I. Vorwort
Was war er denn schon, ein Zeitungsleser, liebt Richard von Weizsäcker zu sagen, kein Regierungschef, der in großen Konflikten zu entscheiden und die Weichen für sein Land zu stellen hatte. Gut, mit Ausnahme dieser kurzen Episode im Schöneberger Rathaus als Regierender Bürgermeister Berlins, bevor er zum Bundespräsidenten gewählt wurde. Aber sonst? Morgens bei der Lektüre der Blätter unterhielt er sich gerne mit seiner Frau über das, was ihm auffiel in der Welt. Oder er zog sich mit den Kommentaren zurück und ärgerte sich und fand es doch wunderbar.
Richard von Weizsäcker und seine Welt: In täglichen Leitartikeln der Herald Tribune könne er mehr an konzeptionellen Gedanken finden «als in den Äußerungen unserer parteipolitischen Machtzentren», hat er einmal erfrischend offen gestanden, drei Jahre nachdem er aus dem Präsidentenamt ausgeschieden war, und brachte damit natürlich wieder mal die «Machtzentren» auf die Palme.[1] Für hochmütig hielten sie solche Kritik. Auf eine typische Vita als Berufspolitiker, so verstehe ich jedenfalls Richard von Weizsäcker, blicke er nicht zurück. Ist seine Erfahrungswelt Stoff für ein Buch?
Er war doch nicht Schmidt, sagt er! Respekt vor ihm hatte Weizsäcker bereits auch in jüngeren Jahren, aber gehütet hätte er sich, ihn derart schnörkellos als den idealtypischen deutschen Kanzler zu beschreiben wie heute, «der einfach gut zu regieren verstand». Und übrigens umgekehrt: Zugehört hat der Minister Helmut Schmidt bereits dieser frischen Stimme, dem Kirchentagspräsidenten, der 1969 hereinschneite ins Parlament, aber verborgen hat er das hinter süffisanten Kommentaren über das fromme Gerede des Freiherrn. Unvorstellbar jedenfalls, dass er ihn einmal offen als den deutschen Präsidenten par excellence betrachten würde, was bei Schmidt etwas heißen will. Jetzt aber macht er es – vorbehaltlos.
Kein Mann der Exekutive? Was uns junge Journalisten als Bonn-Neulinge, die zeitgleich mit ihm anfingen, an Weizsäckers erstem Erscheinen auf der politischen Bühne Ende 1969 gefesselt hat, war exakt diese andere Seite: Wie nämlich die Politik auch von denen beeinflusst wird, die einfach Stimme haben und Autorität, ohne über Institutionen zu gebieten und Machthebel zu bedienen. Er gehörte zur Opposition, aber er lud ein dazu, genau hinzusehen. Willy Brandts Anfangspathos war unübertrefflich. Umso bemerkenswerter, wenn jemand sich darauf gesprächsbereit einließ, obwohl er zum tief enttäuschten Lager der Christdemokraten gehörte, die sich doch seit 1949 als natürliche Staatspartei mit festem Abonnement auf das Kanzleramt in Bonn betrachteten. Unwillkürlich fing man an, denen besonderes Gewicht beizumessen, die wegen ihres autonomen Urteils jenseits von Parteischablonen herausragten. Viele waren das nicht. Richard von Weizsäcker zählte in der Regel zu ihnen.
Programmatisch für sein Denken bleibt der Titel einer Essay- und Redensammlung: Die deutsche Geschichte geht weiter. Es gebe kein objektiv «richtiges» Geschichtsbild, hat er gelegentlich bemerkt, und er wolle das auch nicht für sich beanspruchen. Übrigens: Auch seine Rede zum 8. Mai 1985, die Rede mit ihrer unvergleichlichen Wirkung weit über die Grenzen hinaus, wollte er so nicht verstanden wissen.[2] Aber: Geschichte sei nicht ein Schwerpunkt neben anderen. Vielmehr könne man gar nicht Prioritäten setzen ohne Bezug auf sie, ohne Lehren aus historischen Erfahrungen. «Im übrigen», fügte er hinzu, «bin ich nicht mein eigener Biograph.» Nur so viel: Gestört habe ihn, «dass manche Leute sich einer lustvollen Aufteilung der Politik in Moral einerseits und Interessen andererseits verschreiben, wobei ich dann für die Moral zuständig sein sollte.»[3]
Auf eigentümliche Weise verband sich der Name Weizsäcker aber stets mit diesem Verhältnis von Macht und Moral. Gewehrt hat er sich zwar dagegen, aber ihm ist natürlich auch klar, dass dies exakt die Gratwanderung ist, deretwegen er und seine Familie derart skrupulös unter dem Mikroskop beäugt worden sind. Ein Faszinosum für viele Beobachter der politisch-intellektuellen Landschaft steckte immer darin, wie sie das gemacht haben oder gerade machen, aber das verführte auch Zaungäste dazu, sich an «den Weizsäckers» schadlos zu halten, wenn ihr Verhalten der Projektion nicht entsprach. Einerseits wurden die Weizsäckers wahrgenommen als eine potentielle «deutsche Idee», andererseits aber auch als eine störanfällige «deutsche Verstrickung» von ihren Beobachtern, von denen es eine Menge gab.
