richard von Weizsäcker ist in der Tat ein vorzüglicher Präsident gewesen. Er hat die öffentliche Rede – das einzige Instrument, über das der Bundespräsident uneingeschränkt verfügt – in unvergesslicher Weise genutzt und mit ihr Marksteine gesetzt. Er hat Themen zur Sprache gebracht, die sonst auf dem Forum der Öffentlichkeit kaum stattgefunden hätten. Wo die Regierung wichtige Entscheidungen scheute oder sie ganz schuldig blieb, war er oft das nötige Gegengewicht. Überhaupt hat er sich in vielen Auseinandersetzungen als eminent politischer Präsident erwiesen, der den Nerv der Probleme traf. Und war er nicht bei zahllosen Staatsbesuchen der Botschafter eines besseren, nachdenklichen und weltoffenen Deutschland? «Wenn man einen idealen Bundespräsidenten synthetisch herstellen könnte», so hat die ihm freundschaftlich verbundene Marion Gräfin Dönhoff enthusiastisch geschrieben, «dann würde dabei kein anderer als Richard von Weizsäcker herauskommen.»
Das ist, sieht man genau hin, ein Lob mit Widerhaken. Tatsächlich hat die Sehnsucht der Deutschen nach einem Ersatzmonarchen – im Fall der Gebildeten erhöht zum «Philosophen auf dem Thron» – an Weizsäcker ein fast zu schönes Objekt. Manchmal hat man den Eindruck, an ihm wiederhole sich, was bereits Theodor Heuss, dem ersten Präsidenten der Bundesrepublik, widerfuhr: so wie dieser zum «Papa Heuss», zur Galionsfigur des Neo-Biedermeier der fünfziger Jahre, verniedlicht wurde, avancierte Weizsäcker zu einer Art Ideal-Staatsmann – und wie Heuss ist er nicht ganz immun gegen die Verführung gewesen, an seiner Verklärung mitzuwirken. Seine präsidiale Begabung war von Anfang an nicht zu übersehen, das aristokratische Element steuerte die Herkunft bei, und den Rest besorgte das Bedürfnis der Bürger nach einer unbestrittenen Autorität, gerade in den Zeiten der Politikverdrossenheit. Dazu kam Weizsäckers erheblicher Wirkungswillen, ein beträchtliches Selbstbewusstsein und ein gehöriges Quantum Eitelkeit. Die leichte Distanz, die ihm anhaftet, kam dieser Rolle ebenso zugute wie der elitäre Hauch, der ihn umweht.
Sofern sich überhaupt Unbehagen an Weizsäcker regte, hat es sich an diesem Punkt entzündet. Kaum ins Amt gelangt, wurde er in den konservativen Quartieren der Republik zur Rede gestellt – wegen des Verdachts übermäßiger Toleranz mit nachfolgendem Relativismus. Verdankt sich sein Erfolg – so fragte streng der scharfsinnige Publizist Ludolf Herrmann nach der berühmten Rede vom 8. Mai 1985 – nicht der «Mehrheit der Unpolitischen»? Und komme er damit nicht der verhängnisvollen Neigung der Deutschen entgegen, sich von der Politik entlasten zu wollen? Kaum sehr viel anders die Bedenken auf der linken Seite des politischen Spektrums: Treten in der Bewunderung für Weizsäcker nicht nachgerade vordemokratische Züge zutage – also ein altes, fragwürdiges deutsches Erbe? Wird dieser Präsident nicht immer mehr zum Denkmal der fatalen Sehnsucht nach Überparteilichkeit?
Es muss ja auch auffallen, dass Weizsäckers Bereitschaft, sich für umstrittene Themen zu verkämpfen, ihre Grenzen hat. Viele seiner Bewunderer hätten Weizsäcker gerne öfter und offensiver auf den politischen Barrikaden gesehen – etwa im Streit um das Asylrecht oder im Kampf gegen die Ausländerfeindlichkeit. Stattdessen machten seine Gesprächspartner die Erfahrung, dass er zwar ihre Meinung gelten ließ, aber ebenso der Gegenmeinung ihre Berechtigung einräumte. War er denn überhaupt so liberal, wie es sein Image versprach? Oder doch in erster Linie ein Konservativer? Noch verdächtiger: ein linker Tory? Ein gewisses Bedauern steckt selbst in dem pointierten, im Übrigen zutreffenden Urteil, dass sogar Weizsäckers Attacken – so der Journalist Gunter Hofmann – den Eindruck erweckten, «als seien sie wattiert. Er packt Politik ein. Weizsäcker ist Christo».
Aber existiert nicht auch – so hat man dagegen gefragt – ein Bedürfnis nach Übereinstimmung, das weder vordemokratisch noch Ausdruck einer unpolitischen Haltung ist, sondern eine notwendige Bedingung der vernünftigen politischen Auseinandersetzung in einer Demokratie? Hat Weizsäcker mit seiner Amtsführung nicht gerade den Beweis dafür erbracht, dass es einen Umgang mit Politik gibt, der dieses Bedürfnis zu seinem Recht kommen lässt? Dieser Präsident hat die Probleme gerade nicht verkleinert oder Brüche geglättet. Er hat im Gegenteil die Spannungen beim Namen genannt. Aber er hat dabei auch immer deutlich gemacht und – was vielleicht noch mehr ist – spüren lassen, dass es Regeln, Prinzipien und Loyalitäten gibt, ja, geben muss, die Konflikte und Konfrontationen steuern und beherrschbar machen, sie gleichsam zivilisieren. Die befreiende Wirkung seiner Reden, der Effekt, hier spreche endlich einmal einer aus, wie die Dinge wirklich liegen, verdankt sich gerade dem Umstand, dass er den Problemen nichts schuldig blieb. Er verkleisterte Widersprüche nicht, um einen Konsens herzustellen. Seine Argumentation zielt vielmehr auf Übereinstimmung in der Anerkennung von Gegensätzen und Spannungen.
Ist es das, was Richard von Weizsäcker meint, wenn er beansprucht, ein «Kind der Aufklärung» zu sein? Es ist wahr, dass seine Reden einen «sokratischen Charakter» haben, wie der Publizist Thomas Kielinger es nannte: sie stellen Fragen, um sich ihren Themen und Thesen zu nähern, und wenn sie eine «starke Dosis Ambivalenz» ins Spiel bringen, dann nicht aus «geistiger Frivolität», sondern als Zeugnis der «Gabe des Aushaltenkönnens intellektueller Gegensätze, die sich – statt sich aufzuheben – gegenseitig ergänzen». Durchweg zeichnet Weizsäcker die Anstrengung des Unterscheidens aus, des Abwägens der Unterschiede – beim entschlossenen Willen, die Dinge zusammenzuführen und die Probleme ins Licht zu rücken. Dahinter steht seine Überzeugung, dass ein vernünftiger Umgang mit den schwierigen Bedingungen unserer politischen, gesellschaftlichen und historischen Existenz...