Nur zu verständlich, dass ihm die Mutmaßung nie behagte, wie um wenige andere deutsche «Familien» ranke sich um sie ein Mythos, und auf diesem Wege lerne man, dem Land in die Seele zu schauen. Man könne nicht Lebensläufe über einen Leisten schlagen und zu einem Pauschalbild über «die Weizsäckers» zusammensetzen, findet er heute noch im Gespräch. Soweit ist das sicher auch nachvollziehbar. Dennoch: Richard und sein acht Jahre älterer Bruder Carl Friedrich von Weizsäcker haben natürlich auch eingeladen dazu, an ihren Lernprozessen als «öffentliche Personen» teilzunehmen. Sie konnten sich dem gar nicht entziehen, aber ich denke, das wollten sie auch nicht. Man könnte sagen, sie wollten an der Selbstverständigung einer bestimmten Bürgerlichkeit partizipieren, sie wollten mitmischen. Mitmischen im intellektuellen Sinne.
Bei allen individuellen Unterschieden, insgesamt hatte man dabei doch eine «Familie» vor Augen, auch wenn das unfair erscheinen mag. Mehr noch: Familiengeschichte und deutsche Geschichte flossen bei den Weizsäckers ersichtlich zusammen. In seiner Rede vom 8. Mai 1985, vierzig Jahre nach Kriegsende, verknüpfte sich das, darin steckte das Geheimnis ihrer Wirkung. Wenn er davon sprach, ob es für die Deutschen ein Tag der Befreiung war, las man automatisch mit, ob es auch für ihn ein Tag der Befreiung war; wenn er sagte, jeder wusste von den Judendeportationen, las man mit, auch er wusste; wenn er mahnte, nur ehrliches Erinnern helfe, mit der Gegenwart zurecht zu kommen, fragte man, wie weit das auch für ihn persönlich gelte. Nicht nur die Geschichte der Weizsäckers, vor allem die Geschichte der Mehrheitsdeutschen wurde von ihm thematisiert, in seiner Familie hatte sie sich dramatisch verdichtet.
Für sich jedenfalls – und das hatte gewiss auch mit der Familiengeschichte zu tun – wollten die beiden Brüder die Trennung zwischen Bürgertum und Demokratie, zwischen Privatheit und Politik nicht gelten lassen. Wenn das Bürgertum in Weimar versagt hatte, wenn der Rückzug ins Gehäuse der Innerlichkeit derart fatale Folgen zeitigte, dann exerzierten sie anderes vor. Gewiss würde Richard von Weizsäcker das Urteil Joachim Fests nicht unterschreiben, das deutsche Bürgertum habe seine große Leistung «im Privaten erbracht», und diese Welt sei mindestens so wichtig wie die politische. Denn die bürgerlichen Parteien tragen, wie er meinte, «eine große Verantwortung dafür, dass in der Weimarer Republik die Demokratie nicht funktionierte».[4]
«Wie kaum eine andere deutsche Familie hatten die von Weizsäckers nach 1945 über ihre Position im Dritten Reich reflektiert», bilanzierte der Historiker aus Fribourg Thomas Lau in einem Familienportrait. «Wie kaum eine andere hatten sie», fuhr er fort, «höchst erfolgreich und mit großer öffentlicher Resonanz, um die Deutungshoheit für ihre eigene Geschichte gerungen und damit zugleich die Debatte um die Rolle der deutschen Eliten im Nationalsozialismus wesentlich beeinflusst.»[5] Für beide gilt, dass sie sich bei aller Neigung zur Vorsicht in den Schlüsselfragen der Republik doch auch jeweils deutlich positionierten. Gerade der Bundespräsident a. D. hat wie wenige andere in der politischen Arena – und ungebrochen bis heute – den intellektuell-politischen Diskurs verfolgt. Als Lernender wollte er der Republik angehören, aber sie sollte, wenn es darauf ankommt, auch den Weizsäckers zuhören. Von dieser Wechselwirkung handelt das Buch.
Bis heute hat Weizsäcker sich eine ungebrochene Zuversicht in die Machbarkeit, die Gestaltbarkeit öffentlicher Angelegenheiten und internationaler Prozesse bewahrt. Geschichte ist menschengemacht. An zwei seiner Weggefährten erinnert mich das, an Helmut Schmidt und Marion Dönhoff, aber auch an Fritz Stern. Ja, Geschichte ist kein Fatum. Es gibt Alternativen, und es waltet kein Hegelscher Weltgeist. Dieses Grundmotiv verband die beiden ZEIT-Herausgeber in Konferenzen, die – Philemon und Baucis – die Lage der Nation erörterten. Oft hatte man unwillkürlich das Gefühl, es fehle in dem Bunde der Dritte – Richard von Weizsäcker. Marion Dönhoff hätte vermutlich hinzugefügt, man möge Egon Bahr nicht vergessen. Schmidt und Weizsäcker wiederum, stelle ich mir vor, hätten darauf hin freundlich genickt.
Eine Europäisierung Europas sei möglich, die Welt brauche eine kräftigere UN, das sei keine Schimäre – man...